Wunder, Kuriositäten oder doch Objekt? - Eine außergewöhnliche Geschichte über die Zirkuswelt im viktorianischen England
Nell ist anders als die anderen. Zumindest wollen ihr das all die anderen Bewohner in ihrem armen Dorf im südlichen England weismachen, die sie meiden und wie eine Aussässige behandeln. Dabei ist sie eine ...
Nell ist anders als die anderen. Zumindest wollen ihr das all die anderen Bewohner in ihrem armen Dorf im südlichen England weismachen, die sie meiden und wie eine Aussässige behandeln. Dabei ist sie eine normale junge Frau, wären da nicht ihre außergewöhnlichen Muttermale:
"Ihr Gesicht sieht aus, als hätte jemand einen Pinsel genommen, vom Wangenknochen bis ans Kinn gezogen und anschließend viele braune Farbkleckse auf Gesicht und Hals getupft." (S. 16)
Eines Tages im Jahr 1866 zieht Jasper Jupiters Zirkus der Wunder in das kleine Dorf von Nell: Ein Highlight im sonst so tristen Alltag, denn die zahlreichen "Kuriositäten", besonders kleine und große Menschen oder eine Frau mit Bart, locken viele Zuschauer ins Zelt. Auch Nells Vater wird vom bunten Treiben angezogen und wittert ein Geschäft: Er verkauft seine Tochter für 20 Pfund als Leopardenmädchen an Jasper, den Impresario. Während dieser Verrat für Nell zunächst ein absoluter Schock ist, findet sie sich nach und nach im Zirkus zurecht und findet ein Zuhause, die erste Liebe und eine Familie. Schnell wird "Nellie Moon" zum neuen Star des Zirkus, doch das bringt ganz neue Herausforderungen mit sich.
Was wie eine bunte, frohe Zirkusgeschichte im Stil von "The Greatest Showman" klingt, ist ein sehr atmosphärischer Roman, der an vielen Stellen ziemlich düster ist. Es gibt drei Protagonisten, aus deren Sicht abwechselnd die Geschichte erzählt wird:
Nell, die vom "hässlichen Entlein" zu einem Rising Star heran- und über sich hinaus wächst. Eine insgesamt liebenswürdige Protagonistin, deren Weg ich gern verfolgt habe. An einigen Stellen ist sie mir jedoch zu wenig spür- und greifbar gewesen.
Jasper, der Impresario des Zirkus, der mit seiner Show noch bekannter werden möchte als der große P. T. Barnum, koste es, was es wolle. Für mich der interessanteste Charakter, denn seine dominante, kalte und berechnende Art hat ihn zwar durch und durch unsympathisch gemacht, gleichzeitig spürte ich eine merkwürdige Faszination.
Toby, Jaspers unscheinbarer, stiller Bruder, der sich stets in seinem Schatten zu bewegen weiß, jedoch ein Geheimnis mit sich rumzutragen scheint. Eine interessante Figur, bei der ich die ganze Zeit hoffte, dass er endlich zu einer eigenen Identität findet, losgelöst von seinem großen Bruder. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass er nach jedem Schritt vorwärts, drei zurück macht.
Die unterschiedlichen Sichtweisen dieser drei gottverschiedenen Charaktere machen dieses Buch sehr besonders, da wir Einblicke in die Absichten, Gedanken und Gefühle der Protagonisten erlangen, die sonst im Verborgenen geblieben wären. Dadurch bekommt der Leser an vielen Stellen eine dunkle Vorahnung, die manchmal sehr beklemmend ist.
Insgesamt ist die Erzählweise der Autorin jedoch durch verhältnismäßig wenig Introspektion geprägt, vieles kann man nur erahnen. So auch die Liebesbeziehung zwischen Nell und Toby, deren Anfänge für den Leser eher im Verborgenen bleiben, die eher schwer nachzuvollziehen ist.
Der Roman zeichnet sich durch seine lebendige und bildhafte Sprache aus, die gleichzeitig sehr faktisch scheint. Zudem weiß Elizabeth Macneal ihren ganz eigenen Weg mit ihren Figuren zu gehen, so war die Charakterentwicklung und vor allem das Ende völlig unerwartet für mich und hat mich im ersten Moment komplett schockiert. Nachdem ich es ein paar Tage habe sacken lassen, habe ich jedoch immer mehr verstanden, was die Autorin sich dabei gedacht haben könnte und empfand das meiste dann doch als passend. Positiv zu erwähnen ist auch die historische Einordnung als Nachwort, die die oft menschenverachtende Zurschaustellung von Personen mit besonderen Merkmalen zur damaligen Zeit thematisiert. Dies wird auch immer wieder in Gesprächen zwischen den Mitgliedern des Zirkus thematisiert: Ist es eine selbstbestimmte Arbeit? Mache ich mich zum Objekt? Große und tiefe Fragen, die mich sehr zum Nachdenken angeregt haben.
Insgesamt für mich ein Leseerlebnis der besonderen Art, das mir sehr nahe ging. Somit kann ich eine klare Leseempfehlung aussprechen für alle, die eine außergewöhnliche Geschichte im viktorianischen England mit Zirkus-Setting erleben möchten.
Vielen herzlichen Dank, dass ich bei dieser Leserunde dabei sein durfte!