Der Dreißigjährige Krieg wütet schon fast zehn Jahre, als er 1627 die Insel Rügen erreicht. Bis dahin hatte sich das Herzogtum Pommern, zu dem Rügen gehört, neutral verhalten. Doch nun fallen die kaiserlichen Truppen unter Wallenstein ins Land ein, und damit kommt Leid und Tod über die Menschen. Nach der Besetzung, die zu allem Übel auch noch von der Pest begleitet wird, bleiben allein in Bergen, im Zentrum der Insel gelegen, von 1650 Einwohnern im Jahre 1600 dann im Jahre 1630 nur noch 400 "übrig". Insgesamt schrumpft die Inselbevölkerung auf ein Drittel.
Schon im Prolog ihres Romans "Das Geheimnis von Stralsund" bietet Sabine Weiß davon eine erschütternde Kostprobe. Denn der Leser sieht sich unmittelbar hineingezogen in den Angriff auf das Haus einer Familie auf Rügen. Dort kämpfen Sina, ihre Mutter und Angehörige ihres Haushalts um das nackte Überleben, und alles scheint verloren...
Doch bevor der Leser erfährt, ob dies tatsächlich so ist, führt die Geschichte zunächst in friedliche Zeiten zurück. In denen wächst die junge Sina, von ihren Eltern wegen ihrer blauen Augen liebevoll "Eisvogel" genannt, behütet in einem Dorf auf der Halbinsel Mönchgut auf und hat eine besonders enge Bindung zu ihrer fünfjährigen Schwester Dorthie, die in ihrer erfrischenden Fröhlichkeit, Fantasie und Unbekümmertheit für alle ein "Himmelsgeschenk" ist. Gideon, das Familienoberhaupt, sorgt als Schiffer für das Einkommen der Seinen und zeigt viel Verständnis für Sinas Leidenschaft für Meer und Seefahrt. Die Mutter, Ebba, dagegen wartet bei jeder Reise ihres Mann unter Ängsten und Stimmungsschwankungen darauf, dass ihr Mann heil und gesund zurückkehrt.
Die 17-jährige Sina tauscht erste Küsse mit ihrem Jugendfreund Asmus, wartet vergeblich auf das Herzklopfen und ahnt, dass Asmus ihr zwar als ein Freund nahe steht, wohl aber als Ehemann nicht in Frage kommt, obwohl ihre beiden Familien davon ausgehen.
Dann kommen die kaiserlichen Truppen, und die Situation nach der "Einquartierung" der Soldaten ist bedrohlich. Als diese das Anwesen von Sinas Familie angreifen, muss Sina ihre sterbende Mutter im brennenden Haus zurücklassen und flieht mit der kleinen Schwester in einem winzigen Boot mitten hinein in einen Sturm auf der Ostsee. Nur dem Glück und Leif, Erster Steuermann auf dem Schiff des Trunkenbolds Pit Skaap, ist es zu verdanken, dass die beiden gerettet werden und nach Stralsund gelangen, wo sie sich auf die Suche nach David von Garlstorp begeben, wie es ihnen die Mutter mit ihren letzten Worten aufgetragen hat.
Doch Stralsund erweist sich auf Dauer nicht als sicherer Zufluchtsort. Die Hansestadt wird von den Truppen Wallensteins belagert, und in dieser umkämpften Zeit entscheidet sich nicht nur das Schicksal der dort lebenden Menschen, sondern auch das von Sina...
Mit ihrem Roman greift Sabine Weiß ein historisches Ereignis auf, das in die Annalen der Hansestadt Stralsund einging.
Ende 1627 droht Ungemach in der Gestalt des unter Befehl Wallensteins stehenden kaiserlichen Feldherrns Armin. Dieser will - nachdem der Herzog von Pommern unter Zwang die Einquartierung der kaiserlichen Truppen in seinem Land gebilligt hat, eine Garnison in der Stadt errichten, ohne die dafür erforderlichen Geldmittel aufwenden zu müssen. Da die Stadt dies verständlicherweise ablehnt, Armin die Belagerung ausruft, beschließt der Rat von Stralsund, seine Stadt zu verteidigen und ersucht zu diesem Zweck um Beistand von Dänemark und Schweden. Am 13. Mai 1628 sehen sich 1.000 Söldner und 1.500 Stralsunder 8.000 Mann der kaiserlichen Belagerungsarmee gegenüber und halten den ersten Angriffen stand. Ende Mai treffen die dänischen Schiffe ein. Nicht überall werden sie freudig empfangen. Hunger macht sich unter der Bevölkerung breit. Deshalb fordert eine Bürgerfraktion, dass den Kaiserlichen verhandelt und die Stadt an diese übergeben werden soll. Doch der Rat von Stralsund hält stand. Als Wallenstein einen Monat später Stralsund erreicht, ist die Belagerung immer noch nicht beendet. Erneut lässt er angreifen. Die Verluste auf beiden Seiten sind hoch, ganze Gräben mit Leichen füllen sich. Die Stadt befürchtet, wenn sie der Belagerung nicht mehr standhalten kann, von den kaiserlichen Truppen überrannt zu werden, was Gemetzel und eine kompletten Plünderung zur Folge hat. Deshalb kommt es zu einem Waffenstillstand und zu Friedensverhandlungen, die jedoch beendet werden, als die schwedischen Truppen eintreffen.
Nach mehreren vergeblichen weiteren Angriff scheitert Wallenstein und verlässt mit seinen Truppen Stralsund, die Stätte seiner ersten Niederlage. Die Hansestadt hat zwar erfolgreich Widerstand geleistet, doch bis 1814 bleibt sie unter schwedischer Herrschaft.
Vor diesem historischen Hintergrund, den die Autorin erkennbar intensiv recherchiert hat, entwirft sie in einem einprägsamen und anschaulichen Schreibstil eine dramatische Geschichte, die auf die Insel Rügen und nach Stralsund führt. Es entsteht ein faszinierendes Bild vom Leben der Menschen in Friedens- und Kriegszeiten. Die gelungene und eindrucksvolle Beschreibungen der örtlichen Gegebenheiten auf der Insel und in Stralsund werden unterstützt durch historische Karten, die auch dem ortsunkundigen Leser eine gute Orientierung und damit unter anderem die Begleitung der jungen Rüganerin Sina ermöglichen.
Sina ist klug und zeichnet sich durch einen energischen Willen aus. Sie hat Rückgrat, lässt sich nicht beirren, ihr Schicksal zu bestimmen. Dass sie nach dem schmerzhaften Verlust der Mutter für eine Zeit die Hoffnung verliert, ist realistisch und wird nachvollziehbar dargestellt.
Mit Leif begegnet dem Leser ein sympathischer junger Mann, der etwas im Leben erreichen will, nämlich selbst eines Tages Schiffsherr sein. Er ist durch die harte Schule seines Vaters gegangen und versucht, seine Pflicht gegenüber dem grausamen Trunkenbold Skaap und gegenüber der Mannschaft zu erfüllen. Überdies ist er fähig, den schmalen Grat zwischen Gehorsam und eigener Entscheidung auszuloten.
Zwischen Leif und Sina wird schon früh ein Band geknüpft. Leif hegt erste zärtliche Gefühle für sie, da kennt er noch nicht einmal ihren Namen. Ihre behutsame Annäherung ist angenehm beschrieben. Zudem hat Leif einen klaren Blick, der in die Zukunft gerichtet ist, so dass er auch Sina bewusst macht, nach dem Tod der Mutter und der Unsicherheit bezüglich ihres Vaters nicht länger in der Trauer zu verharren und nach vorne zu schauen.
Bei Unstimmigkeiten zwischen den beiden weitet die Autorin diese nicht über Gebühr aus und lässt ihre Protagonisten immer wieder einen Schritt auf den anderen zugehen und so zueinander finden. Denn sie haben andere Sorgen. Schließlich gilt es gerade für Sina, das Geheimnis zu lüften, für das sie nach Stralsund gekommen ist.
Sabine Weiß hat ihre Protagonisten bis hin zu den Nebenfiguren mit viel Leben erfüllt. Neben Sina und Leif, für die der Leser sofort Wohlwollen empfindet, sind es auch Gideon und Sten, der zu Gideons Schiffskindern (wie die Schiffsmannschaft genannt wird) gehört, die einem ans Herz wachsen und mit denen er mit bangt. Oder Menschen wie die Magd Marthe, die mehrfach von Söldnern missbraucht wird und es danach lange Zeit nicht absehbar ist, ob sie jemals ins Leben zurückfindet.
Andere dagegen erfahren eine differenzierte Zeichnung. David von Garlstorf, zu dem Ebba ihre Tochter geschickt hat und in dessen Hause Sina und ihre Schwester aufgenommen werden. Lange Zeit ist nicht klar, wie er einzuschätzen ist und welche Rolle er einnimmt. Die Geschwister Asmus und Sophie, beides Freunde von Sina, die im Verlauf der Geschichte eine Entwicklung nehmen, die sich in das Gegenteil ihrer anfänglich aufgezeigten Charaktere kehrt. Besonders Sophie weiß zu überraschen, legt sie doch zunächst eine Oberflächlichkeit und Realitätsferne an den Tag, die einen nicht für sie einnehmen. Im Laufe der Handlung lässt sie jedoch - auch auf Grund eigener Erfahrungen - eine gewisse Entwicklung erkennen, die als angenehm betrachtet werden kann.
Einen interessanten Platz in der Geschichte findet Stoffel, der verwaiste Sohn eines Söldners, der sich bei den kaiserlichen Truppen durchschlägt. Er ist vorwitzig und geradeheraus, stets hungrig, aber bei aller Benachteiligung wissbegierig und klug, so dass er schneller lernt als anderen. Das Leben in einer Kriegsarmee hat ihn geprägt, in der es nur um das nackte Dasein geht, und so sieht er zunächst nur seinen Vorteil. Dann aber wächst er über sich hinaus, und zwar als er ein Ziel hat, nämlich in naher Zukunft Schiffsjunge und damit Teil einer Mannschaft zu werden. Damit wird er zu einem kleinen Helden in der Geschichte, weil er mutig das eigene Leben für einen anderen Menschen riskiert.
Daneben nimmt man es als Leser nicht übel, dass es auch einige ausschließlich negativ gehaltene Charaktere gibt. Es breitet sich tatsächlich so etwas wie Erleichterung aus, dass diese wenigen Protagonisten keinerlei positive Eigenschaften erkennen lassen und sie nach Herzen verdammt werden können.
Die Einflechtung historischer Figuren ist wunderbar gestaltet. Neben Albrecht Wenzel von Wallenstein und seinen Feldherrn Hans Georg von Arnim-Boitzenburg hat auch Oberst Robert Monro, ein schottischer Söldner in dänischen Diensten seinen Auftritt. Ihm und seinen Aufzeichnungen Monro, His Expedition With the Worthy Scots Regiment Called Mac-Keys ist es unter anderem zu verdanken, dass die Autorin ein authentisches Bild von Stralsunds Belagerung wiedergeben kann.
Alles in allem offeriert Sabine Weiß dem Leser einen aufregenden Ausflug in den pommerschen Norden während der Zeit des Dreißigjährigen Krieges und beschert ihm damit ein unterhaltsames Leseabenteuer.