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Veröffentlicht am 15.08.2017

Entschleunigung

Ein Gentleman in Moskau
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Graf Rostov hat Glück; statt zum Tode wird er im Jahr 1922 dazu verurteilt, sein weiteres Leben im Moskauer Edelhotel Metropol zu verbringen. Nicht in seiner großzügigen Suite, sondern in einem Dachkämmerchen. ...

Graf Rostov hat Glück; statt zum Tode wird er im Jahr 1922 dazu verurteilt, sein weiteres Leben im Moskauer Edelhotel Metropol zu verbringen. Nicht in seiner großzügigen Suite, sondern in einem Dachkämmerchen. Was tut er so Tag für Tag? Er schließt Bekanntschaft mit der neunjährigen Nina. Mit ihr erkundet er die Ecken und Kammern des Hotels, zu denen Gäste keinen Zutritt haben. Beobachtungen der neuen Herrschenden spiegeln Zeitgeschichte. Hintergrundinformationen werden lakonisch eingestreut.
Alexander Rostov hat verborgene Reserven.Diese ermöglichen es ihm, weiterhin ausgezeichnet zu speisen und Lieferungen von außerhalb zu empfangen.Gelegentlich trifft er alte Freunde und erhält Informationen, wie die neuen Machthaber ihre Vorstellungen umsetzen. Menschen werden wegen Lappalien verurteilt, Kulturgüter vernichtet, Etiketten von Weinflaschen gelöst, um fehlendes Wissen zu kaschieren, Posten mit unfähigen Emporkömmlingen besetzt. Aufgezeigt wird ein Kaleidoskop der 20-er Jahre und der folgenden Jahrzehnte in historischem Kontext.
Für den Grafen ergeben sich unerwartete Betätigungen und eine ebenso unerwartete Beziehung. Im Mikrokosmos des Hotels findet er neue Freunde und übernimmt Verantwortung für Sofia, ein kleines Mädchen.Dafür vorgesehen waren zwei Monate; es werden Jahre daraus.
Immer wieder erfährt die Handlung interessante Sprünge, die dem Leser Raum für eigene Schlussfolgerungen lassen. Mit bissigem Sarkasmus beschreibt Amor Towles die Entwicklungen in der Sowjetunion, schweift ab in glanzvolle Zeiten vor der Oktoberrevolution, gibt Benimmunterricht in unaufdringlicher Form.

Auf jeden Fall sollte man sich beim Lesen dieses wunderbaren Buches viel Zeit lassen, um all die geschickt eingestreuten Details zu erkennen und zu würdigen.

Veröffentlicht am 02.07.2017

Raum

Raum
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Wahrhaft erschütternd, faszinierend, packend - dieses Buch legt man nicht beiseite! Wie kann ein Mensch einem anderen so etwas nur antun - auf knapp 16² m jahrelang eingesperrt sein, ohne Hoffnung, total ...

Wahrhaft erschütternd, faszinierend, packend - dieses Buch legt man nicht beiseite! Wie kann ein Mensch einem anderen so etwas nur antun - auf knapp 16² m jahrelang eingesperrt sein, ohne Hoffnung, total abhängig von der Gnade eines Monsters, zusammen mit einem Kind.... Ma ist unglaublich stark, sie lebt ihr Leben für ihren Sohn, lehrt ihn, schützt ihn, gibt nicht auf. Bewundernswert. Die Hauptperson, Jack, berichtet von seinem fünften Geburtstag an über sein Leben. Er kennt nichts Anderes als "Raum" und seine Ma. Für ihn ist das also normal, Sport macht er auch, es wird viel gebastelt, das Geschehen im Fernsehen ist für ihn eine erfundene Welt, Sonntagsguttis sind ein Höhepunkt. Er muss in einem Schrank schlafen, hungern, frieren, unsichtbar für Old Nick bleiben. Gerade, dass alles so normal für Jack ist, macht fassungslos. Was entgeht dem Jungen, wie tapfer ist seine Mutter, die zudem ständig unter Zahnschmerzen und einem gebrochenen Handgelenk leidet. Aber als der Junge jetzt \ geworden ist, ändert sich einiges, die Situation spitzt sich zu. Ich habe es nicht für möglich gehalten, aber Jack gelingt die Flucht und seine Mutter wird nach sieben Jahren befreit. Happy End? Bei weitem nicht. Für Jack ein ganz großer Schock. Trotz "Entlügens" seiner bisherigen Welt durch die Mutter als Vorbereitung auf die Flucht ist alles fremd, laut, ungewohnt, anders. Auch seine Ma, die zusammenbricht und einen Selbstmordversuch unternimmt. Aber Jack ist mutig, wissbegierig, er wird betreut und von Verwandten umsorgt, auch wenn diese teilweise gedankenlos und unüberlegt handeln oder überfordert sind. Verständlich, wenn er vertraute Dinge wie den stinkigen Teppich aus "Raum" vermisst. Unglaublich, was dieser kleine Kerl durchmacht. Zu seinem Glück stößt er aber auch auf viel Verständnis, seine Ma erholt sich, sie nehmen das Leben in Angriff. Man kann hoffen, dass sie ihren Frieden finden. Emma Donoghue hat ein großartiges Buch geschrieben. Wie sie Jack erzählen lässt, einfach nur erzählen ohne Wertung, ist absolut packend. Jack registriert ohne Kritik, ohne Verurteilung, ganz sachlich. Er erfindet Worte wie Mungst, zusammengesetzt aus Mut und Angst. Dinge sind seine Freunde. Man steigt ein in seine Welt und ist erschüttert. Ich habe selten ein so tolles Buch gelesen. Absolut empfehlenswert.

Veröffentlicht am 09.05.2017

Lost and found

Mr. Peardews Sammlung der verlorenen Dinge
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Mr. Peardew, ein älterer Herr, sammelt, was andere verloren haben. Sein großes Haus ist voll mit merkwürdigen Dingen, sorgsam katalogisiert und behütet.
Laura, Mitte dreißig, ohne Ausbildung, ergreift ...

Mr. Peardew, ein älterer Herr, sammelt, was andere verloren haben. Sein großes Haus ist voll mit merkwürdigen Dingen, sorgsam katalogisiert und behütet.
Laura, Mitte dreißig, ohne Ausbildung, ergreift nach einer voreilig geschlossenen und enttäuschenden Ehe die Chance, in diesem wundervollen Haus eine erfüllende Arbeit zu finden. Als Mr. Peardew stirbt, erbt sie nicht nur Haus und Gärtner, sondern auch die Aufgabe, all die gesammelten Fundstücke ihren Besitzern zurückzugeben.
Sunshine, eine junge Frau mit Downsyndrom und feinem Gefühl für Stimmungen, erwählt sie zu ihrer Freundin und wird fester Gast im Anwesen.
Das Schicksal einzelner Stücke wird fantasie- und liebevoll erzählt. Parallel dazu erfährt man die Geschichte von Eunice und Ihrem Chef, dem Verleger Bomber. Zunächst ohne direkten Bezug zu Laura.
Geheimnisvolle Dinge geschehen im Haus; es scheint, als ob die früh verstorbene Liebe von Mr. Peardew unzufrieden mit den Ereignissen nach dessen Tod ist.
Es ist erstaunlich, welche Geheimnisse sich hinter solch simplen Sachen wie einem Knopf, einem Puzzlestück, einer Keksdose oder einem Haargummi verbergen.
Sehr schön zu lesen, auch die Romantik kommt nicht zu kurz. Sehr empfehlenswert.

Veröffentlicht am 03.05.2017

Lesenswert

Die Canterbury Schwestern
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Che, anerkannte Weintesterin, bekommt mit den Worten:"Für eine Heilung ist es nie zu spät.", einen besonderen Auftrag von ihrer extravaganten Mutter Diana de Milan. Deren Asche soll zum Pilgerziel Canterbury ...

Che, anerkannte Weintesterin, bekommt mit den Worten:"Für eine Heilung ist es nie zu spät.", einen besonderen Auftrag von ihrer extravaganten Mutter Diana de Milan. Deren Asche soll zum Pilgerziel Canterbury gebracht werden. Che, die gerade unerwartet verlassen wurde, hat also einen Grund, davonzulaufen und begibt sich nach London, um dort ihre Pilgerfahrt unter Führung einer Dozentin zu beginnen. Diese muss aber dringend operiert werden, so dass Che sich bei den wiederfindet; acht Frauen und einer Reiseführerin. Sehr verschiedene Frauen, sehr verschiedene Schicksale. Nach Chaucers Vorbild werden sie sich wie dessen Pilger auf dem Weg nach Canterbury Geschichten erzählen. Diese Geschichten in der Geschichte sind spannend, geben sie tiefe Einblicke in das Leben der Frauen, bringen Familiengeheimnisse ans Tageslicht, sind anrührend, von gewöhnlich bis erstaunlich und helfen, sich selbst und die anderen zu verstehen. Zwischendurch einige historische Fakten, die passend eingefügt sind. Kurz vor Reiseende ein dramatischer Zwischenfall. Ob alle ankommen und ihren Segen erhalten, will ich hier nicht sagen, aber jede der Frauen hat eine wunderbare Erfahrung gemacht, ein wenig zu sich selbst gefunden und eine Liebe keimt auf. Ein tolles Buch, schön geschrieben, keine Klischees. Die meisten Frauen kommen mir am Buchende vor, als würde ich sie kennen, ihre Beweggründe für die Reise kann ich verstehen. Ich denke, dass viele Leser über so eine Reise selber nachdenken, auch wenn sie für die meisten nicht machbar sein wird. Ein gutes Buch, zum Nachdenken anregend.

Veröffentlicht am 03.05.2017

Historisch und persönlich

Die Schwester des Tänzers
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Bronislawa Nijinska, im Jahre 1939, auf einem Schiff zwischen Europa und Amerika, versinkt in Gedanken an die Vergangenheit. 1890 (?) geboren, erinnert sich an ihre erste Begegnung mit dem Tanz, der ihr ...

Bronislawa Nijinska, im Jahre 1939, auf einem Schiff zwischen Europa und Amerika, versinkt in Gedanken an die Vergangenheit. 1890 (?) geboren, erinnert sich an ihre erste Begegnung mit dem Tanz, der ihr Leben bestimmen wird: sie war vier Jahre alt. Sie und ihre zwei älteren Brüder werden zu Baletttänzern ausgebildet. Waslaw ist hochbegabt, ehrgeizig, erzielt schnell Erfolge und Berühmtheit. Streng fordert er auch von seiner Schwester Höchstleistungen. Sie bewundert und verehrt ihn, verlangt ihrem Körper alles ab. Im Rampenlicht steht immer zuerst Waslaw, entwickelt neuartige Ideen und revolutioniert das russische klassische Ballett. Bronia unterstützt ihn selbstlos. Verschiedene Engagements führen sie um die Welt, überall erregen sie Aufsehen. Bis Waslaws Geist sich trübt, er unberechenbar wird.
Schon vorher choreografierte Bronia, erzielte ebenfalls bedeutende Erfolge, heiratete, bekam Kinder, durchlebte die russischen Revolutionen, Bürgerkrieg, Theaterpleiten, persönliche Tragödien.
Ein faszinierender Einblick in Zeitgeschichte, besonders im vor- und nachzaristischem Russland und in die Welt des Ballets.
Sehr gut zu lesen, mitunter etwas zu ausschweifend, aber insgesamt ein tolles Buch. Sehr persönlich, ohne Selbstmitleid, sehr glaubhaft und realistisch.