Ein außergewöhnlich guter Roman
Als die Welt zerbrach"Als die Welt zerbrach" kann im Grunde als Fortsetzung oder "Spin-off" zu John Boyne's Bestseller Roman "Der Junge im gestreiften Pyjama" verstanden werden. Die zentralen Themen dieses Romans sind Schuld, ...
"Als die Welt zerbrach" kann im Grunde als Fortsetzung oder "Spin-off" zu John Boyne's Bestseller Roman "Der Junge im gestreiften Pyjama" verstanden werden. Die zentralen Themen dieses Romans sind Schuld, (fehlende) Aufarbeitung und auch die generationsübergreifende Last und Trauer, die sich aus einem weltbewegenden Trauma ergeben.
Es ist unglaublich fesselnd geschrieben und die Geschichte ist meisterhaft ausgearbeitet. Für mich ist "Als die Welt zerbrach" in jeder Hinsicht wie die große Schwester von "Der Junge im gestreiften Pyjama". Während letzterer auf bewegende Weise, aber durch Bruno's kindlicher Naivität und Unschuld das Grauen von Auschwitz betrachtet, ist diese Fortsetzung erwachsener, schonungsloser und eindringlicher als sein Vorgänger. Ich empfehle auf jeden Fall den "ersten Teil" vorher gelesen zu haben, da es doch viele Bezüge zu der Handlug gibt, die auch wichtig für das Verständnis beim Lesen sind.
Man folgt der Erzählung von Gretel Fernsby, einer wohlhabenden Mit-Neunzigerin, die im heutigen Mayfair ein geruhsames Leben als Witwe führt. Doch Gretel war nicht immer eine Fernsby. Einst hatte sie einen deutschen Namen getragen. Sie hatte einen einflussreichen Vater, eine wunderschöne Mutter, Bruno, ihren liebenswerten Bruder und sogar einen Schwarm, in den sie im zarten Alter von 12 ganz vernarrt gewesen ist.
Doch eines Tages war ihr Bruder verschwunden, der Führer besiegt, der Krieg verloren und Gretel fand sich in einer neuen Welt wieder, in der die Tochter des Teufels keinen Platz hatte.
Während sie versucht dem Chaos am Ende des zweiten Weltkrieges zu entkommen und gleichzeitig auch ihrer eigenen Schuld, wird sie immer wieder von den Erinnerungen an Auschwitz, ihre Eltern und ihrer tragischen Rolle beim Tod ihres Bruders eingeholt. Im Laufe ihres Lebens wird sie noch viele Namen tragen, doch keiner vermag sie von ihrer Trauer und den schwer-lastenden Schuldgefühlen zu befreien.
Erst als in der Wohnung unter ihr neue Nachbarn einziehen, scheint sie die Vergangenheit entgültig einzuholen. Es sind nämlich diese Nachbarn, die schöne und oh-so-unglückliche Madelyn, ihr in sich gekehrter kleiner Sohn Henry, der ihrem Bruder Bruno so ähnlich ist und der kaltschnäutziger Vater und berühmter Filmproduzent Alex, die sie schon bald in eine Lage bringen, in der sie sich mit ihren dunkelsten Geheimnissen auseinander setzen muss.
Stück für Stück und punktuiert setzt sich Gretel's Geschichte zusammen, während die Handlung gekonnt von der heutigen Zeitlinie, in eine bewegte und nomadische Vergangenheit springt, spitzen sich die Ereignisse zu, bis Vergangenheit und Gegenwart schließlich aufeinander prallen. Gretel hat eine kluge, einnehmende und auch kompromisslose Art, die mich sofort in den Bann gezogen hat. Gerade zu Anfang erinnert sie ein wenig an eine klassische Cosy-Crime-Heldin, die mit ihrer gemütlichen Art den bösen Machenschaften ihrer neuen Nachbarn auf die Schliche kommt.
Doch schon bald und je mehr man über ihre Vergangenheit erfährt, desto grauer wird ihr Charakter.
Besonders in den Nachkriegsjahren hat sie viele ihrer Schuldgefühle und Verantwortung unter der Decke ihres jungen Alters vergraben. Während der Ereignisse vom ersten Teil war sie gerade mal 12 Jahre alt, vielleicht 14 als der Krieg endete. Sie redete sich ein, sie habe nicht gewusst, was hinter dem Zaun vor sich ging, habe die NS-Indoktrination gar nicht so sehr verinnerlicht und auch generell nicht allzu viel von dem verstanden, was damals vor sich ging. Doch je tiefer man in ihre Vergangenheit eintaucht, umso klarer wird, dass sie sich die ganze Zeit in die eigene Tasche lügt. Die Erinnerung an ihren Besuch in Auschwitz an der Seite ihres Vaters und Kurt (ihres Schwarms), die Bestätigung, die sie von beiden gesucht hat, wann immer sie Gesten und Ideologien wiederholte, und schließlich das Wiedersehen mit Kurt Jahre später, waren für mich Schlüsselszenen, die verdeutlichen, dass sie doch sehr viel mehr von dem verstanden hat was passiert war.
Ich fand Gretel's Figur emotional enorm herausfordernd. Sie hat in mir eine verworrene Mischung hervorgerufen aus Sympathie für die alte Frau, die sie geworden war, Mitgefühl, für das was sie durchmachen musste (besonders in Paris) und Verachtung, wegen der Lügen, die sie sich selbst und anderen erzählt hat. Beispielweise war die Unterhaltung zwischen Gretel und Kurt in dem Café für mich unglaublich schwer zu lesen. Dieses eine Mal hat sie zugelassen, dass die Mauern von Lügen, die sie in ihrem Inneren errichtet hat, ein wenig Licht durchlassen und enthüllen, was tief in ihr verborgen lag. Boyne hat es geschafft, dass Gretel wirklich nie nur schwarz oder nur weiß geblieben ist, sondern hat immer genau so viel Information beigesteuert, dass man auf dem Drahtseil nicht auf einer Seite herunterfällt.
Auf die Handlung will ich gar nicht groß eingehen, nur dass der Schluss in meinen Augen sehr passend war. Ein Happy End ist nicht zu erwarten, genauso wenig wie es bei "der Junge im gestreiften Pyjama" zu erwarten war. Dafür hinterlässt einen dieser Roman aufgewühlt, emotional aufgeraut, vielleicht sogar ein wenig ruhelos, weil es für eine solche Geschichte einfach schwerlich ein "perfektes" Ende geben kann. Es gibt keine Gewinner, keine vollkommene Gerechtigkeit, keine Absolution.
"Als die Welt zerbrach" ist beileibe keine leichte Lektüre. Die Geschichte ist rau, einfühlsam und vielschichtig, gräbt sich tief in dei Gedanken- und Gefühlswelt seiner Leser und Leserinnen ein und lässt einen nicht so schnell wieder los. John Boyne ist ein Meister der Erzählung und hat sich in diesem Roman mit Geschick und Entschlossenheit den dunkelsten Aspekten der menschlichen Natur angenommen. Ein grandioses Buch und uneingeschränkt empfehlenswert!