Ein interessantes, aber nicht emotional fesselndes Buch
"Machtmenschen" ist ein Buch, das ein klares Anliegen hat. Die dystopische Welt, in der wir leben würden, wenn der Nationalsozialismus nicht untergegangen wäre, ist grausam, unmenschlich und selbst für ...
"Machtmenschen" ist ein Buch, das ein klares Anliegen hat. Die dystopische Welt, in der wir leben würden, wenn der Nationalsozialismus nicht untergegangen wäre, ist grausam, unmenschlich und selbst für die Angehörigen der "Herrenmenschen" nicht schön. Spuren von Macht und Machtmissbrauch sehen wir auch in unserer realen Gegenwart, wenn wir nur hinschauen. All das steckt in diesem Buch. Die Botschaft ist klar, eindringlich formuliert und mit einem deutlich erhobenen moralischen Zeigefinger präsentiert. Genau darin liegt leider das Problem, das ich mit diesem Buch habe.
Von der ersten Zeile an ist offensichtlich, dass Torunn Siegler die deutsche Sprache beherrscht wie kaum noch jemand heutzutage. Sie weiß, welche Emotionen Worte auslösen können, und schafft es, ihre geschriebenen Erzählungen durch geschickt gewählte Adjektive in Bilder umzuwandeln, die ganz bestimmte Assoziationen auslösen. Fünf verschiedene, aber vernetzte Einzelschicksale werden uns präsentiert, fünf verschiedene Perspektiven auf die Diktatur bekommen wir analysiert in einer Sprache, die eindringlicher kaum sein könnte.
Mit Heidrun haben wir eine Mutter, die zwar in ihrer emotionalen Flatterhaftigkeit nicht recht in das arisch-disziplinierte System zu passen scheint, jedoch trotzdem lange braucht, um ihre Augen für die grausame Realität zu öffnen. Bernhard, ihr Sohn, hat sich beinahe von Anfang an als Opfer des Systems gefühlt, hat sich selbst verloren, doch erst, als er sich wiederfindet, begreift er die Realität, die ihn umgibt, vollständig. Waltraud ist ein gutes arisches Mädchen, das aufgrund ihrer Blutslinie zwar zu den Herrenmenschen gehört, aber nicht zum deutschen Adel. Sie ist stolz auf sich, ihren Körper und ihr Können, doch auch ihre naive Sicht auf die Welt wird zerstört, als man ihr die Chance zum Aufstieg bietet. Der Zwangsarbeiter Bogdan wiederum lebt in einer ganz anderen Welt, für ihn ist die Grausamkeit der Diktatur Alltag, doch auch er hat damit zu kämpfen, seinen Glauben und die Realität in Einklang zu bringen. Und zu guter Letzt lernen wir Hedwig, Tochter von Goebbels und von Hitler selbst zur Führerin bestimmt, kennen, die schon 80 Jahre alt ist, aber noch immer entschlossen und zielstrebig auftritt. Von allen kennt sie das System am besten, so dass es kein Wunder ist, dass sie auch die Schwachstellen und Probleme am besten erkennt. Alle fünf Schicksale sind ausführlich erzählt, doch nur jenes von Bernhard konnte mich tatsächlich emotional rühren.
Wie der Titel schon sagt, geht es in diesem Buch um Macht. In meinem Studium der Politikwissenschaft bin ich unzähligen Theoretikern begegnet, die mit dem Begriff der Macht gearbeitet haben. Es gab zu allen Zeiten jene, die Macht verabscheut haben, und jene, die Macht für unabdingbar gehalten haben. Es gibt jene, die überall, selbst in den reinsten zwischenmenschlichen Beziehungen, Machtstrukturen und Machtgefälle entdecken. Macht ist dann am stärksten, wenn sie ohne Gewalt auskommt, was auch dieses Buch gut darzulegen weiß. Gerade in der Einrichtung der Ferienanlage sehen wir eine Machtdemonstration, die darauf ausgelegt ist, die arischen Menschen so glücklich über ihr eigenes Leben zu machen, dass sie vergessen, dass sie aktiv die Augen vor der Realität verschließen müssen, um glücklich sein zu können. Das ist orwell'sches "Doppeldenk" im besten Sinne. Wer nie zuvor intensiv über Macht nachgedacht hat, findet hier viel Neues.
Insgesamt 172 Anmerkungen ziehen sich durch den Text, zumeist Erklärungen zu Namen oder Abkürzungen, die belegen, wie gut recherchiert dieser Roman ist. Die Autorin selbst hat immer wieder erklärt, dass wenig von dem, was sie geschrieben hat, tatsächlich ausgedacht ist. Was sie hier erzählt, ist wirklich nur eine konsequente Weiterentwicklung diverser Pläne der Nationalsozialisten. Selbst die religiöse Unterfütterung der Politik mit nordischer Mythologie ist nicht weit hergeholt. Das liest sich sehr interessant, man fühlt sich oft genug an den eigenen Geschichtsunterricht erinnert, doch für mich persönlich ging es darüber nie hinaus.
So großartig komponiert die einzelnen Sätze auch sind, ich spürte von Beginn an die Ablehnung der Autorin für das System, das sie schildert. Das gesamte Buch ist durchzogen von sehr deutlichen Hinweisen, dass man das, was man liest, ablehnen soll. Als Leser muss ich nie eigene Denkleistung aufbringen, um zu diesem Schluss zu kommen, selbst das Innenleben der Figuren wird so intensiv geschildert, dass man jeden versteht. Dialoge, die hintersinnig und codiert daherkommen, weil die politischen Menschen einander misstrauen, werden dem Leser im gleichen Atemzug entschlüsselt, so dass sich nie ein triumphierendes "Ich habe verstanden, was sie eigentlich sagen" aufkommen kann.
Ein Buch wie dieses will ja eine Botschaft vermitteln. Es geht darum, die Gefahr einer Dystopie in leuchtenden Farben - oder eben auch in dem einheitlichen braun-grau-schwarz dieser Ideologie - zu zeichnen, um zu warnen. Eine solche Botschaft hat besonders das Schlagkraft, wenn der Leser sie aus sich selbst heraus erkennt. Schon in der Schule merkt das Kind, dass es sich jene Dinge problemlos merken kann, die es begreift, ohne ein Schulbuch auswendig lernen zu müssen. Und ebenso ist es im späteren Leben: Was als Erkenntnis zu uns kommt und ins uns gereift ist, vergessen wir niemals und das berührt uns, erhält genau dadurch genug Kraft, um uns langfristig im Handeln und Denken zu verändern. Das ist der Vorteil der Literatur gegenüber dem Sachbuch: Die Literatur hilft uns, unser Denken und unseren Horizont zu erweitern, indem wir durch geschickt gesponnene Geschichten selbst zu Erkenntnissen kommen, während das Sachbuch uns Dinge offen darlegt und erklärt. Ich hätte mir von diesem Roman gewünscht, dass er ein wenig mutiger gewesen wäre, seinen Lesern mehr eigenes Denken und Verstehen zugetraut hätte.
FAZIT:
Der dystopische Roman "Machtmenschen - Von Führern und Verführten" von Torunn Siegler ist eine spannende, im Sinne von interessante Geschichte darüber, was geschehen würde, wenn der Nationalsozialismus bis heute überlebt hätte. Die fünf Einzelschicksale sind ausführlich, aber bis auf eine Ausnahme in meinen Augen nicht emotional fesselnd geschrieben. Die Schattenseiten des modernen NS-Regimes werden nicht subtil, sondern mit erhobenem moralischen Zeigefinger erzählt.