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Veröffentlicht am 08.10.2022

Der Brief

Mon Chéri und unsere demolierten Seelen
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Ihre Briefe kann sie nicht öffnen, Weihnachten verbringt sie bei Notfallessen und ihre Arbeit im Marketing einer Berliner Firma für hippe Lebensmittel macht sie gut. Allerdings klappt es bei Charlie Benz ...

Ihre Briefe kann sie nicht öffnen, Weihnachten verbringt sie bei Notfallessen und ihre Arbeit im Marketing einer Berliner Firma für hippe Lebensmittel macht sie gut. Allerdings klappt es bei Charlie Benz mit Beziehungen nicht so gut. Am ehesten tauscht sie sich mit ihrem Brieföffner Herrn Schabowski oder ihrer Schwester Sybille aus. Ein Brief von einem Anwalt aus Wien sorgt bei Charlie für große Aufregung. Von einem Anwalt kann nichts Gutes kommen. Charlie mag den Brief noch nicht mal zu Schabowski mitnehmen. Und dann trifft sie bei einer Familienaufstellung, die ihr helfen soll, die Probleme zu verstehen, ausgerechnet einen Schulkameraden wieder, der damals schon ihr Leben durcheinander brachte.

Mit Anfang vierzig hat Charlie Benz noch nicht ganz viel erreicht. Der Vater hat die Familie früh verlassen, ist wieder in das Leben der Kinder getreten, nur um wieder zu verschwinden. Charlies Geschwister sind auch etwas speziell. Zu dem 60jährigen Herrn Schabowski, der ihr die Briefe abnimmt und bei dem es immer einen guten Kaffee gibt, hat sich im Laufe der Zeit eine Art Freundschaft entwickelt. Und dennoch kann Charlie Schabowski nicht alles erzählen oder eher nach und nach. Ein wenig konfus ist sie schon manchmal und wenn sie mit jemandem ins Gespräch kommt, dann kann es eine Weile dauern, bis sie fertig ist.

Vielleicht hat man diesen Roman im Frühjahr im Laden gesehen und gedacht, das ist aber umfangreich. Und ist das Buch auf der Longlist des Österreichischen Buchpreises gelandet und es ergab sich die Gelegenheit, sich die Leseprobe zu Gemüte zu führen und das Interesse an dem Buch wurde dann doch geweckt. Dann ist es am Beginn so, dass man sich an Charlies konfuses Verhalten und ihren Depri-Talk gewöhnen muss. Es schleicht sich die Überlegung ein, dass der Roman möglicherweise nicht ganz der richtige ist. Doch nach und nach verlässt Charlie ihr Schneckenhaus, ihre Freundschaft vertieft sich und endlich öffnet sie den Brief. Und man merkt garnicht, wie sie und Schabowski sich einem ins Herz schleichen und man sie nicht mehr missen möchte. Es passiert dann erstaunlich viel in Charlies ereignislosem Leben und der Depri-Talk ist irgendwann nicht mehr Depri, sondern lebensbejahend, humorvoll und positiv. Nur chaotisch bleibt er, was Charlie und ihre Lieben umso sympathischer macht. Meist lohnt es sich, sich für die Bücher auf den Buchpreislisten etwas Zeit zu nehmen. Hier gewiss.

Veröffentlicht am 07.10.2022

Das Kapitänshaus

Zur See
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Die Mitglieder der Familie Sander kommen und gehen im Kapitänshaus auf der Insel. Nun wohnt Hanne dort, zwei Jungs und ein Mädchen hat sie großgezogen. Ihr Mann Jens fuhr lange Zeit zur See. Irgendwann ...

Die Mitglieder der Familie Sander kommen und gehen im Kapitänshaus auf der Insel. Nun wohnt Hanne dort, zwei Jungs und ein Mädchen hat sie großgezogen. Ihr Mann Jens fuhr lange Zeit zur See. Irgendwann hat Hanne das Warten nicht mehr ausgehalten und Jens die Ehe. Nun beobachtet er die Vögel. Die Tochter Eske hätte die Insel verlassen können, doch ist als Altenpflegerin im einzigen Altenheim der Insel tätig. Ryckmer, der Älteste, hatte auch das Kapitänspatent, allerdings verlor er es und hilft nun auf der Fähre aus. Eine Bedingung gibt es, er muss nüchtern bleiben. Hendrik, der jüngste, ist Künstler.

Auf der kleinen Nordseeinsel kennt man sich. Zwar braucht die Fähre nur eine Stunde bis zum Festland, jedoch ist das Inselleben ein anderes. So viele Einheimische leben nicht mehr dort, dafür kommen schon die Touristen, erst eher im Sommer und nun fast während des ganzes Jahres. Früher war es im Sommer anders. Alles drehte sich um die Gäste, selbst die Kinder mussten ihren Platz räumen. Hanne war im Sommer eine andere. Inzwischen sind ihre einfachen Gästezimmer nicht mehr so gut besucht. Dafür lebt Ryckmer wieder daheim, nachdem er seinen Posten verlor. Und auch im Leben das Inselpastors ergeben sich Veränderung, die ihn nicht unbedingt begeistern.

Und wieder schenkt Dörte Hansen ihren Lesern einen fesselnden Roman. Das Buch atmet Nordseeluft, wobei neben der Sehnsuchtszeit des Urlaubs und des Sommers auch das Grau der anderen Jahreszeiten nicht ausgespart wird. Das Inselleben verändert sich ebenso wie das Leben im Kapitänshaus. Auch wenn sich die Beschreibungen, sehr norddeutsch dauert es eine Weile bis das erste Wort gesprochen wird, auf die Familie Sander fokussieren, so werden auch kleine Begebenheiten um die anderen Insulaner geschildert. Es ist so normal und doch so anders. Wortkarg sind sie und doch reich an Empfindungen. Kein leichtes Buch, doch sehr beeindruckend. Der Wind, die Brise, das Geschrei der Möwen, die Charaktere der Menschen sind perfekt und liebevoll gezeichnet, ohne irgendetwas zu beschönigen. Es herrscht eben nicht nur Urlaubsfeeling, sondern eben auch mal Wind und Wetter. Wenn sich Dörte Hansen eines Themas annimmt, kann man sicher sein, dass man eine anrührende Geschichte lesen darf.

Veröffentlicht am 28.09.2022

Land, das nicht ist

Verbrenn all meine Briefe
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Warum wirkt es so als müssten seine Kinder in seiner Gegenwart auf Zehenspitzen gehen? Alex liebt seine Kinder und er will ein guter Vater sein, aber manchmal hat er so eine Wut. Alex beschließt, er muss ...

Warum wirkt es so als müssten seine Kinder in seiner Gegenwart auf Zehenspitzen gehen? Alex liebt seine Kinder und er will ein guter Vater sein, aber manchmal hat er so eine Wut. Alex beschließt, er muss der Wut auf den Grund gehen. Er findet einen Ansatz, indem er bei einer Art Familienaufstellung feststellt, dass seine mütterliche Familie von negativen Gefühlen bestimmt wird. Seine Großeltern waren intelligente, literarische Menschen. Wieso also dieser Hass? In seiner Kindheit hat Alex seine Großeltern eigentlich gerne besucht, doch wenn er sich jetzt erinnert, hat der Großvater seine Frau immer schlecht behandelt.

In zweiten Buch des Autors, das in Deutschland veröffentlicht wurde, werden biografische Ereignisse aus dem Leben des Autors verarbeitet. Dennoch ist das Buch als Roman erschienen. Der Enkel Alex forscht nach den Wurzeln seiner Wut und er findet die Geschichte seiner Großeltern. Frisch verliebt waren sie Anfang der 1930er glücklich, doch bald schon wurde der Großvater immer bestimmender und die Großmutter nachgiebiger. Hatte Karin sich die Ehe so vorgestellt? Als die dem etwas jüngeren Olof kennenlernt ist es für beide wie eine Offenbarung. Sie ist seine Traumfrau und er gibt ihr die Leichtigkeit zurück.

Welch ein aufwühlender Roman. Wieder und wieder kann man es während des Lesens kaum glauben, wie ein einzelner offensichtlich gesellschaftlich angesehener Mensch eine Familie mit so großer Härte und Konsequenz zerstören kann. In den Momenten, in denen sich Alex auf die Suche begibt, ist das Buch spannend wie ein Krimi. Und doch ist es hauptsächlich eine Geschichte von Liebe und Hass, von Verzicht, aber auch von allzu kurzen glücklichen Momenten. In eine Person wie den Großvater kann man sich kaum hineinversetzen, doch auch versteht man nicht so recht, wieso die Frau bleibt. Und doch hofft man mit dem Erzähler, dass er die Geschichte seiner Großeltern entschlüsseln kann und vielleicht eine Chance hat, seine Wut zu überwinden. Wut gibt es zu viel in dieser Welt, vielleicht sollte die Menschen viel häufiger versuchen, die Wut zu überwinden.

Ein Roman, der aufrüttelnd und mitreißend erzählt ist.

Veröffentlicht am 19.09.2022

Mord auf Pellworm

Wattenmeerfeuer
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Schon ungefähr ein Jahr leben Jan Benden, Inselpolizist, und seine Frau Laura auf Pellworm. Wenn sie ehrlich sind, ein wenig vermissen sie ihre Tätigkeit bei der Kriminalpolizei in Essen. Dass heißt aber ...

Schon ungefähr ein Jahr leben Jan Benden, Inselpolizist, und seine Frau Laura auf Pellworm. Wenn sie ehrlich sind, ein wenig vermissen sie ihre Tätigkeit bei der Kriminalpolizei in Essen. Dass heißt aber nicht, dass es auf Pellworm nichts zu tun gibt. Gerade im Moment hat es auf der Insel mehrere Brände gegeben. Während Jan den Feuerteufel sucht, kümmert sich Laura um ihre Ferienwohnungen und natürlich macht sie sich auf Gedanken über die Brände und wer sie gelegt haben könnte. Nicht lange dauert es und es wird richtig ernst. An einem der Brandorte, einem verlassenen Bauernhaus, wird eine Leiche gefunden.

In ihrem zweiten Fall bekommen es Jan Benten und seine Frau Laura mit einem verzwickten Fall zu tun. Eigentlich dürfte es auf einer Insel mit gut tausend Einwohnern keine Verbrechen geben, denn jeder kennt jeden. Streit kann eigentlich nur durch die zahlreichen Urlaubsgäste hereingetragen werden, oder? Während der kalten Jahreszeit gibt es davon allerdings nicht so viele. Jans selbsternannter Co-Ermittler Tamme hat da schon eine Idee, die immerhin nicht sofort völlig von der Hand zu weisen ist. Doch es gibt auch naheliegendere Ansätze. So kommen Jan und seine Kollegen vom Festland auf eine beinahe unglaubliche Geschichte, die lange in die Vergangenheit reicht.

Toll vorgetragen von Uve Teschner kann man zu diesem Hörbuch zwei Dinge sagen, man hat es schnell gehört, weil es gekürzt ist; man hat es schnell gehört, weil es einfach klasse gelesen ist und die Handlung so spannend ist, dass man immer weiterhören möchte. Der Fall steht dabei wirklich im Mittelpunkt des Geschehens. Es ist einfach rätselhaft, wieso es zu diesen Bränden kommt. Erst als die Leiche identifiziert werden kann, ergeben sich weitere Hinweise, die zu einer sehr packenden Geschichte führen. Doch auch der Humor kommt in diesem Krimi nicht zu kurz, immer wenn Tamme auftaucht, bekommt man was zu schmunzeln, sei es wegen seiner verqueren Gedanken oder auch wegen seiner Norddeutschen Ausdrucksweise. Insgesamt ein ausgesprochen hörenswerter Roman eines bestens funktionierenden Autorenduos.

Veröffentlicht am 30.08.2022

Katyas Geschichte

Denk ich an Kiew
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Nachdem Cassies Mann vor einiger Zeit bei einem Unfall starb, hört die Trauer für Cassie und ihre kleine Tochter Cassie nicht auf. Um ihr zu helfen, wieder ins Leben zurückzufinden, holt Cassies Mutter ...

Nachdem Cassies Mann vor einiger Zeit bei einem Unfall starb, hört die Trauer für Cassie und ihre kleine Tochter Cassie nicht auf. Um ihr zu helfen, wieder ins Leben zurückzufinden, holt Cassies Mutter Tochter und Enkelin zurück nach Illinois. Dort ziehen sie zu Cassies Großmutter, die sich nach einem kleinen Unfall erholen soll. Katya hat nie viel von ihrer ukrainischen Heimat erzählt, doch nun scheint es so als würden ihre Gedanken mehr und mehr in die Vergangenheit gezogen. Gerne möchte Cassie ihrer Großmutter helfen. Weil diese jedoch immer so verschlossen ist, kann sie sie nicht direkt fragen. Dann findet Cassie ein Tagebuch, dem Bobby ihre innersten Gedanken und Gefühle anvertraut hat.

Zwischen Gegenwart und Vergangenheit erfährt man von Katya, ihrem Erleben der 1930er in der Ukraine und von ihrem Lebensabend im Jahr 2004 in Amerika. Schon einmal hat Russland, welches damals noch Sowjetunion hieß, großes Leid über die Ukraine gebracht. Die Vergemeinschaftung des Besitzes der ukrainischen Bauern löste eine menschengemachte Hungersnot aus. Katya, eigentlich wohlbehütet aufgewachsen und glücklich verheiratet, erfährt mehr Leid als ein Mensch ertragen kann. Ihre Lieben werden deportiert, umgebracht, hungern nicht nur, verhungern. Cassie kann nicht fassen, was sie erfährt. Welche Kraft hatte ihre Großmutter, um doch noch ein erfülltes Leben zu finden. Und wird Cassie ihren Verlust jemals überwinden können?

Offensichtlich noch vor dem gerade über die Ukraine hereingebrochenen Krieg geschrieben, weist die hier erzählte anrührende Geschichte tatsächlich einige Parallelen zu den jetzigen Verbreitungen der Besatzer auf. Der Hunger wurde als Mittel des Krieges genutzt, nicht nur mutwillig, sondern absichtlich wurden Menschen in den Hungertot getrieben. Einfach, um den Widerstand zu brechen und die Menschen gefügig zu machen. Unter anderen Umständen wäre es kaum zu glauben, aber die Schlechtigkeit der Menschen findet hier einen besonders perfiden Ausdruck. Obwohl von großem Leide und Trauer getragen, ist diese Erzählung doch auch eine Geschichte der Hoffnung und der Heilung. Dadurch ergibt sich die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart zwischen Katya und Cassie. Vielleicht fragt man sich beim Lesen der Beschreibung, ob man das Buch lesen möchte. Nach der Lektüre kann man nur sagen: Unbedingt lesen!