Der Brief
Mon Chéri und unsere demolierten SeelenIhre Briefe kann sie nicht öffnen, Weihnachten verbringt sie bei Notfallessen und ihre Arbeit im Marketing einer Berliner Firma für hippe Lebensmittel macht sie gut. Allerdings klappt es bei Charlie Benz ...
Ihre Briefe kann sie nicht öffnen, Weihnachten verbringt sie bei Notfallessen und ihre Arbeit im Marketing einer Berliner Firma für hippe Lebensmittel macht sie gut. Allerdings klappt es bei Charlie Benz mit Beziehungen nicht so gut. Am ehesten tauscht sie sich mit ihrem Brieföffner Herrn Schabowski oder ihrer Schwester Sybille aus. Ein Brief von einem Anwalt aus Wien sorgt bei Charlie für große Aufregung. Von einem Anwalt kann nichts Gutes kommen. Charlie mag den Brief noch nicht mal zu Schabowski mitnehmen. Und dann trifft sie bei einer Familienaufstellung, die ihr helfen soll, die Probleme zu verstehen, ausgerechnet einen Schulkameraden wieder, der damals schon ihr Leben durcheinander brachte.
Mit Anfang vierzig hat Charlie Benz noch nicht ganz viel erreicht. Der Vater hat die Familie früh verlassen, ist wieder in das Leben der Kinder getreten, nur um wieder zu verschwinden. Charlies Geschwister sind auch etwas speziell. Zu dem 60jährigen Herrn Schabowski, der ihr die Briefe abnimmt und bei dem es immer einen guten Kaffee gibt, hat sich im Laufe der Zeit eine Art Freundschaft entwickelt. Und dennoch kann Charlie Schabowski nicht alles erzählen oder eher nach und nach. Ein wenig konfus ist sie schon manchmal und wenn sie mit jemandem ins Gespräch kommt, dann kann es eine Weile dauern, bis sie fertig ist.
Vielleicht hat man diesen Roman im Frühjahr im Laden gesehen und gedacht, das ist aber umfangreich. Und ist das Buch auf der Longlist des Österreichischen Buchpreises gelandet und es ergab sich die Gelegenheit, sich die Leseprobe zu Gemüte zu führen und das Interesse an dem Buch wurde dann doch geweckt. Dann ist es am Beginn so, dass man sich an Charlies konfuses Verhalten und ihren Depri-Talk gewöhnen muss. Es schleicht sich die Überlegung ein, dass der Roman möglicherweise nicht ganz der richtige ist. Doch nach und nach verlässt Charlie ihr Schneckenhaus, ihre Freundschaft vertieft sich und endlich öffnet sie den Brief. Und man merkt garnicht, wie sie und Schabowski sich einem ins Herz schleichen und man sie nicht mehr missen möchte. Es passiert dann erstaunlich viel in Charlies ereignislosem Leben und der Depri-Talk ist irgendwann nicht mehr Depri, sondern lebensbejahend, humorvoll und positiv. Nur chaotisch bleibt er, was Charlie und ihre Lieben umso sympathischer macht. Meist lohnt es sich, sich für die Bücher auf den Buchpreislisten etwas Zeit zu nehmen. Hier gewiss.