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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 19.03.2024

Ja - aber

Der rechte Pfad
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Begabung? Zweifellos! Potenzial? Durchaus! Stringent? Leider nicht! Kaum jemals hab ich so bedauert, nur ein eher durchwachsenes Lob aussprechen zu können.

Das Sujet packt den Leser sofort, wenn er nur ...

Begabung? Zweifellos! Potenzial? Durchaus! Stringent? Leider nicht! Kaum jemals hab ich so bedauert, nur ein eher durchwachsenes Lob aussprechen zu können.

Das Sujet packt den Leser sofort, wenn er nur ein Organ für die aus der Zeit gefallene Religiosität dieser weltabgewandten Brüdergemeinde von Welsum aufbringen kann.

Die Wahl des Protagonisten Benni ist überaus klug, da er der Gemeinschaft nur lose verbunden ist, lebt er in seiner Kindheit und Jugend doch zumeist bei seiner eher weltlich eingestellten Mutter in der Großstadt und verbringt nur seine Ferien bei dem ihm fremd bleibenden Vater, der seinerseits nicht in der Lage ist, ein enges Verhältnis zu seinem Sohn aufzubauen.

Es zeigt sich alsbald, dass innerhalb der Gemeinde ein Bruch verläuft. Während die Angehörigen der älteren Generation ungebrochen sich ihrem Dogma verpflichtet fühlen, lassen sich bei den Jüngeren deutliche Spuren von Erosion verzeichnen. Am offenkundigsten treten diese bei Gideon mit seinen homoerotischen Neigungen und der lebenshungrigen Hanna zutage, während ihre Zwillingsschwester Lea oberflächlich betrachtet dem weiblichen Rollenbild zu entsprechen scheint. Auffällig jedoch, dass sie von ihren fünf Kindern überfordert scheint und auch den Ehemann kaum zu halten vermag. Auch an der Figur der Maria, wiederum der Elterngeneration zugehörig, werden Vereinsamung und Zerbrechen augenfällig demonstriert.

Weitaus wirkungsvoller allerdings wäre dieser Roman ausgefallen, hätte die Autorin sich einer disziplinierten Erzählökonomie befleißigt. Allzu ausufernd die Entfaltung der Handlungselemente, in immer neuen Variationen das vom Leser längst Begriffene wiederholend, so dass die Betroffenheit bald dem Gefühl von Überdruss und Verdrossenheit weicht. Umso bedauerlicher, da die Intensität der sprachlichen Gestaltung, das ambitionierte Überblenden der Zeitebenen die schönsten Anlagen erkennen lassen. Bleibt zu hoffen, dass ein engagierter Lektor diese vielversprechende Autorin zu einem stringenteren Einsatz ihrer sprachlichen Mittel zu leiten vermag!

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Veröffentlicht am 23.12.2023

Vom Hölzchen aufs Stöckchen

Die Verletzlichen
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Zunächst hatte der Leser ja durchaus Veranlassung, vom unorthodoxen Erzähleinstieg verblüfft bis entzückt zu sein: von den unangenehmen Begleiterscheinungen der Corona-Pandemie über recht beliebige Kindheits- ...

Zunächst hatte der Leser ja durchaus Veranlassung, vom unorthodoxen Erzähleinstieg verblüfft bis entzückt zu sein: von den unangenehmen Begleiterscheinungen der Corona-Pandemie über recht beliebige Kindheits- und Jugenderinnerungen bis hin zu dem emotionalen Gehalt der Bezeichnungen für Blumen, die diese zu geeigneten Mädchennamen machen.

Wenn aber dann doch endlich die tatsächliche Romanhandlung einsetzt, kommt es bei der Lektüre zunehmend zu Abwehrreaktionen. Ein Reigen von Frauengestalten bevölkert die Seiten, deren vorherrschende Merkmale darin bestehen, vorwiegend in Kreativberufen tätig, finanziell mehr als gut gestellt und als Charaktere weitgehend ununterscheidbar zu sein. Ausgestattet mit mehreren Wohnsitzen, kommt eine existentielle Bedrohung kaum zum Tragen. Wenn alles Denken und Trachten einer dieser Frauengestalten sich auf den in New York zurückgebliebenen Papagei richtet, dann ist das angesichts der Hunderttausenden von Toten während dieser Pandemie ein Beispiel für Privilegien, weniger für die im Romantitel angesprochene Vulnerabilität.

Im weiteren mäandert die Handlung zwischen allen Fährnissen dieser mittelalterlichen Frauen aus der Intellektuellenschicht herum: von später Mutterschaft bis zur Distanz zu den erwachsen werdenden Kindern. Zwischendurch schwenkt die Autorin unvermittelt um zu ihren Streifzügen durch literarische Gefilde: ein wildes name dropping, bei dem kaum je mehr als ein paar Zeilen einem Gedankenschnipsel gewidmet werden.

Fazit: eine mit Neugier und Elan begonnene Lektüre, die allzu bald in reine Verärgerung mündete.

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Veröffentlicht am 11.10.2022

Too Much

People Person
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Eine wilde Herzjagd durch Themen, Handlungselemente, Charaktere, Stilebenen erwartet den Leser.

Im Eingangsteil glaubt er noch, es mit einer Familiengeschichte der dysfunktionalen Provenienz zu tun zu ...

Eine wilde Herzjagd durch Themen, Handlungselemente, Charaktere, Stilebenen erwartet den Leser.

Im Eingangsteil glaubt er noch, es mit einer Familiengeschichte der dysfunktionalen Provenienz zu tun zu haben, mit einer Vaterfigur, die nicht einmal den Mindestanforderungen für diese Rolle genügt.

Dann allerdings schlägt die Handlung nach einem beträchtlichen Zeitsprung jäh um in eine toxische Beziehungsgeschichte der mittleren Tochter, die umgebogen wird zu einer parodistischen Krimistory, burlesk etwa im Stil von der „Ehre der Prizzis“ oder „Blues Brothers“.

Erneut wird ein Haken geschlagen, und es folgen endlose Ausführungen in Küchenpsychologie, in der alle fünf Geschwister mit Knacks den Weg der Läuterung beschreiten, gipfelnd in dem schlichten Happy Ending des Ich-bin-okay-du-bist-okay, abgerundet durch das Abtreten der nunmehr entbehrlichen Generationen.

Wes Geistes Kind die Autorin ist, erweist sich in der 6(!)seitigen Danksagung, die in bemühtem Witz einer ungezählten Anzahl von Unterstützern und Weggefährten ihre Reverenz erweist.

Weniger wäre mehr gewesen: die Entwicklung von Resilienz in allen fünf Geschwistern darzustellen, um den Mangel an Verantwortungsbewusstsein, Interesse und Fürsorge vonseiten ihres Erzeugers zu kompensieren, hätte einen höchst befriedigenden Familienroman ergeben können.

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Veröffentlicht am 01.10.2022

Zurück auf Anfang, aber ganz woanders

Simón
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Zurück auf Anfang, aber ganz woanders

Bei der Lektüre wird der Leser den Verdacht nicht los, dass der Autor vom Ehrgeiz beseelt ist, partout am Welterfolg von Zafons ‚Der Schatten des Windes‘ anknüpfen ...

Zurück auf Anfang, aber ganz woanders

Bei der Lektüre wird der Leser den Verdacht nicht los, dass der Autor vom Ehrgeiz beseelt ist, partout am Welterfolg von Zafons ‚Der Schatten des Windes‘ anknüpfen zu wollen.
Der Anfang des Romans weckt Erwartungen, determiniert durch die Verknüpfung der Stadt Barcelona mit der Welt der Literatur. So wird der halbwüchsige Rico für seinen jüngeren Cousin Simón zum Cicerone ins Land der Bücher. Doch bereits hier wird ein gewisses Misstrauen geweckt: allzu selbstverliebt geraten die sprachlichen Pirouetten, allzu bemüht das Streben, in der Symbiose der beiden Jungen und dem nächtlichen Streifzug durch die Stadt eine magische Stimmung zu erzeugen.
Das plötzliche Verschwinden des Älteren wird künstlich mit Bedeutung aufgeladen, erst im Laufe des Romans enthüllt sich die ganze Banalität seines Lebenswegs. Ebenso kleinschrittig entfaltet sich die Entwicklung des Jüngeren. Überfrachtet mit Details wird der dornige Weg der Qualifikation zum Spitzenkoch beschrieben, eine Vielzahl weiterer Figuren bevölkern diesen Handlungsabschnitt, ohne dass diese mit wirklich prägnanten Charakterzügen ausgestattet werden.
Eine Vielzahl von Missgeschicken, bedauerlichen Wendungen des Handlungsfortgangs befördern den Abstieg des Helden, der in penetranter Weise auch ständig so apostrophiert wird, und nachgereicht wird die Schilderung von Ricos jämmerlichem Dasein: kein Aufstieg, vielmehr ein beständiges Verharren in einem sich beständig drehenden Karussell des Elends. So treffen denn die beiden Hauptfiguren erneut am Ausgangspunkt ihrer Existenz zusammen. Die Literatur, in ihrer Jugend angeblich ein identitätsstiftendes Moment, ist zu einem bloßen name dropping herabgekommen: der weibliche Gegenpart des Duos nutzt sie allein als Sprachrohr ihrer woken Weltsicht. Die gemeinsam entwickelte Geschäftsidee verknüpft oberflächlich diese beiden Bereiche: der antiquarische Buchhandel, wie er im ersten Teil noch als typischer Bestandteil des Lebensgefühls von Barcelona behauptet wurde, mit der inzwischen untergegangenen Kneipenkultur der Elterngeneration. Gänzlich unorganisch die Einarbeitung der realen Ereignisse terroristischer Anschläge, die letztlich nur dazu dienen mögen, die Unmöglichkeit zu konstatieren, eine vergangene, magisch aufgeladene Szenerie aufrecht zu erhalten, so wie die menschlichen Schicksale gleichfalls der Tristesse anheimfallen.
Mein Urteil: 2 Sterne

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Veröffentlicht am 09.05.2022

Zwei Welten stoßen aufeinander

Die Paradiese von gestern
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Zwei Welten stoßen aufeinander

In Mario Schneiders übermäßig umfangreichen Roman ist alles auf eine fundamentale Konfrontation angelegt. Da ist einmal das junge Liebespaar aus Ostdeutschland, das zu seiner ...

Zwei Welten stoßen aufeinander

In Mario Schneiders übermäßig umfangreichen Roman ist alles auf eine fundamentale Konfrontation angelegt. Da ist einmal das junge Liebespaar aus Ostdeutschland, das zu seiner ersten großen Auslandsreise in den Westen aufbricht. Und da ist die altadelige Familie, die sich als nicht anpassungsfähig an die Erfordernisse einer neuen Zeit erweist. Eigentlich eine großartige Ausgangsidee, deren Ausführung allerdings zu wünschen übrig lässt. So sind Ella und René dafür, dass sie gerade erst den größten Umbruch der deutschen Nachkriegsgeschichte live miterlebt haben, politisch erstaunlich unbeleckt und ausschließlich mit der Seelenzerfleischung innerhalb ihrer anstrengenden und doch recht pubertären Beziehung beschäftigt. Auf der anderen Seite wird Melodram pur serviert, wenn die Gräfin von eigener Hand aus dem Leben scheiden will, da die Erfordernisse einer modernen Welt auf ihren überkommenen Wertekanon keine Rücksicht nehmen. Belastet wird diese aus der Zeit gefallene Figur mit allen nur denkbaren Problemen emotionaler wie auch wirtschaftlicher Art. Der Autor betreibt einen enormen verbalen Aufwand: es wird ungemein viel gesagt, ohne dass die Figuren aus dem Zustand von Pappkameraden hinauskämen. Insgesamt leider eine Enttäuschung!

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