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Veröffentlicht am 30.05.2021

Tod und späte Einsichten eines unvollendeten Schriftstellers

Schnee auf dem Kilimandscharo
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(Anmerkung: Da es sich um eine Kurzgeschichte handelt, scheint es mir unmöglich eine vernünftige aussagekräftige Rezension schreiben zu können, ohne dabei zu SPOILERN.)

„Schnee auf dem Kilimandscharo“ ...

(Anmerkung: Da es sich um eine Kurzgeschichte handelt, scheint es mir unmöglich eine vernünftige aussagekräftige Rezension schreiben zu können, ohne dabei zu SPOILERN.)

„Schnee auf dem Kilimandscharo“ ist vermutlich die bekannteste Kurzgeschichte des großen Ernest Hemingway. Die Geschichte wurde 1936 veröffentlicht und handelt von dem Schriftsteller Harry, der sich zusammen mit seiner Lebensgefährtin Hellen auf einer Fotosafari in Afrika befindet und sich beim Fotografieren einer Herde Wasserböcke im Grunde genommen nur leicht verletzt. Allerdings wurde die Wunde nur unzureichend versorgt, der Wundbrand hat sich entzündet und Harry hat das Gefühl daran sterben zu müssen. Anfangs hatte die Wunde geschmerzt, aber nun sind die Schmerzen vorbei. Da ihr Lastwagen defekt ist, müssen sie ihr Lager mitten in der Wildnis aufschlagen. Harry nutzt die Zeit um, unterbrochen von Fieberschüben, nochmals über sein Leben zu sinnieren. Dabei fällt ihm auf, dass er seine Lebensgefährtin, die sich liebevoll um ihn kümmert, nicht mehr wirklich liebt, vielleicht nie wirklich geliebt hat, sondern lediglich aus Bequemlichkeit mit ihr zusammen ist und sich von der Witwe aushalten lässt, da sie einerseits gut im Bett ist und andererseits reich ist und nie eine Szene macht. Er hat das Gefühl von den Geiern bereits beobachtet zu werden und eine Hyäne schleicht, angezogen vom Geruch seiner Wunde, unentwegt um das Lager herum. Verschiedene Frauen aus seinem Leben fallen ihm wieder ein und Lebensabschnitte aus seiner Kindheit und aus seiner Kriegszeit kommen ihm wieder ins Gedächtnis, u.a. eine Geschichte über einen Jungen, der jemanden erschossen hat und dafür ins Gefängnis musste, das aber nicht nachvollziehen konnte. Kurz gesagt: Ganz viele Erinnerungen, die für ihn immer das Potenzial zum Aufschreiben gehabt hätten, die er aber nie zu Papier gebracht hat, was er nun sehr bedauert. Dazwischen immer wieder wirre Gedanken und Dialoge mit Hellen.

Er bittet Hellen, die nicht an seinen nahenden Tod glaubt, ihn seine letzte Nacht im Freien verbringen zu lassen. Hellen jedoch lässt Harry, den sie fälschlicherweise im Schlaf wähnt, ins Zelt tragen. Harry macht sich noch allerlei Gedanken über den Tod, der sich ihm immer mehr zu nähern scheint, schläft aber dann doch ein. Am anderen Morgen kommt er zu sich und das Flugzeug, das ihm letzte Hoffnung auf seine Rettung verspricht, ist eingetroffen. Er wir verladen und der Flug beginnt. Allerdings steuert der Pilot schließlich auf den gleißend hellen Gipfel des Kilimandscharo zu.

Mit der Beschreibung dieses Gipfel und einem kurzen Abriss über den Kilimandscharo, der schneebedeckt sei, eine Höhe von 6000 Metern besitzt und als der höchste Berg von Afrika gilt, hat die Geschichte genau genommen eingangs begonnen: Die Einheimischen nennen seinen Gipfel „Das Haus Gottes“. Knapp unter dem Gipfel wurde das gefrorene Gerippe eines Leoparden gefunden, von dem aber niemand weiß, was der Leopard in dieser Höhe überhaupt wollte. Und Harry wird nun klar, was geschehen ist. Hellen wird an diesem Morgen durch das klagende Heulen einer Hyäne geweckt, schaut zu Henry und sieht, dass sein Bein aus dem Lager heraushängt und der Verband komplett abgewickelt ist. Sie kann nicht hinschauen und versteht nun, dass Harry tatsächlich tot ist.

Aber Hemingway wäre nicht Hemingway, wenn da nicht noch eine tiefsinnige Botschaft dahinter stecken würde. Was auf den ersten Blick eher als eine zusammenhangslose, verwirrende Geschichte, die den Fieberwahn von Harry widerspiegelt, angesehen werden kann, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung, als eine geniale Vernetzung von Leben, Genuss, Zeit, Erinnerungen, Bequemlichkeiten, Glaube, Hoffnung, Liebe und Tod. Jede noch so kleine Beobachtung und Randnotiz entpuppt sich für das Verständnis als essentiell wichtig. Obwohl die Geschichte ungewöhnlich kurz ist, trägt sie zu viel Information und Interpretation in sich, all dass man dies alles beim ersten Lesen erfassen kann. Sie ist allerdings kurz genug, als dass sie sich nach einem ersten Lesen und darüber Nachdenken problemlos nochmals lesen lässt.

Fazit: Obwohl „Schnee auf dem Kilimandscharo“ beim ersten Lesen als eine verwirrende, fast schon belanglose Geschichte erscheint, bei der der Leser kaum erfasst, wo die Handlung überhaupt hinführen soll, handelt es sich bei genauer Betrachtung um eine vielschichtige Auseinandersetzung mit Leben und Tod. Nicht umsonst hat sie völlig verdient Weltruhm erreicht. In vielen äußerst kurzen Sätzen teilt Hemingway detailreich seine Beobachtungen mit. Die wahre Bootschaft des Textes liegt allerdings verborgen zwischen den Zeilen und der Leser muss sie für sich selbst entdecken. Von meiner ganz persönlichen Warte aus gesehen, handelt es sich bei „Schnee auf dem Kilimandscharo“ um ein literarisches Meisterwerk.

Ich habe sowohl das Buch gelesen, als auch das Hörbuch in der hier vorliegenden sowie in einer weiteren Version gehört. Inhaltlich sind sie natürlich alle gleich. Anzufügen bleibt aber für das Hörbuch, dass sowohl das Lesetempo als auch die Stimmen von Rosemarie Fendel und Peter Lieck nicht schlecht gewählt sind. Allerdings gefällt mir persönlich die Hörbuchversion mit Otto Sander als Sprecher um ein Vielfaches besser.

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Veröffentlicht am 30.05.2021

Tod und späte Einsichten eines unvollendeten Schriftstellers

Schnee auf dem Kilimandscharo
0

(Anmerkung: Da es sich um eine Kurzgeschichte handelt, scheint es mir unmöglich eine vernünftige aussagekräftige Rezension schreiben zu können, ohne dabei zu SPOILERN.)

„Schnee auf dem Kilimandscharo“ ...

(Anmerkung: Da es sich um eine Kurzgeschichte handelt, scheint es mir unmöglich eine vernünftige aussagekräftige Rezension schreiben zu können, ohne dabei zu SPOILERN.)

„Schnee auf dem Kilimandscharo“ ist vermutlich die bekannteste Kurzgeschichte des großen Ernest Hemingway. Die Geschichte wurde 1936 veröffentlicht und handelt von dem Schriftsteller Harry, der sich zusammen mit seiner Lebensgefährtin Hellen auf einer Fotosafari in Afrika befindet und sich beim Fotografieren einer Herde Wasserböcke im Grunde genommen nur leicht verletzt. Allerdings wurde die Wunde nur unzureichend versorgt, der Wundbrand hat sich entzündet und Harry hat das Gefühl daran sterben zu müssen. Anfangs hatte die Wunde geschmerzt, aber nun sind die Schmerzen vorbei. Da ihr Lastwagen defekt ist, müssen sie ihr Lager mitten in der Wildnis aufschlagen. Harry nutzt die Zeit um, unterbrochen von Fieberschüben, nochmals über sein Leben zu sinnieren. Dabei fällt ihm auf, dass er seine Lebensgefährtin, die sich liebevoll um ihn kümmert, nicht mehr wirklich liebt, vielleicht nie wirklich geliebt hat, sondern lediglich aus Bequemlichkeit mit ihr zusammen ist und sich von der Witwe aushalten lässt, da sie einerseits gut im Bett ist und andererseits reich ist und nie eine Szene macht. Er hat das Gefühl von den Geiern bereits beobachtet zu werden und eine Hyäne schleicht, angezogen vom Geruch seiner Wunde, unentwegt um das Lager herum. Verschiedene Frauen aus seinem Leben fallen ihm wieder ein und Lebensabschnitte aus seiner Kindheit, aus dem Schwarzwald, aus Paris, aus den Alpen, aus Nordamerika und aus seiner Kriegszeit kommen ihm wieder ins Gedächtnis, u.a. eine Geschichte über einen Jungen, der jemanden erschossen hat und dafür ins Gefängnis musste, das aber nicht nachvollziehen konnte. Kurz gesagt: Ganz viele Erinnerungen, die für ihn immer das Potenzial zum Aufschreiben gehabt hätten, die er aber nie zu Papier gebracht hat, was er nun sehr bedauert. Dazwischen immer wieder wirre Gedanken und Dialoge mit Hellen.

Er bittet Hellen, die nicht an seinen nahenden Tod glaubt, ihn seine letzte Nacht im Freien verbringen zu lassen. Hellen jedoch lässt Harry, den sie fälschlicherweise im Schlaf wähnt, ins Zelt tragen. Harry macht sich noch allerlei Gedanken über den Tod, der sich ihm immer mehr zu nähern scheint, schläft aber dann doch ein. Am anderen Morgen kommt er zu sich und das Flugzeug, das ihm letzte Hoffnung auf seine Rettung verspricht, ist eingetroffen. Er wir verladen und der Flug beginnt. Allerdings steuert der Pilot schließlich auf den gleißend hellen Gipfel des Kilimandscharo zu.

Mit der Beschreibung dieses Gipfel und einem kurzen Abriss über den Kilimandscharo, der schneebedeckt sei, eine Höhe von 6000 Metern besitzt und als der höchste Berg von Afrika gilt, hat die Geschichte genau genommen eingangs begonnen: Die Einheimischen nennen seinen Gipfel „Das Haus Gottes“. Knapp unter dem Gipfel wurde das gefrorene Gerippe eines Leoparden gefunden, von dem aber niemand weiß, was der Leopard in dieser Höhe überhaupt wollte. Und Harry wird nun klar, was geschehen ist. Hellen wird an diesem Morgen durch das klagende Heulen einer Hyäne geweckt, schaut zu Henry und sieht, dass sein Bein aus dem Lager heraushängt und der Verband komplett abgewickelt ist. Sie kann nicht hinschauen und versteht nun, dass Harry tatsächlich tot ist.

Aber Hemingway wäre nicht Hemingway, wenn da nicht noch eine tiefsinnige Botschaft dahinter stecken würde. Was auf den ersten Blick eher als eine zusammenhangslose, verwirrende Geschichte, die den Fieberwahn von Harry widerspiegelt, angesehen werden kann, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung, als eine geniale Vernetzung von Leben, Genuss, Zeit, Erinnerungen, Bequemlichkeiten, Glaube, Hoffnung, Liebe und Tod. Jede noch so kleine Beobachtung und Randnotiz entpuppt sich für das Verständnis als essentiell wichtig. Obwohl die Geschichte ungewöhnlich kurz ist, trägt sie zu viel Information und Interpretation in sich, all dass man dies alles beim ersten Lesen erfassen kann. Sie ist allerdings kurz genug, als dass sie sich nach einem ersten Lesen und darüber Nachdenken problemlos nochmals lesen lässt.

Fazit: Obwohl „Schnee auf dem Kilimandscharo“ beim ersten Lesen als eine verwirrende, fast schon belanglose Geschichte erscheint, bei der der Leser kaum erfasst, wo die Handlung überhaupt hinführen soll, handelt es sich bei genauer Betrachtung um eine vielschichtige Auseinandersetzung mit Leben und Tod. Nicht umsonst hat sie völlig verdient Weltruhm erreicht. In vielen äußerst kurzen Sätzen teilt Hemingway detailreich seine Beobachtungen mit. Die wahre Bootschaft des Textes liegt allerdings verborgen zwischen den Zeilen und der Leser muss sie für sich selbst entdecken. Von meiner ganz persönlichen Warte aus gesehen, handelt es sich bei „Schnee auf dem Kilimandscharo“ um ein literarisches Meisterwerk.

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Veröffentlicht am 17.04.2021

Mittendrin bei der normannischen Eroberung Englands, statt nur dabei

Das zweite Königreich
3

Wie etabliert im Genre des historischen Romans, werden geschichtlich verbürgte Ereignisse mit einer fiktiven Handlung verwoben. In diesem Fall ist es die fiktive Geschichte des sympathischen Cædmon of ...

Wie etabliert im Genre des historischen Romans, werden geschichtlich verbürgte Ereignisse mit einer fiktiven Handlung verwoben. In diesem Fall ist es die fiktive Geschichte des sympathischen Cædmon of Helmsby dessen Höhen und Tiefen seines Lebens wir über die Zeitspanne von 2 Jahrzehnte hinweg begleiten dürfen. Sein Charakter ist dabei so vielschichtig, wie der aller anderen wichtigen Personen des Romans.

Klappentext:
"England 1064: Ein Piratenüberfall setzt der unbeschwerten Kindheit des jungen Cædmon of Helmsby ein jähes Ende - ein Pfeil verletzt ihn so schwer, dass er zum Krüppel wird. Sein Vater schiebt ihn ab und schickt ihn in die normannische Heimat seiner Mutter. Zwei Jahre später kehrt Cædmon mit Herzog William und dessen Eroberungsheer zurück. Nach der Schlacht von Hastings und Williams Krönung gerät Cædmon in eine Schlüsselposition, die er niemals wollte: Er wird zum Mittler zwischen Eroberern und Besiegten. In dieser Rolle schafft er sich erbitterte Feinde, doch er hat das Ohr des despotischen, oft grausamen Königs. Bis zu dem Tag, an dem William erfährt, wer die normannische Dame ist, die Cædmon liebt ..."

Der Klappentext gibt dem Leser eine erste kurze Idee, welch tolle Geschichte die Autorin um den Protagonisten Cædmon, seine Freunde und seine Feinde spinnt.
In dem wie immer bei Rebecca Gablé hervorragend recherchierten Roman geht es historisch aber nicht um Cædmon, sondern um das Leben des normannischen Herzogs William, genannt der Bastard. Er wird auf die Insel übersetzen, England erobern, zum König gekrönt werden und die normannische Herrschaft über England einleiten. Diese wird von Auseinandersetzungen mit den Dänen und Aufständen der englischen Bevölkerung geprägt sein. Und geben diese kurzzeitig Ruhe, brodelt es in seinem normannischen Herzogtum und er muss wieder zurück aufs Festland und dort für Ordnung sorgen. Auf grandiose Art und Weise gelingt es Rebecca Gablé mit ihrem flüssigen und spannenden Schreibstil einmal mehr, historische und fiktive Charaktere und Gegebenheiten in einem epischen "Historischen Roman" so miteinander zu verknüpfen, dass der Leser das Gefühl bekommt, mittendrin im Geschehen zu sein. Wie so oft bei ihren Büchern ist man von der Handlung so gefesselt, dass man den Roman am liebsten ohne jegliche Unterbrechung am Stück lesen möchte, was allerdings angesichts des Buchumfangs von 880 Seiten unmöglich erscheint.

Fazit: Für mich einer der allerbesten "Historischen Romane" insgesamt und wahrscheinlich der beste zur Eroberung Englands durch "William the Conqueror“, in dem das historische und fiktive Geschehen genial miteinander verschmelzen. Einmal mehr beweist Rebecca Gablé, dass sie völlig zu recht als die König dieses Genres bezeichnet wird.

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Veröffentlicht am 08.08.2023

Temporeicher Wissenschaftsthriller über globale Erderwärmung, Permafrost, Kipppunkte, Anthrax ... und Backpulver

Toxin
14

Kathrin Langes und Susanne Thieles jüngstes Werk „Toxin“ ist unverkennbar der Nachfolger zur überzeugenden und allseits gelobten „Probe 12“ und somit der zweite Band dieses Autorenduos. Bereits das Cover, ...

Kathrin Langes und Susanne Thieles jüngstes Werk „Toxin“ ist unverkennbar der Nachfolger zur überzeugenden und allseits gelobten „Probe 12“ und somit der zweite Band dieses Autorenduos. Bereits das Cover, welches wiederum mit der auffallenden Kombination aus Neon-Gelb-Grün und Schwarz aufwartet, sorgt für einen extrem hohen Wiedererkennungswert und ist stimmig zum Titel gewählt. Einmal mehr verbinden die beiden Autorinnen, wie schon beim Vorgängerband, auf grandiose Art und Weise mit ihrem wunderbar mitreißenden Schreibstil atemberaubenden Thrill und geladene Action mit wissenschaftlich fundierten und hervorragend recherchierten Fakten, die das aktuelle Zeitgeschehen intensiv aufgreifen.

„Toxin“ beginnt mit zwei zunächst recht sibyllinischen Zitaten von einerseits Miguel de Cervantes und andererseits einer Wortneuschöpfung der Inuit, deren Zusammenhang zum Geschehen sich dem Leser erst im Laufe das Buches in voller Tragweite erschließt. Ging es in „Probe 12“ noch um Phagen, beschäftigt sich „Toxin “ politisch wiederum hoch aktuell, mit Kipppunkten in der allseits diskutierten Klimaproblematik und mit der globalen Erderwärmung.

Wie wird diese Ausgangsbasis nun also in den Plot eines atemberaubenden Wissenschaftsthrillers gepackt? - In einer Rückblende um 10 Jahre wird dem Leser ein Vorfall im Arctic Village in Nordalaska geschildert, bei dem, bedingt durch die Erderwärmung, Teile des lokalen Permafrost auftauen, was schließlich einen Hangabrutsch größeren Ausmaßes bewirkt. Hierdurch kommen die Gebeine von Rentieren zum Vorschein, die wiederum gefährliche Milzbranderreger (Bacillus anthracis - kurz Anthrax) freisetzen, an denen mehrere Menschen versterben. Bei einem Zeitsprung ins „Heute“ lernen wir Gereon Kirchner kennen, der im Rahmen des vor Jahrzehnten ins Leben gerufenen Permafrosttunnel-Projekts in Alaska Proben solcher Milzbrandbakterien nehmen und aus ihnen zusammen mit seinem Geschäftspartner Mike Reed und seiner Mitarbeiterin Airi Young ein Mittel gegen Krebs herstellen möchte. In eben jenem Tunnel findet er überraschender Weise hochbrennbares Aluminiumpulver und trifft urplötzlich auf eine ihm bekannte Person.
„Klappe und Cut!“ - Wie immer bei Kathrin Lange und Susanne Thiele wird in den jeweiligen Kapiteln nie zu viel verraten, wodurch das Spannungslevel immer hoch gehalten wird, die konsequenten Cliffhanger mit anschließendem Szenenwechsel am Ende jedes Abschnitts und die Vielzahl von parallelen Handlungssträngen tun ihr Übriges hierzu. In einem dieser Stränge erfahren wir dann im weiteren Verlauf, dass Gereon Kirchner der aktuelle Lebenspartner von Nina Falkenberg ist, also der Heldin und Hauptprotagonistin aus „Probe 12“. Von Berlin aus, welches erst vor kurzem aufgrund der viel zu hohen Temperaturen und starken Regenfällen überflutet war, kann sie Gereon seit Tagen nicht erreichen. Darüber hinaus wirft die Presse die Frage auf, ob Gereon mit seiner Nutzbarmachung der Milzbranderreger für die Krebsforschung am ungeklärten Tod von Berliner Obdachlosen schuld sein könnte. Zusätzliche Spannung verspricht ein weiterer Handlungsstrang in welchem Nina Tom Morell, einen weiteren guten Bekannten und Helden aus dem Vorgängerband, bittet nach Alaska zu reisen und mehr über den vermissten Gereon herauszufinden. Dort angekommen, wird die Leiche einer Frau gefunden, in deren Tod möglicherweise Gereon involviert ist. Ferner wird von Klimaaktivisten und einflussreichen Gegenorganisationen, geschmierten Lobbyisten, großartigen Ermittlerteams und potentiellen Revolverhelden mit einer gemeinsamen Vegangenheit im Arctic Village die Rede sein – sowohl im fernen Alaska, als auch auch im hiesigen Berlin ist demzufolge permanent für Hochspannung gesorgt.

Viele offene Fragen werden somit bereits im ersten Drittel des Buches eindrucksvoll motiviert und so ganz nebenbei ein detailliertes wissenschaftliches Hintergrundwissen vermittelt. Im zweiten Drittel werden die zahlreichen Handlungsstränge dann spannungsgeladen weiterentwickelt und geschickt verknüpft und schließlich allesamt im letzten Drittel grandios und schlüssig miteinander verwoben und zusammengeführt ohne zu irgendeinem Zeitpunkt den roten Faden zu verlieren. Obwohl für den ein oder anderen Leser die klimapolitischen Aspekte des ersten Buchdrittels in ihrer Fülle vielleicht ein wenig zu sehr mahnend in den Vordergrund geraten mögen und hier und da auch ein paar kleinere Klischees bedient werden, ist es großartig, wie man als Leser Mosaiksteinchen für Mosaiksteinchen aus verschiedenen Perspektiven unmittelbar in die Ermittlungsarbeit auf beiden Seiten des großen Teichs eingebunden wird und der Wahrheit sukzessive immer näher kommt. Stets kann man sich sehr gut nicht nur in die Handlung, sondern auch in die jeweiligen Gefühlswelten der Hauptcharaktere, die treffend und facettenreich gezeichnet wurden, hinein versetzen. „Toxin“ ist somit ein faszinierender Pageturner mit einer rasanten Handlung und durchaus realem Narrativ, bei dem ein gründliches Nachwort ein überzeugendes Buch abrundet und dem Leser nochmals ungemein hilft, das gesamte Geschehen in jeglicher Hinsicht richtig einzuordnen.

Fazit: Genau wie sein Vorgänger ist „Toxin“ ein großartiger Wissenschaftsthriller, erfrischend und spannend vom Anfang bis zum Ende. Politisch aktuell und wissenschaftlich fundiert, korrekt und informativ, nimmt der Roman spätestens im zweiten Drittel hinsichtlich Action und Dynamik in der Handlung deutlich Fahrt auf, was sich schließlich zu einem atemberaubenden und schwindelerregenden Tempo entwickelt und in einem überaus beeindruckenden Showdown kulminiert. Kaum eine der 464 Seiten des Buches, auf denen sich nicht neue Konstellationen und für den Leser neue Blickwinkel ergeben, die durch die ständigen Cliffhanger und Szenenwechsel die Spannung ins Unermessliche steigern. Oftmals stellt sich genau dann, wenn man glaubt, die Lösung bereits unmittelbar vor Augen zu haben, heraus, dass man komplett falsch lag. Obwohl „Toxin“ völlig unabhängig von „Probe 12“ gelesen werden kann, ist es für diejenigen Leser, die beide Bände kennen, überaus gefällig, vertraute Bekannte treffen zu dürfen. Das auf mehreren Ebenen offene Ende deutet auf ein Fortsetzung hin, dann hoffentlich wiederum mit Nina und Tom als Protagonisten und viel Wissenschaft und Action eingewoben in eine schlüssige Rahmenhandlung. „Toxin“ hat mich von Beginn an abgeholt und auf eine spannende und fesselnde Reise nach Berlin und ins ferne Alaska mitgenommen. Bereits jetzt fiebere ich erwartungsvoll einem Folgeband entgegen.

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Veröffentlicht am 24.10.2022

Ein fulminanter "echter Gablé" über einen bedeutenden Abschnitt englischer Geschichte

Drachenbanner
15

Steht man inmitten einer Gemäldesammlung vor großartigen Bildern, kann man oftmals bereits auf den allerersten Blick erkennen, von welchem der herausragenden Künstler das Werk geschaffen wurde, ganz gleich, ...

Steht man inmitten einer Gemäldesammlung vor großartigen Bildern, kann man oftmals bereits auf den allerersten Blick erkennen, von welchem der herausragenden Künstler das Werk geschaffen wurde, ganz gleich, ob es beispielsweise ein Dürer, Rembrandt, Michelangelo oder Leonardo da Vinci ist. Bei historischen Romanen verhält es sich ganz ähnlich, hier wird allerdings zumeist Rebecca Gablé als das Maß der Dinge gesehen, insbesondere mit ihrer grandiosen Waringham-Saga oder der ebenso großartigen Helmsby-Serie. Der aktuelle Roman "Drachenbanner", der nunmehr 7. Waringham-Band, ist der unmittelbare Nachfolger von „Teufelskrone“ und – sofort erkennbar – in jeglicher Hinsicht, vom beeindruckenden Cover angefangen, über den Schreibstiel der Autorin bis hin zur gründlichen Recherche, ganz ohne Zweifel ein „echter Gablé“. Während „Teufelskrone“ sich mit Richard Löwenherz und dem teuflischen John Ohneland aus dem Hause der Plantagenets sowie der Magna Charta beschäftigte, ordnet sich „Drachenbanner“ geschichtlich nahtlos bei Johns ältestem Sohn, König Henry III. und dessen Sohn Edward sowie Johns jüngster Tochter Prinzessin Eleanor und ihrem historisch nicht gerade unbedeutenden Ehemann Simon de Montfort ein und umspannt den wichtigen Zeitraum der englischen Geschichte von 1238 bis 1265.

Der Bogen der fiktiven Handlung wird rund um Adela und Bedric erzählt und erinnert so ganz vage an sanft adaptierte Züge aus Shakespeares „Romeo und Julia“. Die beiden sind von Beginn an große Sympathieträger: Sie - von adeligen Stand und ausnahmsweise weiblicher Spross der Waringhams (Amabel und Yvain aus der „Teufelskrone“ haben übrigens auch kurze Gastauftritte), er - ein kerniger Naturbursche mit losem Mundwerk aus einer Leibeigenenfamilie. Die beiden sind am gleichen Tag geboren und Milchgeschwister, da Bedrics Mutter auch Adelas Amme war, und unzertrennlich, … bis zu jenem Tag, als Adela an den Hof von Prinzessin Eleanor entsandt und wenig später mit dem Adeligen Joshua of Meriden verheiratet wird. Adela und Eleanor verbinden vielerlei Eigenschaften und imponieren dem Leser durch ihren starken Charakter, ihr Selbstbewusstsein, ihre liebevolle und direkte Art und einen strategisch enorm weitsichtigen Blick, der vor allem bei Eleanor, geradezu zum Strippenziehen im Hintergrund verleitet. Bedric hingegen muss sich nach dem Tod seines Vaters mühevoll mit der Rolle des Leibeigenen herumschlagen, um Mutter Eldrida und Schwester Bertha kümmern, von seinem Stiefvater Wigot und Adelas ältestem Bruder Raymond drangsalieren lassen und beschäftigt sich mit dem Bogenbau und -schießen.
Allerlei Strapazen stehen den beiden und ihrer Liebe noch bevor und die Autorin investiert dieses Mal zu Beginn des Buches sehr viel Zeit in die fiktive Geschichte, in welche der Leser durch das behutsame Nahebringen aller Protagonisten mühelos hinein findet. Im Laufe des Buches rücken wir immer näher an die tatsächlichen historischen Geschehnisse dieser Epoche heran und wie immer gelingt es Rebecca Gablé die facettenreichen Charaktere sowohl ihrer fiktiven wie auch der geschichtsträchtigen Protagonisten so lebensnah und echt zu zeichnen und so geschickt miteinander zu verweben, dass der Leser das authentische Gefühl bekommt, dass die Fiktiven tatsächlich im Umfeld der Historischen gelebt haben und der Leser mittendrin den Protagonisten über die Schultern schaut. Überaus viel wird dem Leser auf den 928 Seiten des Buches geboten: vom Leben des einfachen armen Volkes, welches trotz Hungersnot und Seuche von seinem verschwenderisch bauwütigen aber schwachen König, der obendrein noch das Königreich Sizilien vom Papst für seinen Sohn Edmund kaufen und erobern möchte, extrem ausgepresst wird, über einen realen Blick auf beispielsweise das mittelalterliche London, den Provisions of Oxford, die jedem Menschen, auch den Leibeigenen Rechte verleihen sollen, dem zweiten Krieg der Barone, der Schlacht von Lewes, Simon de Montfort’s Parlament (dem Vorläufer des späteren House of Commons), bis hin zur finalen, schicksalsträchtigen Schlacht von Evesham mit all ihrer tragischen Konsequenzen. Und die fiktiven Charaktere um Adela und Bedric sind dabei zusammen mit dem Leser stets beeindruckend und zum Greifen nah in der historischen Kulisse mit dabei.

Darüber hinaus bringt die Autorin dem Leser viele geschichtlich bedeutende Persönlichkeiten jener Zeit nahe (neben den bereits oben genannten u.a. Richard of Cornwall, Henry d’Almain, Guillaume und Aymer de Lusignan, Thomas FitzThomas, Llewelyn ap Gruffydd), allesamt festgehalten im umfangreichen Personenregister. Zusätzlich zum - wie immer - flüssigen, emotional mitreißenden und ausdrucksstarken Schreibstil, gesellt sich dieses Mal auch eine überaus humorige Komponente hinzu und zu Beginn/Ende der einzelnen Abschnitte des Buches findet man wunderbare Zitate und Zeichnungen und zum Auffinden der jeweiligen Orte des Geschehens, sogar eine Karte über das relevante Gebiet von England und Wales. Ganz ohne Zweifel ist „Drachenbanner“ ein ganz großartiger Historischer Roman, der mit Gewissheit zu den besten dieses Genres zählt. Dennoch weißt er ein paar kleinere Schwächen auf. Auch wenn sich das Buch kontinuierlich steigert und spätestens in der zweiten Hälfte alle Erwartungen an einen „echten Gable“ voll und ganz erfüllt, kann das erste Drittel durchaus als ein klein wenig schleppend und zu sehr auf die fiktive Handlung konzentriert empfunden werden, die zudem immer mal wieder von flagranten Zufällen geprägt ist. In diesem Teil hätte Rebecca Gablé die historischen Details vielleicht bereits früher im Buch miteinbeziehen und mit der fiktiven Geschichte vernetzen können und die Zeitsprünge von jeweils vielen Jahren, in denen durchaus wichtige und interessante historische Ereignisse ausgespart wurden, etwas kleiner halten können. All das soll aber die große Qualität, einer von der riesigen Leserschaft und Fangemeinde der Autorin sehnsuchtsvoll erwarteten, großartigen Fortsetzung der Waringham-Saga, in keiner Weise schmälern. Ein beeindruckendes Nachwort mit zusätzlichen geschichtlichen Informationen und einer Einordnung des Geschehens runden das Bild eines faszinierenden historischen Romans ab.

Fazit: Unterm Strich hat Rebecca Gablé mit „Drachenbanner“ einen großartigen, lange ersehnten Waringham-Roman vorgelegt, bei dem fiktive wie auch historische Charaktere wunderbar herausgearbeitet wurden und der durch seine detailgenaue Recherche, historische Nähe und einen großartigen Schreibstil besticht. Wie bei allen Romanen dieser Serie, ist auch dieser in sich abgeschlossen und lässt sich vollkommen unabhängig von den übrigen lesen. Im Vergleich zu den meisten anderen Romanen dieses Genres würde ich ihn als herausragend bezeichnen, unter den zahlreichen Büchern der Autorin selbst würde ich es allerdings nicht unbedingt als das aller-stärkste ihrer Werke ansehen. Sein etwas offenes Ende hingegen schreit förmlich nach einer Fortsetzung, zeitlich hin zum ursprünglichen Beginn der Serie „Das Lächeln der Fortuna“. Für Anhänger des guten historischen Romans, die es genießen, das Leben einer ganzen Generation mit seiner gesamten Palette an Emotionen, Dramen, Liebe und Tod, Auseinandersetzungen Arm-Reich und sehr viel Tiefgang, eingebettet in einen umfangreichen geschichtlichen Hintergrund, mitverfolgen zu dürfen, stellt „Drachenbanner“ ein absolutes Muss dar - für echte Waringham-Fans ohnehin. Mit großer Spannung und Vorfreude sehne ich mich bereits jetzt nach dem nächsten großartigen Roman aus der Feder Rebecca Gablés.

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