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Veröffentlicht am 20.10.2022

Interessante und faszinierende Medizingeschichte

Der Horror der frühen Chirurgie
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Harold Gillies hatte eigentlich einen recht bequemen und einträglichen Medizinerposten inne, als ihm der erste Weltkrieg dazwischen kam. Trotzdem ist es kein Selbstläufer, dass er sich zu einem der wenigen ...

Harold Gillies hatte eigentlich einen recht bequemen und einträglichen Medizinerposten inne, als ihm der erste Weltkrieg dazwischen kam. Trotzdem ist es kein Selbstläufer, dass er sich zu einem der wenigen „Fachärzte“ für Gesichtsrekonstruktionen mauserte. Sein interdisziplinärer Ansatz sorgt dafür, dass Soldaten mit schrecklichen Gesichtsverletzungen nicht nur Schmerzen und weitere Leiden erspart, sondern auch ein würdevoller Weg zurück in die Gesellschaft ermöglicht wurde.
Die Autorin ist promovierte Medizinhistorikerin, also vom Fach. Trotzdem ist es sicherlich kein Einfaches OP-Methoden, plastische Techniken u.ä. so aufzubereiten, dass auch dem fachfremden Leser alles einleuchtet. Verletzungen sowie angewandte OP-Techniken werden sehr detailliert beschrieben, auch die Grausamkeiten des Stellungskrieges sind nicht geschönt. Diese Dinge nehmen mit den größten Teil des Buches ein, auch wenn Biografisches von Gillies und Kollegen definitiv nicht zu kurz kommt. Trotzdem sollte man als Leser jetzt nicht zu zart besaitet sein. Ich mochte schon den ersten Teil aus dieser Sachbuchreihe, und auch mit dem aktuellen wurde ich nicht enttäuscht (höchstens über den unnötig reißerischen Titel). Faszinierend was trotz widrigster Umstände möglich war (gemacht wurde), aber auch welche Leidensfähigkeit und welchen Willen die Patienten gezeigt haben. Unzählige OPs waren teilweise nötig, oft ohne ausreichende Anästhesie, ohne Antibiose; auch war mancher der Verletzten der erste seiner Art, sodass die Behandlungen oft nach dem Prinzip von trial and error behandelt wurden, auch wenn Gillies seine Methoden natürlich immer weiter verfeinerte. Ein starker Wille und Durchhaltevermögen war von Arzt und Patienten gefordert. Die Autorin findet einen guten Mittelweg zwischen der medizinischen Entwicklung einerseits, dem damaligen Tagesgeschehen sowie Gillies‘ persönlichem Leben. Ich fand es ein wenig schade, dass Zeichnungen und Fotos zwar geschildert, aber nicht abgedruckt worden sind; dies hat vielleicht rechtliche Gründe, der Übergang zum medizinischen Fachbuch wäre dann sicherlich auch schwammig, trotzdem hätte es den Inhalt des Buches abgerundet. Insgesamt bin ich von diesem Sachbuch jedoch sehr angetan und kann es quasi uneingeschränkt empfehlen.

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Veröffentlicht am 03.08.2022

Mikrokosmus Kloster

Matrix
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England, 1158: Marie, die uneheliche Schwester Königin Eleonores, darf nach dem Tod ihrer Mutter nicht etwa an deren königlicher Seite ein neues Leben beginnen, sondern wird in ein abgelegenes Kloster ...

England, 1158: Marie, die uneheliche Schwester Königin Eleonores, darf nach dem Tod ihrer Mutter nicht etwa an deren königlicher Seite ein neues Leben beginnen, sondern wird in ein abgelegenes Kloster abgeschoben. Dort soll sie in der Vergessenheit versinken, doch Marie ist nicht nur durchsetzungsfähig, sondern auch mit einem wachen Geist und Weitsicht gesegnet, und so nutzt sie ihren Posten als Priorin nicht nur zum eigenen Vorteil.
Was hat mich dieser Roman abgeholt. Starke Frauenbilder in Romanen sind heutzutage ja ein wenig in Mode gekommen, werden aber immer wieder für mich zu abgeschmackt oder klischeehaft aufgezogen. Nicht so hier. Marie ist bis zum Tode ihrer Mutter mit sehr starken und unabhängigen Frauen aufgewachsen, und das hat sie zutiefst verinnerlicht. Das Kloster ist ein mehr oder weniger geschützter Mikrokosmus, in dem sie ihre Visionen entwickeln und auch verwirklichen kann. Nach und nach überzeugt sie nicht nur sich selbst, sondern ihre Mitschwestern, was Frauen alles können und auch leisten dürfen. Es ist wunderbar zu lesen, wie ihre und die Macht des Klosters nach und nach wachsen. Das alles erzählt die Autorin sehr kraftvoll, aber auch reduziert. Es wird nichts in großen, farbigen Bildern heraufbeschworen, sondern fein mit wenigen Worten beschrieben und trotzdem kommt man als Leser sehr schnell an. Ich fand diesen ruhigen Stil sehr stimmig mit der klösterlichen Atmosphäre.
Für mich war dieser Roman eines der Jahreslesehighlights bisher. Ganz große Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 02.07.2022

Berührender Erstling

Die Lüge
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Miki lebt nach dem Tod seiner Mutter bei seinem nun alleinerziehenden Vater. So die offizielle Version. Tatsächlich ist sein „Vater“ eigentlich sein Onkel, der ihn gemeinsam mit seinem langjährigen Partner ...

Miki lebt nach dem Tod seiner Mutter bei seinem nun alleinerziehenden Vater. So die offizielle Version. Tatsächlich ist sein „Vater“ eigentlich sein Onkel, der ihn gemeinsam mit seinem langjährigen Partner Lew großzieht. Doch in der homophoben Gesellschaft Russlands hält man die Wahrheit über seine Regenbogenfamilie besser gut versteckt. Nicht leicht für Miki, der zum Zeitpunkt der Adoption gerade einmal 5 Jahre alt ist, kaum Freunde hat und auch in den kommenden Jahren immer wieder Schwierigkeiten hat, sich einzufügen. Die ständigen Lügen, das ständige Versteckspiel hinterlassen zusätzlich ihre Spuren.
Mikita Franko hat einen Coming-of-Age-Roman mit Suchtpotential geschrieben. Vieles beruht auf eigenen Erfahrungen, was das Leseerlebnis noch intensiver macht. Miki ist trotz des Todes seiner Mutter ein recht fröhlicher Junge, aufgeweckt und er mag seinen Onkel/Ersatzpapa wirklich gerne. Beste Voraussetzungen eigentlich, aber die Lügen bedrücken ihn immer mehr; diese zunehmende Zerreißprobe wird hautnah am Leser ausgelassen, immer wieder hält man den Atem an, weil die Entlarvung des Familienlebens droht. Authentisch und glaubhaft ist dieses Versteckspiel, selbst die Kleinsten werfen mit homophoben Vorurteilen um sich, sodass man der Familie vor allem eines wünscht: dass niemand die Wahrheit herausfindet. Franko zeichnet ein schonungsloses Bild davon, was es heißt in Russland „anders“ zu sein und löst damit beim Leser immer wieder große Beklemmung aus. Trotzdem ist dieser Roman nicht nur bedrückend, sondern macht vor allem durch seinen lockeren und doch intensiven Stil, seinen wachsenden Ich-Erzähler und seine frische Art großen Spaß. Ein toller Debütroman.

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Veröffentlicht am 24.04.2022

Auf den Wolf gekommen

Wo die Wölfe sind
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Schottland soll wieder auf den Wolf kommen. Eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern und Naturschützern, allen voran Inti Flynn, versucht sich an diesem Projekt. Dabei müssen nicht nur rechtliche Hürden ...

Schottland soll wieder auf den Wolf kommen. Eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern und Naturschützern, allen voran Inti Flynn, versucht sich an diesem Projekt. Dabei müssen nicht nur rechtliche Hürden aus dem Weg geräumt, die Tiere behutsam ausgewildert und überwacht werden, sondern auch die Ressentiments der Anwohner im Auge behalten werden. Inti kümmert sich nicht nur um die scheuen Tiere, sondern auch um ihre Zwillingsschwester, die nach den Ereignissen der letzten Jahre nicht mehr sie selbst ist.
Die Ansiedlung von einer Handvoll Wölfe kann weitreichende Auswirkung auf Flora und Fauna haben, darüber lernt man in diesem Buch viel Interessantes. Intis tiefe Verbundenheit zur Natur und den Wölfen im Besonderen lassen den Leser tief in die Thematik eintauchen, es wird mit Vorurteilen genauso aufgeräumt wie etwas unbequeme Wahrheiten ausgesprochen werden. Ich fand diese Einblicke sehr faszinierend. Die Autorin beschreibt auf eine ruhige, aber doch sehr eindringliche Art nicht nur die Tiere, sondern ebenso die schottische Natur sowie deren Bewohner. Diese sind nicht immer ganz unbelastet von Klischees, unterm Strich aber gut besetzt. Klarer Fokus liegt auf Inti, ihrer Schwester und Polizist Duncan. McConaghy erzählt auf sehr gefühlvolle Weise, ich war von ihrem Stil sehr angetan. „Wo die Wölfe sind“ ist ein ruhiger, empfindsamer Roman, der mir noch eine Weile im Kopf bleiben wird. Ich mochte schon McConaghys Zugvögel sehr gerne, aber mit diesem Roman hat die Autorin noch mal ein Schippchen obenauf gelegt. Klare Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 13.04.2022

Zehn Jahre danach

Verweigerung
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„Sie machten alle einen recht anständigen Eindruck. Als würden sie alle ihr Bestes tun, um einem Mädchen Gerechtigkeit zu verschaffen,… Sie wollten nur helfen.“
Vor zehn Jahren entschieden vierzehn Menschen ...

„Sie machten alle einen recht anständigen Eindruck. Als würden sie alle ihr Bestes tun, um einem Mädchen Gerechtigkeit zu verschaffen,… Sie wollten nur helfen.“
Vor zehn Jahren entschieden vierzehn Menschen darüber, ob der Lehrer Bobby Nock seine Schülerin Jessica Silver umgebracht hat. Sie glaubten an seine Unschuld – im Gegensatz zum Rest des Landes. Seitdem sieht sich v.a. Anwältin Maya immer wieder mit dem alten Fall konfrontiert, war sie es doch, die die anderen maßgeblich überzeugt hatte. Nun soll für eine TV-Sendung alles wieder ausgegraben werden, doch noch bevor alles richtig ins Rollen kommen kann, stirbt einer der vierzehn. Tatverdächtige Nr. 1: Maya.
Recht und Gerechtigkeit sind nicht immer dasselbe, und Moores Roman lässt den Leser diesen Satz spürbar erleben. Auch Schuld und Unschuld spielen eine große Rolle und damit meine ich nicht nur den vermeintlichen Mörder Bobby. Moore versteht es ganz hervorragend dieses Thema von allen möglichen und unmöglichen Seiten zu beleuchten, neben den spannenden Entwicklungen gibt es also reichlichst Stoff zum Nachdenken. All diese Bälle in der literarischen Luft zu halten, könnte etwas bemüht wirken, aber die Geschichte ist mehr als rund. Der Autor wechselt zudem zwischen den Perspektiven, jede/r Geschworene kommt mal zu Wort, gleichzeitig wird zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin- und hergewechselt. Kling kompliziert, liest sich aber sehr flüssig und macht die Handlung noch einmal einen Ticken fesselnder. Ich war von dem ganzen Konstrukt sehr begeistert, der sehr angenehme Schreibstil tut dazu sein Übriges. „Verweigerung“ ist der etwas andere Justizthriller, der nicht nur Schwachstellen im amerikanischen Rechtssystem aufzeigt, sondern auch die Fehler jedes Einzelnen selbst beleuchtet. Ein wirklich toller Roman.

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