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Veröffentlicht am 20.12.2022

Weltuntergangsszenarium in Fantasy verpackt

Hüter des Klimas
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Dass wir Menschen, oder besser gesagt die Riesenkonzerne dieser Welt, die sich einer gnadenlosen Gewinnmaximierung verschrieben haben, mit der willfährigen Unterstützung oder unter Instrumentalisierung ...

Dass wir Menschen, oder besser gesagt die Riesenkonzerne dieser Welt, die sich einer gnadenlosen Gewinnmaximierung verschrieben haben, mit der willfährigen Unterstützung oder unter Instrumentalisierung der großen Politik, die, wenn man genauer hinsieht, die gleichen Ziele verfolgt, unverantwortlichen Raubbau mit dem betreiben, was uns unser blauer Planet so großzügig schenkt, ist allseits bekannt. Wissenschaftler, Naturschützer, Umweltaktivisten etc. warnen seit Jahrzehnten, Klimakonferenzen werden unter großem Tamtam abgehalten, es wird diskutiert, nach Lösungsmöglichkeiten gesucht – und dennoch hat man nicht das Gefühl, der Lösung des die gesamte Menschheit und deren Überleben in der Zukunft angehenden Problems wirklich nähergekommen zu sein. Wenn man als Indikator beispielsweise nur die drei letzten Weltklimagipfel – COP 25 in Madrid 2019, COP 26 in Glasgow 2021, COP 27 in Scharm asch-Schaich 2022 – nimmt, dann fällt sofort auf, sofern man diese aufmerksam verfolgt hat, dass die Zahlen sich kaum oder gar nicht voneinander unterscheiden, dass die Forderungen gleichzeitig mit den Warnungen vor den Folgen bei Nichterfüllung sich gebetsmühlenartig wiederholen.
Außer Spesen – und dazu noch äußerst umweltschädlichen! - nichts gewesen? Inzwischen schmelzen die Gletscher nämlich munter weiter, verheerende Stürme mehren sich, die Temperaturen steigen ungehindert – und die großen Konzerne setzen, weiterhin sanktioniert von verantwortungslosen Politikern, ihr Zerstörungswerk fort, um sich die Taschen zu füllen, bis sie platzen! Oder überlaufen, um nach diesen Eingangsbetrachtungen endlich die Brücke zu schlagen zu dem hier zu besprechenden Buch 'Die Welt am Abgrund', dem dritten Band der Reihe 'Hüter des Klimas'. Genau so ist das hier nämlich: die Ozeane laufen über! Riesige Tsunamis haben sich an den Küsten des lateinamerikanischen Kontinents, auf dem die Geschichte spielt, ausgetobt (aber, obschon explizit nicht erwähnt, vermutlich nicht nur da, denken wir nur einmal zurück an die unglaubliche Reichweite des Tsunamis vom 26. Dezember 2004!), die großen Metropolen genauso wie die Städtchen bis hin zu den kleinsten Siedlungen an der Küste überflutet, mit sich gerissen in die ohnehin schon verseuchten Fluten der immer größer werdenden Weltmeere und Millionen von Menschen und Tieren den Tod gebracht. Die Welt steht buchstäblich am Abgrund! Kann man sie überhaupt noch retten?
Wäre dies eine reale Geschichte, dann müsste man spätestens jetzt jede Hoffnung begraben, denn die Überflutung der Küsten ist nur der Anfang. Sie hat eine Zündschnur entfacht, die sich weiter und immer weiter hineinfrisst in die Kontinente, die auch riesige, Jahrmillionen alte Gebirge, deren schützende Schneedecke längst nicht mehr da ist, kollabieren und das Leben an ihren Hängen und zu ihren Füßen auslöschen lässt. Eine wahre Apokalypse also! Das Ende der Welt steht unmittelbar bevor, niemand kann es aufhalten, denn so mächtige Lawinen sind nun einmal nicht zu stoppen, und nichts und niemand wird am Schluss übrigbleiben.
Doch haben wir es hier zu unser aller Glück mit einer Fantasy Erzählung zu tun – und in solchen Geschichten ist alles möglich, wiewohl die Hoffnung auf eine finale Rettung unendlich gering ist, ein winziger Funke nur, der am Ende dieses dritten Bandes bereits erloschen scheint, denn die große Widersacherin, das Monster Helena, die selbsternannte Hitzekönigin, die in den Hochöfen eines der Konzerne, die sich die komplette Zerstörung des südamerikanischen Regenwaldes zur Aufgabe gemacht haben, und die Erde mit tosender Hitze und mit Feuersbrünsten überzieht, hat die Schwanenprinzessin Fiona getötet, die von der Eisprinzessin Stella vom Planeten Urania auf die Erde gesandt wurde, um den Eiskristall des Eiskaisers Harald einem ihr unbekannten Mädchen zu übergeben, das als einziges Wesen auserwählt ist, damit die Welt zu retten, sprich, wieder ihre Balance herzustellen, Sommer und Winter, Sonne und Schnee, Hitze und Kälte miteinander ins Gleichgewicht zu bringen.
Nun, trösten wir uns vorerst damit, dass die leidgeprüfte Fiona nicht das erste Mal für tot und besiegt gehalten wurde – und dennoch immer dem ihr von Helena bestimmten Schicksal entkommen ist! Doch diesmal reicht aller Optimismus nicht aus, um sich auszumalen, wie sie denn die Ölpest, in der sie, so sieht es aus, ihr tapferes Leben ausgehaucht hat, jemals überleben kann. Aber – kann eine Autorin so herzlos sein, ihre liebenswerteste, bezauberndste, ganz und gar reine Protagonistin, der Hoffnungsstrahl per se, sterben zu lassen? Tja, um diese Frage zu beantworten, müssen die Leser sich bis zum Erscheinen des vierten Bandes gedulden...
Doch halt – da gibt es noch etwas, das den Funken der Hoffnung am Glimmen hält! Es ist nämlich das Gewissen des Herrn Pereira, Geschäftsführer des Stahlwerks South American Steel, das erwacht, als der bisherige Handlanger des Bösen, der Zerstörung, gezwungen werden soll, die Ureinwohner eines letzten Restchens heilen Urwalds niederzuschießen, um auch noch dieses winzige Paradies zu zerstören. Herr Pereira, zeitlebens Duckmäuser und Opportunist, entwickelt ungeahnten Mut und schreit bei einer Kundgebung des korrupten Präsidenten, der federführender Zerstörer seiner eigenen Heimat ist, seine Anklagen in die Welt hinaus, auf dass alle sie vernehmen – was ihm erwartungsgemäß nicht gut bekommt, womit aber ein Anfang gemacht wurde! Nichts nämlich fürchten Diktatoren so sehr wie negative Presse, oder, um es positiv auszudrücken, die Wahrheit, laut und furchtlos verkündet....
Man sieht, die Autorin hat mit ihrer Klimahüter-Reihe viel mehr als nur die übliche Fantasy zu einem die Guten dieser Welt bewegenden Thema ersonnen. Sie hat gleichsam eine Parabel geschrieben über die traurige Realität, diese aber mit schrecklicher, über die Maßen verstörender Konsequenz bis zum Ende gedacht. Und so wie die realen Hoffnungen auf den weltweit lauter werdenden Stimmen der Umweltbewussten, vorwiegend junger Menschen, denn ihnen gehört die Zukunft, ruhen, so lässt sie sie schwer lasten auf einer kleinen Handvoll Unentwegter, die so schwach und unbedeutend erscheinen im Vergleich zu den Mächtigen dieser Welt, doch in ihrer Reinheit und Uneigennützigkeit um so vieles kraftvoller sind – wenn es ihnen denn gelingt, direkt in die Herzen all der gepeinigten, ihrer Hoffnungen, ja ihres Rechts auf Leben beraubten Übriggebliebenen vorzustoßen! Seien wir gespannt darauf, ob und welchen Weg Valérie Guillaume aus ihrer Endzeitvision finden wird!

Veröffentlicht am 05.12.2022

Sommer mit Emmi

Emmi lügt
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Die sehr hübsche, durchaus realitätsnahe und überaus einfühlsame Geschichte – gewiss nicht nur für Teenager - beginnt damit, dass der vierzehnjährige Justus-Jonas (ja, er heißt in der Tat wie jener Junge ...

Die sehr hübsche, durchaus realitätsnahe und überaus einfühlsame Geschichte – gewiss nicht nur für Teenager - beginnt damit, dass der vierzehnjährige Justus-Jonas (ja, er heißt in der Tat wie jener Junge aus den 'Drei Fragezeichen'!), schüchtern und von geringem Selbstwertgefühl geplagt, vor ein paar Mädchen aus seiner Klasse in ein Damenbekleidungsgeschäft flüchtet – und dort von einem Ladendetektiv geschnappt und des Diebstahls einer Sonnenbrille bezichtigt wird! Völlig zu Unrecht, denn Justus tut so etwas nicht! Doch weder der Detektiv noch die flugs herbeizitierten, getrenntlebenden Eltern glauben ihm, was den Jungen zutiefst verletzt, mehr noch vielleicht, als die ungerechtfertigten Anschuldigungen. Gerade seine Eltern sollten ihn doch wohl kennen, nicht wahr? Die Strafe folgt auf dem Fuße und ist empfindlich, niederdrückend und natürlich gänzlich unfair: der Segeltörn mit seinem einzigen Freund Freddie in der letzten Woche der drögen Sommerferien, für ihn der einzige Lichtblick, wird ihm gestrichen. Da muss man sich schon ein wenig wundern über die wenig sensiblen Eltern, die kein allzu großes Interesse an ihrem Sohn und leider keine Ahnung von dem haben, was in ihm vorgeht, was ihn bedrückt. Es ist dies ein Eindruck, den ich bis zum Ende des Romans nicht revidiert habe, wovon ich aber auch nicht glaube, dass die Gleichgültigkeit seiner Erzeuger allzu große Bedeutung für Justus hat.
Wie dem auch immer sei, als Justus wenig später dem Mädchen begegnet, mit dem er auf dem Überwachungsvideo verwechselt wurde und das ihm, flüchtig betrachtet, tatsächlich ähnelt, zumal sie eine ähnliche Jacke wie die seine trug und ebensolche blonde Locken auf dem Haupte trägt, ist die Sache klar! Der ansonsten zurückhaltende Justus beschuldigt jenes Mädchen, das eben jene Emmi aus dem Titel ist, rundweg und fordert sie auf, die Sache seinen Eltern gegenüber klarzustellen, damit wenigstens der Segelurlaub gerettet ist.
Und damit beginnt eine ganz bezaubernde Geschichte voller bunter Bilder und ebensolchen Wörtern, erfunden oder tatsächlich existierend, die Emmi so sehr liebt, voller Phantasie, voller Träume und unverhoffter Erlebnisse, die man amüsiert, gerührt, aber auch betroffen und nachdenklich stimmend verfolgt – und in der Justus dank des Mädchens Emmi, der Wortesammlerin, das so ganz anders ist als alle Mädchen, die er kennt und insgeheim auch fürchtet, das ihn aufrüttelt, zornig macht und ihn damit aus seinem Dornröschenschlaf weckt, eine unerwartete Wandlung erfährt. Klar, an Emmi muss man sich auch als Leser erst einmal gewöhnen! Ihr Hinhalten verwundert nicht wenig, denn immer wieder gelingt es ihr, ihr Eingeständnis des Ladendiebstahls Justus Eltern gegenüber herauszuzögern; sie stellt seltsame Bedingungen, lässt den scheuen Jungen gar für sich 'arbeiten'. Ganz schön unverfroren, mag man als Leser denken! Dazu noch erzählt sie Geschichten, die offensichtlich frei erfunden sind, was Justus nur deshalb hinnimmt, weil er dringend und unbedingt mit Freddie die letzte Ferienwoche verbringen möchte, wobei auch die Angst mitspielt, der Freund könnte statt seiner einen anderen Klassenkameraden mitnehmen.
Doch ohne es eigentlich zu merken beginnt Justus allmählich, Freude an den langweiligen Ferien zu haben, Freude an dem Zusammensein mit dem selbstbewussten Mädchen, das über einen ihn wider Willen faszinierenden Einfallsreichtum verfügt, ihn regelrecht mitzieht, in Abenteuer verwickelt, vor denen er zurückgeschreckt wäre früher, als er Emmi noch nicht kannte, und ihm nicht zuletzt klarmacht, dass man, um Freunde zu finden, auch mal selber die Initiative ergreifen muss, anstatt gesenkten Hauptes am Rande zu stehen und sich einzureden, dass man für die anderen unsichtbar sei. Self-fulfilling prophecy? Fürwahr!
Aber nun, der Weg zur Erkenntnis ist manchmal steinig – und gelegentlich muss man über seinen eigenen Schatten springen. Das fällt Justus enorm schwer und ist erst dann möglich, als er nach einem heftigen Streit mit Emmi zufällig erfährt, dass das forsche Mädchen auch seinen Kummer mit sich herumträgt, den es bislang tapfer überspielt hatte. Und plötzlich versteht er, dass sie ihre 'Lügen', wie er ihre so amüsanten wie phantasievollen Geschichten nannte, brauchte, um einen Status quo aufrechtzuerhalten, auf den sie keinen Einfluss hatte und der längst zerbrochen war. Ja, und dann macht er ihr und gleichzeitig sich selbst das schönste Geschenk, das man sich vorstellen kann! Er schenkt ihr sein Vertrauen auf eine Art, die den kurzen, so liebenswerten Roman, den ich mit so viel Freude gelesen habe, zu einem wunderbaren Abschluss bringt und alle Hoffnungen für eine bunte und beglückende Zukunft in sich trägt....

Veröffentlicht am 05.12.2022

Eindringliche Botschaften gegen himmelschreiendes Unrecht

Unsre verschwundenen Herzen
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Die Welt, in der Celeste Ngs dritter Roman 'Unsere verschwundenen Herzen' (im amerikanischen Original 'Our Missing Hearts') spielt, ist erschreckend! Nach einer wirtschaftlichen Krise, auf die nicht näher ...

Die Welt, in der Celeste Ngs dritter Roman 'Unsere verschwundenen Herzen' (im amerikanischen Original 'Our Missing Hearts') spielt, ist erschreckend! Nach einer wirtschaftlichen Krise, auf die nicht näher eingegangen wird, die wie das bei Krisen nun einmal so ist, zu heftigen Unruhen führte und einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung die Lebensgrundlage entzog, ist vermeintlich Ruhe eingekehrt. Wie ist das geschehen, fragt man sich. Nun, es wiederholte sich etwas, das sich schon viele Male zuvor in der Geschichte der Menschheit ereignet hat – man fand einen Schuldigen, dem man die ganze Malaise aufbürdete, organisierte eine demagogisch clevere Hetzkampagne und verkündete gleichzeitig, dass man unbedingt wieder zurück müsse zu den Traditionen und Tugenden, die das Land – in vorliegender Geschichte die Vereinigten Staaten von Amerika – einst groß gemacht hatten. PACT wurde gegründet, der 'Preserving American Culture and Tradition Act'! Das klingt harmlos genug, denn schließlich ist es doch durchaus löblich, die eigene Kultur und die alten Traditionen hochzuhalten, nicht wahr? So mögen sich die Amerikaner, wie viele andere Völker vor ihnen, denen man mit solchen und ähnlichen Parolen eine Diktatur aufgedrückt hatte, die nur vordergründig das Leben der Menschen verbesserte, gedacht haben. Aber wie das Diktaturen nun einmal so an sich haben, war es nun vorbei mit der Freiheit! Jeder begann jeden zu bespitzeln, das Denunziantentum feierte also fröhliche Urständ – und scheint ohnehin im Menschen angelegt zu sein. Man muss es nur von staatlicher Seite sanktionieren. Jeder, der nicht ins System passt, hat Repressalien zu befürchten, jeder, der es wagt, eine Meinung zu äußern, die konträr ist zum verordneten Denken, genauso.
Aber kommen wir nun zu dem Roman, der mich ob seiner erschreckenden Realitätsnähe gehörig durchgeschüttelt hat und der mich auch noch nach beendeter Lektüre verfolgt, geradezu heimsucht! Die Hauptperson ist der 12jährige Junge Noah, der sich allerdings Bird nennt. Öffentlich darf er das zwar nicht mehr, dennoch bleibt er bei dem Namen. Bird ist Bird – und ich denke, das passt so, vor allem, nachdem man allmählich mehr erfährt über ihn und sein Heranwachsen mit den unzähligen Märchen und Geschichten seiner Mutter. Er lebt mit seinem Vater, einem ehemaligen Harvard-Dozenten, in einer winzigen Wohnung im Studentenheim in Cambridge. Ein sehr eingeschränktes Leben freilich, das von den ständigen Weisungen des Vaters geprägt ist, den Kopf geduckt zu halten, so wenig zu sagen, wie möglich, sich vorwiegend zu Hause aufzuhalten, unsichtbar zu sein in einem Wort. Es könnte brenzlig werden, wenn Bird, auf welche Art auch immer, auffallen würde. Der Grund dafür ist zum einen die Tatsache, dass seine Mutter chinesischer Abstammung ist – es sind also hier die Chinesen, die als Sündenböcke für alles Böse, das dem Land und seiner Bevölkerung widerfahren ist, herhalten müssen. Anklänge finden sich ja leider auch in der Realität, allzumal die Amerikaner eine Tradition haben, wenn ich das einmal so nennen möchte, im Wittern antiamerikanischer Aktivitäten. Man denke nur an die unselige Kommunistenhatz des vom Verfolgungswahn gepeinigten Senators McCarthy in den späten 40er und frühen 50er Jahren... Und zum anderen ist Birds Mutter, Margaret, vor einigen Jahren ins Visier der PACT-Hüter geraten und sah sich schließlich gezwungen, sich von Mann und Sohn zu trennen, um vor allem den Jungen zu schützen. Eine besonders perfide Maßnahme, die man ersonnen hatte, um aufmüpfige Eltern gefügig zu machen, ist es nämlich, ihnen in Nacht- und Nebelaktionen die Kinder wegzunehmen, um sie in systemtreuen Familien, Kinderheimen oder wo auch immer unterzubringen.
Es ist dieses Verbrechen, das den Hintergrund der Handlung bildet, das sie trägt und gegen das sich Unbekannte, Mutige, solche mit Zivilcourage mit merkwürdigen, doch stets aufsehenerregenden Aktionen zur Wehr setzen. Immer geht es darum, 'die verschwundenen Herzen' zurückzubringen, ein Synonym für all die gestohlenen Kinder. Diese Zeile aus einem völlig missinterpretierten Gedicht Margarets, somit auch der Hauptgrund für ihr letztliches Verschwinden, wurde zum Slogan derjenigen, die das Unrecht bekämpfen, im Untergrund, unerkannt. Schließlich macht sich Bird, der mit offenen, wenn auch bemüht niedergeschlagenen Augen durch sein reduziertes Leben schleicht, entschlossen auf die Suche nach seiner Mutter, über die sich sein Vater beharrlich ausschweigt. Was hat es mit ihrem Verschwinden wirklich auf sich, warum hat sie, die er so schmerzlich vermisst und an die er wunderschöne Erinnerungen bewahrt hat, die ihm einen Hauch jener Geborgenheit vermitteln, die er bei Margaret immer verspürte, ihn verlassen? Während er sie in New York sucht, begreift er langsam das Ungeheuerliche, in das sich eine ganze Nation erstaunlich willig fügt. Und als er dann seine zunächst seltsam verändert erscheinende Mutter endlich findet, die beiden zögernde Schritte aufeinander zu machen und Margaret immer weiter erzählt, von sich selbst, von Bird, von der Krise und dem, was danach kam, wächst ein neues Verständnis in ihm, Verständnis für seine Mutter, für das, was sie, die nie politisch war, bevor man sie an den Pranger stellte, bewegt und was sie kompromisslos und mit größtem Engagement verfolgt, nämlich all die verschwundenen Herzen, die ihren Eltern gestohlenen Kinder ausfindig zu machen. Er versteht, dass diese Kinder zurückgebracht werden müssen – und er vertraut seiner Mutter, die in einer so spektakulären wie für sie gefährlichen Aktion die unterwürfige Nation aufrütteln möchte. Botschaften dieser Art setzen sich in den Köpfen fest, werden weitergegeben – bis, und darauf hofft Margaret, eine Lawine ins Rollen kommt, die den Riss in dem System aus subtilem Terror, offenen Grausamkeiten, Denunziantentum und himmelschreiendem Unrecht, der haarfein ja bereits da ist, der Diktaturen von Beginn an anfällig dafür macht, zu einem riesigen Spalt machen und eines Tages das Ganze einfach zum Einstürzen bringen wird...
Summa summarum: Mit 'Unsere verschwundenen Herzen' habe ich etwas Außergewöhnliches, nämlich etwas außergewöhnlich Gutes gelesen! Etwas, das beileibe nicht alle Tage seinen Weg zu mir findet und das ich deshalb als Perle bezeichnen möchte. Es hält durchgängig sowohl inhaltlich als auch sprachlich sein hohes Niveau, hat beachtliche Tiefe, wenn man denn imstande ist, sie zu erkennen, gibt Denkanstöße, macht betroffen und nachdenklich, klingt nach, ist also genau das, was ich von einem anspruchsvollen Roman erwarte und worauf ich nach vorhergehender Lektüre der beiden ersten Romane der Autorin gehofft hatte. Dieser hier ist sogar noch besser, noch intensiver. Und trotz des beängstigenden – weil vorstellbar und, wie bereits erwähnt, schon dagewesen – Themas empfinde ich diesen Roman als ein einziges Lied der Hoffnung. Was für eine mächtige Parabel, in der harte Realität mit feinster, zartester Poesie einhergeht. Unvergleichlich! Genau wie alle Protagonisten, ausnahmslos, hervorragend sind, Leuchtpunkte in einer dunklen Welt. Ich bin begeistert – und das ohne jede Einschränkung!

Veröffentlicht am 27.11.2022

Mut, Ehrlichkeit und Loyalität

Anton Monsterjäger - Ein Traum auf der Flucht
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Seitdem sein einziger Freund Henry aus Helltoren, dem Ort, an dem die hier zu besprechende, rundum erfreuliche Geschichte spielt, weggezogen ist, ist Anton ziemlich einsam. In der Schule hat er keinen ...

Seitdem sein einziger Freund Henry aus Helltoren, dem Ort, an dem die hier zu besprechende, rundum erfreuliche Geschichte spielt, weggezogen ist, ist Anton ziemlich einsam. In der Schule hat er keinen leichten Stand, zumal ihm andauernd seltsame Missgeschicke zustoßen, die leider größere Folgen haben. Na, und dann sein Hobby! Anton baut mit Leidenschaft kleine Roboter zusammen, die allerlei Kunststücke beherrschen, anstatt sich so zu verhalten, wie Jungs das nun einmal zu tun haben. Dass er deswegen gehänselt und von dem großen Matthias, der einmal sein Freund war, bevor er von seinem Vater in den örtlichen Fußballverein gesteckt wurde, mit Wonne schikaniert wird, macht ihm das Leben auch nicht leichter! Nein, glücklich ist Anton sicher nicht.
Alles aber ändert sich mit einem Schlag, als er zu seinem 10. Geburtstag von seinem bewunderten Onkel Martin einen Schrank geschenkt bekommt, mit der Auflage, ihn keine Sekunde vor Mitternacht, dem Beginn seines Geburtstags, zu öffnen. So lange möchte der Junge aber nicht warten – und löst damit eine Reihe von Ereignissen aus, die ihn und mit ihm die jungen und genauso die nicht mehr ganz so jungen Leser 188 Seiten lang in Atem halten und während derer der ängstliche Anton, der sich für einen Versager hält und sich rein gar nichts zutraut, nicht nur erfährt, dass er, wie der verehrte Onkel auch, ein Monsterjäger ist, sondern mit Hilfe seiner Freunde schließlich über sich selbst hinauswächst und dem überaus gefährlichen Monster, dem er durch seine Neugierde in die Freiheit verholfen hat, den Garaus macht!
Doch noch ist es nicht soweit! Zunächst einmal wechselt Anton die Schule, nachdem er, natürlich unfreiwillig, denn solche Dinge passieren ihm nun einmal ohne eigenes Zutun, die Schultoilette unter Wasser gesetzt hat und sowieso sein Rausschmiss drohte. Nie hätte er geglaubt noch sich gewünscht, ausgerechnet in die Burgschule, in Helltoren als Freakschule verrufen, einzuziehen, die aber genau die richtige Schule ist für angehende Monsterjäger wie ihn , und die sich als wahrer Glücksfall erweist, denn hier findet er zum ersten Mal echte Freunde, die ihm zur Seite stehen und buchstäblich durch Dick und Dünn mit ihm gehen.
Von dieser Monsterjäger-Schule, die durchaus Ähnlichkeiten aufweist, mit dem allseits bekannten Hogwarts, so wie die Freundschaft der drei neuen Freunde Anton, Suna und Theo an das feste Bündnis Harry Potter – Ron Weasley – Hermine Granger erinnert, erfährt man nicht allzu viel, was aber keineswegs ein Manko ist in einem Roman, in dem vieles der Phantasie des Lesers überlassen bleibt, der aber nichtsdestoweniger voller origineller, so spannender wie amüsanter Einfälle ist. Gruselig geht es zur Sache, man ist hin- und hergerissen zwischen Erschrecken und Erleichterung, denn ein Ereignis jagt das nächste, kaum, dass man sich aufatmend zurückgelehnt hat. Doch hat die wunderhübsch illustrierte, actionreiche Geschichte auch zarte, tiefe Momente, voller Poesie, voller Weisheit und Freundlichkeit, die ein Licht werfen auf das, was zählt im Leben von kleinen und großen Menschen, von Monsterjägern und ganz normalen Jungen und Mädchen, in der Werte wie Anstand, Loyalität und Ehrlichkeit großgeschrieben werden, wodurch Antons Entwicklung so glaubwürdig erscheint. Helden dürfen Angst haben, dürfen sie auch zugeben, denn erst ihr Bezwingen macht wahres Heldentum aus. Das nennt man dann Mut! Und davon hat Anton zu seiner eigenen Überraschung eine ganze Menge!

Veröffentlicht am 04.11.2022

Unfreiwillige Zeitreise des Dichterfürsten

Goethes Labyrinth
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Im Laufe seines für damalige Verhältnisse recht langen Lebens (er wurde immerhin 82 Jahre alt) besuchte Goethe drei Mal das Fichtelgebirge, wobei ihn als leidenschaftlichen Naturwissenschaftler besonders ...

Im Laufe seines für damalige Verhältnisse recht langen Lebens (er wurde immerhin 82 Jahre alt) besuchte Goethe drei Mal das Fichtelgebirge, wobei ihn als leidenschaftlichen Naturwissenschaftler besonders das Felsenlabyrinth der Luisenburg bei Wunsiedel interessierte, für dessen Entstehung er später eine noch heute gültige Erklärung fand. Die erste dieser Reisen unternahm er im Jahre 1785; Wunsiedel war hier, nebenbei bemerkt, wie auch während der viel später folgenden Reisen nur ein Zwischenstopp auf dem Wege nach Karlsbad, wo er, zeitlebens ein Hypochonder, der sich wie viele seiner Art einer eher robusten Gesundheit erfreute, hoffte, seine vielen Zipperlein kurieren zu können.
Genau auf dieser ersten Reise begegnen wir dem zukünftigen Dichterfürsten in Sissy Scheibles zauberhaftem Roman mit Märchenelementen, am 3. Juli 1785, gedankenverloren im damals sehr unzugänglichen Felsenlabyrinth herumtappend, als er von einem heftigen Gewitter überrascht wird. Schutzsuchend beeilt er sich zu einem Unterstand, stolpert jedoch, fällt unglücklich und verliert das Bewusstsein. Was danach geschieht leitet eine so erheiternde wie spannende, ganz und gar im Fichtelgebirge, der Heimat der Autorin, angesiedelte Geschichte ein, von der man in der Tat, so wie es sich Sissy Scheible sicherlich gewünscht hatte, ein wenig traurig ist, wenn man sie zu Ende gelesen hat.
Wie der Klappentext bereits verrät, erwacht der berühmte Mann, der er schließlich einmal werden sollte – unsterblich freilich nicht für das, was er sich ersehnte -, der aber schon allseits bekannt war für die dichterischen Werke, die er in seinen 36 Lebensjahren verfasst hatte, in der Zukunft, im Jahre 2024 nämlich, das die Autorin aus einem ganz besonderen Grunde gewählt hat, den ein Leser, der selber in Wunsiedel ansässig ist, ziemlich schnell erraten mag... Zum Glück ist es Caroline, die zweite Protagonistin, die den gerade wieder zu sich Kommenden beim Wandern im Felsenlabyrinth findet, denn die junge Frau hat das Herz auf dem rechten Fleck und bleibt äußerlich gelassen, als der durchnässte, seltsam gekleidete und sich ungewöhnlich ausdrückende, so offensichtlich verwirrte junge Mann sich ihr als Johann Wolfgang von Goethe vorstellt. Resolut nimmt sie sich seiner an und ihn, natürlich nur vorübergehend, wie sie sich immer wieder sagt, in ihre kleine Wohnung auf, abwartend, dass sich sein Geist klärt und sowohl Wolfgang, wie er von ihr genannt werden möchte, als auch sie selbst wieder in ihr normales Leben zurückkehren können. Doch geschieht das nicht, wie der Leser bald erfahren wird, denn Wolfgang besteht auch weiterhin darauf niemand anders zu sein als der er sich vorgestellt hat: Goethe!
Und so nimmt eine rundum vergnügliche Geschichte mit vielen amüsanten Zwischenfällen ihren Lauf, während derer der Leser nicht nur den als arrogant und launisch bekannten Dichterfürsten von einer anderen, neuen, ungemein menschlichen und sympathischen Seite kennenlernt, sondern auch – durch Goethes Augen – einen neuen Blick auf das eigene, so selbstverständlich erscheinende Jahrhundert mit all seinen vielfältigen Problemen gewinnt, die im Übrigen - der einzige, winzig kleine Kritikpunkt - für meinen Geschmack zu stark thematisiert wurden, was aber den sehr positiven Gesamteindruck nicht zu schmälern vermag. Sehr einfühlsam, sehr authentisch und ausgesprochen liebevoll lässt die Autorin, die ganz unverkennbar den historischen Goethe gut kennt und ihn, was noch mehr ist, sehr mag, ihren Zeitreisenden die Wunder des 21. Jahrhunderts bestaunen, sich in einer gänzlich fremden Welt zurechtzufinden versuchen und ihn mit der ihm eigenen Wissbegierde nach Erklärungen für all die technischen Errungenschaften und Erfindungen suchen, die ihm allenthalben begegnen. Peinliche Situationen können dabei nicht ausbleiben, auch nicht Verzagtheit, Traurigkeit bei dem so verzweifelt um Verstehen bemühten Wolfgang, als er erkennt, dass er schließlich vor all dem Neuen, Unverständlichen, das ihm begegnet, kapitulieren muss. Allzumal es ihm nicht gelingen möchte, eine plausible, eine logische Erklärung für seine Zeitreise zu finden, die es dennoch, so sagt ihm seine stark ausgeprägte Ratio, geben muss.
Obwohl sich Wolfgang längst in die hübsche Caroline mit dem großen Herzen verliebt hat, sehnt er sich nach Zuhause, nach seiner Welt, seinem Jahrhundert – und setzt alles daran, einen Weg zurück zu finden. Am besten dort, wo alles seinen Anfang genommen hat. Und was dann schließlich geschieht, ist so überraschend wie logisch – obwohl sich der eine oder andere Romantiker unter den Lesern möglicherweise einen anderen Ausgang gewünscht hätte, was allerdings eine neue Geschichtsschreibung nötig machen und das bezaubernde Märchen endgültig ins Reich des Fantasy-Genres katapultieren würde...
Summa summarum: Großes Lob für die Autorin! Sie hat eine, was heutzutage leider nicht mehr selbstverständlich ist, sprachlich und grammatikalisch tadellose und gleichzeitig wunderschöne, herzliche, anrührende und durchweg humorvolle Geschichte rund um den Dichterfürsten geschrieben, die ihn herunterholt von seinem Sockel, ihn in seiner ganzen Sterblichkeit, mit all seinen Schwächen zeigt, seine Stärken dabei nie negierend, höchstens relativierend, hier und da, wo die posthume Heldenverehrung eine Mär um ihn gesponnen hat, der er, wer weiß das schon, vielleicht niemals gerecht werden konnte, noch wollte. Und nun ist es, hoffentlich nicht nur für die Verfasserin dieser Betrachtungen, sondern wünschenswerterweise für all die hoffentlich zahlreichen Leser, die Sissy Scheibles Geschichte finden wird, an der Zeit, Goethes Werke, wenigstens das eine oder andere davon, aus der hintersten Ecke des Bücherschrankes hervorzukramen, zu entstauben, um sie dann von Neuem und mit neuen Augen zu lesen und sich daran zu erfreuen!