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Veröffentlicht am 19.10.2022

Abgründe der Menschheit

Taube und Wildente
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Zum alljährlichen Treffen im Sommer finden sich Angehörige der Familie Dalandt und enge Mitarbeiter des Verlages auf dem Landsitz in der Provence ein. Die träge Hitze lockt kaum noch die Katze hervor, ...

Zum alljährlichen Treffen im Sommer finden sich Angehörige der Familie Dalandt und enge Mitarbeiter des Verlages auf dem Landsitz in der Provence ein. Die träge Hitze lockt kaum noch die Katze hervor, um Zikaden zu jagen. Die Gäste sowie die Angestellten agieren dem vorgegebenen Protokoll entsprechend und wirken ebenfalls lahm und antriebslos. Bis ein Stillleben, ein alter Schinken, in den Mittelpunkt der Betrachtungen rückt. Ein Bild als Abbild einer Ehe?

Verwirrend detailliert betrachtet Martin Mosebach gleich zu Beginn den tödlichen Tanz einer Zikade. Um keinem Irrtum zu unterliegen und mich ins Geschehen fallen lassen zu können, lese ich das erste Kapitel gleich zwei Mal. Ja, es besteht kein Zweifel: die Sprache ist so wort- wie bildgewaltig und fasziniert durch ihre Eleganz. Gleichzeitig bildet der Autor seinen Eigenwillen über die Rechtschreibung ab, indem er sich nicht an Normen und Konventionen hält und spiegelt damit auch sofort das Profil seiner Romanfiguren wider: verheiratet heiß nicht treu, Großmutter heißt nicht liebevoll, persönliche Vorteile stehen im Mittelpunkt. Ohnehin bekommt nur das Stillleben Farbe, eventuell noch die Natur rund um den Landsitz, aber die Personen behalten bis zum Ende des Büchleins ihren grauen Anstrich, man könnte fast meinen, es ist sowieso gleich, wer hier antanzt, es geht um menschliche Schwächen bis hin zum Untergang. Subtil, hintergründig, fast boshaft agieren die Figuren. Sogar Hund und Katz verströmen mehr Wärme als die Gruppe rund um Dalandt.

Eine Handlung im klassischen Stil kann man hier nicht verfolgen, eher handelt es sich um ein Portrait aus Wörtern, welches Mosebach hier zeichnet. So schwer wie Öl auf der Leinwand von Otto Scholderers „Tote Feldtaube und Wildente“ fühlt sich das fast gleichnamige Buch an.

Stilistisch hervorragend, inhaltlich fast lähmend wie Sommerhitze – so präsentiert sich dieses schriftstellerische Gemälde. Für Kunst- und Literaturliebhaber gewiss empfehlenswert.

Titel Taube und Wildente

Autor Martin Mosebach

ISBN 978-3-423-28000-6

Sprache Deutsch

Ausgabe Gebundenes Buch, 336 Seiten

ebenfalls erhältlich als e-book

Erscheinungsdatum 19. Oktober 2022

Verlag dtv

Veröffentlicht am 17.09.2022

Glück unter der Sonne

Ein Sommer in Rimini
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Nina ist Köchin in einem bekannten Hamburger Hotel. Neben ihren männlichen Kollegen darf sie jedoch nur Hilfsarbeiten verrichten, bis ein Gast ihre exotische Salatkreation serviert bekommt und sie dem ...

Nina ist Köchin in einem bekannten Hamburger Hotel. Neben ihren männlichen Kollegen darf sie jedoch nur Hilfsarbeiten verrichten, bis ein Gast ihre exotische Salatkreation serviert bekommt und sie dem Manager des Grand Hotel in Rimini empfiehlt. Ihre mütterliche Freundin, mit der sich Nina eine winzige Kellerwohnung teilt, ist sofort Feuer und Flamme. Die Isetta steht schon bereit, um die beiden abenteuerlustigen Damen über den Brenner zu bringen. Doch hier hat im Jahre 1955 noch kaum jemand den Krieg vergessen. Die neue Kollegin aus dem ehemals feindlichen Land wird misstrauisch beobachtet. Andererseits scheinen auch unter den Italienern Männer zu sein, welchen die große Blonde durchaus gefällt.

Ein spritziges Titelbild und eine Inhaltsangabe mit Lust auf Sonne und Meer (oder mehr) versprechen einen unterhaltsamen Roman mit Urlaubsgefühlen. La dolce vita in vollen Zügen genießen, kommt allerdings nicht so wirklich in Schwung. Obwohl das Leben der 1950er-Jahre mit seinen massiven Standesunterschieden bildhaft dargestellt wird (da der ausgemergelte Bub, der mit Hilfstätigkeiten ein paar Münzen verdient, dort die eleganten Frackträger mit Champagner), so fehlt eine gewisse Lebendigkeit. Beim Lesen der Szenen bleibt vieles nur angedeutet, geht nicht recht auf Gedanken und Gefühle ein. Die Dialoge spielen sich oft an der Oberfläche ab, Lebenslust und Leichtigkeit bleiben für Nina auch in Italien ein Fremdwort, muss sie doch fast ohne Pause in der Kellerküche des Hotels schuften. Allein Henni kann die neue Freiheit in vollen Zügen genießen und verdreht so manchem Herrn den Kopf.

Durch den flüssig dahingleitenden Schreibstil vergehen die Wochen recht rasch, Bilder, wie sich die beiden Frauen mit Hennis Isetta über die Alpen quälen oder missverständliche Flirtversuche lassen den Leser immer wieder schmunzeln. Ein Roman über den Mut zum Neuanfang und das Überwinden der Feindschaft nach dem Krieg bietet nette, jedoch ein wenig farblose Unterhaltung.



Titel Ein Sommer in Rimini

Autor Fenna Janssen

ISBN 978-3-352-00980-8

Sprache Deutsch

Ausgabe Gebundenes Buch, 256 Seiten

ebenfalls erhältlich als e-book

Erscheinungsdatum 17. Mai 2022

Verlag Rütten & Loening

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 27.08.2022

Entscheidungen

Sonnenblumentage
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Zum Vater hat Marie keine besondere Verbindung, ihre Mutter hat sie vor etwa einem Jahr durch einen Schicksalsschlag verloren. Nun lebt die junge Floristin in einem kleinen Dorf bei ihrem Freund, der ihr ...

Zum Vater hat Marie keine besondere Verbindung, ihre Mutter hat sie vor etwa einem Jahr durch einen Schicksalsschlag verloren. Nun lebt die junge Floristin in einem kleinen Dorf bei ihrem Freund, der ihr über die schweren Tage hinweggeholfen hat und arbeitet in der Gärtnerei seiner Eltern. Allerdings kann sie hier ihre Talente nicht wirklich optimal entfalten. An einem Wochenende will sie dem immer wieder einengenden Alltag entfliehen und sich mit ihren beiden liebenswerten Tanten in einem Wellnesshotel treffen. Ein Telefonanruf verändert alles.

Frieda Bergmann entwickelt nun zwei Szenarien, die sich abspielen könnten: Marie nimmt den Anruf nicht an und fährt ihrem Schicksal entgegen, oder Marie nimmt den Anruf an und ihr Leben hält eine andere Zukunft für sie bereit.

Ein angenehm flüssiger Schreibstil begleitet den Leser auf Maries Wegen und zeigt auf, wie entscheidend manchmal eine Kleinigkeit sein kann. Wie entwickelt sich ein Mensch, wenn er gerade diese Abzweigung nimmt, wie würde sein Leben verlaufen, wenn er die andere Richtung wählt? Abwechselnd beleuchtet die Autorin Maries Zeit ab dem Anruf … was wäre, wenn …

Blumig und bunt, wie es zur Floristin passt, beginnt das Buch nicht nur auf dem Titelbild. Auch Maries Tätigkeit wird sehr ausführlich und detailliert beschreiben, sodass man als Leser die sympathische Frau recht schnell kennenlernt. Nach diesem Einstieg kommt der Wendepunkt, und die Geschichte verläuft in zwei ganz unterschiedlichen Handlungssträngen, die aber da und dort aufeinandertreffen und Gemeinsamkeiten hervorstreichen. Während anfangs die rauschende Vielfalt zum Thema Pflanzen und Feste gut passt, verliert sich das Geschehen aber immer weiter in Details, welche für mich dann irgendwann doch zu ausschweifend und teilweise nicht überzeugend gewesen sind. Auch die Ausgewogenheit zwischen den unterschiedlichen Verläufen von Maries Leben ist nicht so recht gegeben, selbst wenn der ausführlichere Teil oftmals interessanter und lebendiger wirkt. So gibt es manch spannende und aufregende Szene, während dazwischen viele Blumen verwelken, bis sich neuerlich etwas Interessantes ereignet.

Die Idee dieser „was wäre, wenn…“-Erzählung ist außergewöhnlich und führt dem Leser vor Augen, dass man auf unterschiedlichste Weise ein glückliches und erfülltes Leben führen kann, manche Entscheidungen passieren, manche trifft man ganz bewusst. Welche Früchte man jedoch aus den gesäten Samen erntet, das kann man immer wieder beeinflussen. Kaum eine Entscheidung ist eine Einbahnstraße, irgendwo gibt es fast immer eine Möglichkeit zum Wenden.

Wer sich gerne fallen lässt in eine recht umfassende, aber durchwegs herzliche Erzählung aus Maries Leben, der liegt mit Bergmanns „Sonnenblumentage“ bestimmt richtig.



Titel Sonnenblumentage

Autor Frieda Bergmann

ISBN 978-3-7341-1032-0

Sprache Deutsch

Ausgabe Taschenbuch, 640 Seiten

ebenfalls erhältlich als e-book

Erscheinungsdatum 17. August 2022

Verlag Blanvalet

Veröffentlicht am 25.07.2022

(Un)Schuld

Die karierten Mädchen
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Klara ist über neunzig und blickt auf ein ereignisreiches Leben zurück. Vieles hat sie mit ihrem Mann Gustav und ihren vier Kindern geteilt, einiges jedoch hat sie über all die Jahrzehnte tief in sich ...

Klara ist über neunzig und blickt auf ein ereignisreiches Leben zurück. Vieles hat sie mit ihrem Mann Gustav und ihren vier Kindern geteilt, einiges jedoch hat sie über all die Jahrzehnte tief in sich verborgen. Nun spricht sie, mittlerweile blind, ihre Erinnerungen auf Tonbandkassetten. Sie erzählt von ihrer Zeit als Lehrerin im Kinderheim Oranienbaum, von der immer schwieriger werdenden finanziellen Lage, einem jüdischen Säuglingsmädchen, das in ihrer Erziehungsanstalt abgegeben worden ist, von den Nazis, welche das Haus in ein ländliches Frauenbildungsheim verwandeln wollen und darüber, wie sie Gustav kennengelernt hat.

In unregelmäßigem Wechsel schildert Alexa Hennig von Lange die Situation der alten Dame, wie sie ihre Kassetten bespricht oder in Erinnerungen schwelgt und Kapitel, welche ab 1929 datieren. Als Vorlage für Klaras Lebensgeschichte dienen die Erlebnisse ihrer eigenen Großmutter, die sie als diszipliniert und streng beschreibt. Aufgrund dieser Eigenschaften bleibt leider auch Klara im Roman sehr distanziert und oberflächlich. Die Autorin beschreibt zwar ihre Zuneigung zu ihrer Familie und zu ihrer Kollegin und Freundin Susanne, aber immer wieder drängt sich hier das Gefühl auf, dass es sich (auch) um Pflichtbewusstsein oder Eigennutz handelt. Im Grunde ist Klara eine strebsame Einzelkämpferin, die entschieden für ihr Vorwärtskommen eintritt, selbst wenn es dafür mit den Nazis zusammenzuarbeiten heißt. Wenig interessiert an Politik, merkt sie erst spät, wo sie da hineingeraten ist.

Die starre Vorlage der Kassettenaufzeichnungen führt leider zu einer eher langatmigen Szenenabfolge anstelle einer aufregenden Romanhandlung. Insbesondere fehlen mir nahegehende Gefühle und Gewissenskonflikte, möglicherweise aber war die Dame tatsächlich so streng und kühl wie ihr starrer Dutt am Hinterkopf? Dann hätte ein wenig Fiktion, gemischt mit der Realität, ein bisschen Schwung ins Geschehen bringen können.

Natürlich ist es im Nachhinein einfach, zu urteilen, aber die Naivität und politische Interessenlosigkeit von Klara ist schon bemerkenswert. Und schließlich stellt sich die Frage, was Hennig von Lange mit diesem Buch bezwecken will. Soll das reale Leben der 1930er-Jahre abgebildet werden oder ist es ein Versuch, die Großmutter zu entlasten? Ich habe mir vom Beginn dieser Trilogie mehr erwartet …



Titel Die karierten Mädchen

Autor Alexa Hennig von Lange

ISBN 978-3-8321-8168-0

Sprache Deutsch

Ausgabe Gebundenes Buch, 368 Seiten

ebenfalls erhältlich als ebook

Erscheinungsdatum 2. August 2022

Verlag Dumont

Band 1 einer Trilogie

Veröffentlicht am 04.07.2022

Geschwisterliebe?

Dunkle Tiefen
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Zwanzig Jahre nach dem tragischen Unglück, bei dem die jüngste Schwester Rose aus ungeklärten Gründen über eine Klippe gestürzt ist, kehren die übrigen drei jungen Frauen in das Sommercottage zurück, um ...

Zwanzig Jahre nach dem tragischen Unglück, bei dem die jüngste Schwester Rose aus ungeklärten Gründen über eine Klippe gestürzt ist, kehren die übrigen drei jungen Frauen in das Sommercottage zurück, um gemeinsam die Weihnachtsfeiertage zu verbringen. Angesichts der Tatsache, dass sie einander schon seit etwa zehn Jahren nicht mehr gesehen haben, ein eher schwieriges und verkrampftes Unterfangen. Misstrauen und Argwohn verleiden den Geschwistern ein unbeschwertes Miteinander.

In zwei Zeitebenen mit einem Hin und Her auch im Jetzt ist Abwechslung gegeben, die interessanten Sichtweisen unterschiedlicher Personen fließen in das Geschehen ein. Trotzdem entsteht immer wieder eine gewisse Langatmigkeit, die der ganzen Geschichte viel an Spannung raubt. Auch die raue Landschaft und das klirrende Winterwetter können die düstere Stimmung im Haus nicht richtig untermalen, die drei rothaarigen Damen bleiben dem Leser in gewisser Weise fremd und unnahbar. So entwirrt sich zwar nach und nach, was im damaligen Sommer 1997 geschehen sein mag, und als Außenstehender möchte man natürlich wissen, was passiert ist, aber das Gefühl, man müsse Kapitel um Kapitel verschlingen, bleibt leider aus. Irgendwann lichtet sich das Ganze, aber auch das gewisse Überraschungsmoment bei der Auflösung am Ende fehlt.

Fazit: nette Unterhaltung, aber keineswegs ein atemberaubender Psychothriller. Schade, der Klappentext hat da sehr viel mehr erwarten lassen.



Titel Dunkle Tiefen

Autor Elizabeth Kay

ISBN 978-3-7857-2728-7

Sprache Deutsch

Ausgabe Taschenbuch, 416 Seiten

ebenfalls erhältlich als ebook und Hörbuch

Erscheinungsdatum 24. Juni 2022

Verlag Lübbe

Originaltitel High Places

Übersetzer Rainer Schumacher