Platzhalter für Profilbild

Annis22

Lesejury Profi
offline

Annis22 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Annis22 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 24.02.2023

Eine geheimnisvolle Siedlung von Einzelgängern

Wolfskinder
0

"Wer in der Stadt lebt, vergisst leicht, wie dunkel eine Nacht sein kann. Dass es Nächte gibt, die Straßen fressen, indem sie den Asphalt auflösen."

Eine kleine Siedlung, abgeschottet von der modernen ...

"Wer in der Stadt lebt, vergisst leicht, wie dunkel eine Nacht sein kann. Dass es Nächte gibt, die Straßen fressen, indem sie den Asphalt auflösen."

Eine kleine Siedlung, abgeschottet von der modernen Welt, die vielleicht gar nicht so religiös ist, wie sie vorgibt.
Eine Lehrerin aus der Stadt, die die falschen Fragen stellt.
Und eine junge Journalistin, die ihre verschollene beste Freundin auch nach zehn Jahren einfach nicht vergessen kann.

Vera Bucks Thriller-Debüt "Wolfskinder" hat mich direkt angesprochen und neugierig gemacht.
Sie vereint die Geschichten rund um eine sektenartige Zusammenkunft weit oben in den Bergen, die ihr eigenes Leben fernab der Bevölkerung führt und um die Aufklärung der übermäßig hohen Zahl an Vermisstenfällen in dieser Gegend.

Die Autorin schreibt dabei aus unterschiedlichen Perspektiven, sodass man als LeserIn schnell einen Einblick in die verschiedenen Charaktere bekommt und stets weiß, was sowohl auf dem Berg, als auch unten im Dorf bzw. in der Stadt geschieht.

Der Schreibstil ist leicht verständlich und gut zu lesen, man kommt problemlos in die Geschichte rein.
Buck hat eine sehr bildliche Sprache und schafft es, einen mit wenigen Worten an den jeweiligen Schauplatz zu bringen.

Die Story entwickelt sich sehr zügig und es entsteht rasch Spannung. Nach den ersten 150 Seiten weiß man immer noch nicht, wohin einen die Geschichte führt, es kommen anfangs mehr Fragen als Antworten auf.
Diese klären sich im weiteren Verlauf des Buches, vielleicht etwas zu offensichtlich, zumindest kam das Ende leider nicht sehr überraschend und ich hatte schon früh den richtigen Verdacht, wer der Täter sein könnte.
Auch gab es für meinen Geschmack etwas viele Zufälle in der Geschichte.

Nichtsdestotrotz ist es ein wirklich spannender Thriller, der einen auf über 400 Seiten den Atem anhalten und so gut wie keine Längen aufkommen lässt.
Ich empfehle das Buch jedem, der kurzweilige und nervenaufreibende Geschichten liebt, dabei jedoch keinen Tiefgang braucht.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 10.02.2023

Ein bedrückendes Erbe

Männer sterben bei uns nicht
0

"Für meine Großmutter war Nähe keine relevante Kategorie. Sie hatte kein emotionales Verständnis von Familie, sondern eher ein dynastisches, auch wenn das Wort zu pompös war für den Haufen, den wir darstellten. ...

"Für meine Großmutter war Nähe keine relevante Kategorie. Sie hatte kein emotionales Verständnis von Familie, sondern eher ein dynastisches, auch wenn das Wort zu pompös war für den Haufen, den wir darstellten. Sie wies jeder von uns einen Platz und eine Aufgabe zu, und wenn wir den Platz einnahmen und die damit verbundene Aufgabe erfüllten, lief alles glatt, wenn nicht, wurden wir aussortiert wie verschlossene Muscheln."

Annika Reich schafft in ihrem Roman "Männer sterben bei uns nicht" ein interessantes Familienporträt, in welchem der Anschein über allem steht; Gefühle dürfen nicht ausgelebt oder gar gezeigt werden, wichtig ist nur die Form zu wahren - und zwar jene, die Großmutter für das jeweilige Familienmitglied gewählt hat. Männer gibt es hier keine.

Erzählt wird die Geschichte aus Luisas Sicht, der vorgesehenen Erbin des Anwesens und spielt am Tag von Großmutters Beerdigung. Dabei erfahren wir durch Rückblenden nach und nach mehr über die Geschichte der "Dynastie", über die einzelnen Familienmitglieder und ihre Rollen. Nach und nach wird ersichtlich, wie jeder jedem misstraut und die jeweilige Position missgönnt.
Im Laufe des Buches dringen wir immer tiefer in die Gefühlswelten ein, die zu Lebzeiten des Familienoberhauptes nie offenbart werden durften, und erfahren, dass jeder auf seine eigene Art einsam und unzufrieden ist.
Luisa stellt sich die Frage, ob sie die Familientradition überhaupt wahren möchte.

Die Autorin hat einen wunderschönen Schreibstil, klar und doch irgendwie poetisch. Die Geschichte ist kurzweilig und zieht einen immer tiefer in ihren Sog. So kann man die etwa 200 Seiten gut an einem Stück durchlesen.

Ich empfehle das Buch jedem, der gerne Familiengeschichten liest und sich dabei besonders für die jeweiligen Personenkonstellationen interessiert. Es gibt keinen großen Plot oder ein überraschendes Geheimnis, doch die Geschichte kommt sehr gut ohne aus, weil die einzelnen Figuren und ihre Beziehungen zu Großmutter und zueinander so gut gezeichnet sind.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 05.11.2022

Frauen im Schatten des Trojanischen Krieges

Elektra, die hell Leuchtende
0

"Als ich geboren wurde, gab mein Vater mir meinen Namen. Er benannte mich nach der Sonne: die hell Leuchtende. So hatte er es mir erklärt, als ich noch klein war - ich sei das Licht unserer Familie."

Jennifer ...

"Als ich geboren wurde, gab mein Vater mir meinen Namen. Er benannte mich nach der Sonne: die hell Leuchtende. So hatte er es mir erklärt, als ich noch klein war - ich sei das Licht unserer Familie."

Jennifer Saints "Elektra, die hell Leuchtende" behandelt den Trojanischen Krieg aus der Sicht dreier Frauen, deren Schicksale miteinander verbunden sind:
Elektra, die nichts will, außer ihrem Vater Gerechtigkeit zu erweisen;
Klytämnestra, die vor Trauer und Wut um ihre ermordete Tochter ihre lebendigen Kinder vergisst;
und Kassandra, deren furchteinflößenden Visionen niemand Glauben schenken will.

Das Cover des Buches ist mir direkt in die Augen gesprungen: auf dunklem, mattem Hintergrund sieht man goldglänzend Elektra, die sich von ebendiesem abhebt und erstrahlt und somit ihrem Namen alle Ehre macht.

Die Geschichte an sich ist nicht neu. Wer sich mit der griechischen Mythologie auskennt, kennt auch die grundlegende Handlung des Romans. Was jedoch neu ist, ist die Erzählweise: Saint lässt die Frauen in den Vordergrund rücken und gibt ihnen eine Stimme, diesmal geht es nicht primär um die heroischen Taten der Krieger.
Die Autorin lässt uns durch die Ich-Perspektive tief in die Gedanken- und Gefühlswelten der jeweiligen Erzählerin (wechselt zwischen den drei Protagonistinnen) eintauchen, wodurch man gut mit ihnen mitfühlen und ihre Taten nachvollziehen kann. Jede hat mit ihrem eigenen Schicksal zu kämpfen und jede geht auf ihre Art damit um.

Saint hat eine wunderschöne Erzählart, mit wenigen Worten schafft sie es, den Leser in das mythische Griechenland zu versetzen.
Wer sich mit den Geschichten auskennt, der wird viele bekannte Namen wie Helena, Achilles, Odysseus, usw. hören und sich über die kleinen angedeuteten Legenden freuen; kennt man sich nicht aus, so wird man aber auch nicht mit Fragezeichen im Kopf zurückgelassen.
Einzig und allein die Familienkonstellationen der Protagonistinnen könnte für Neulinge verwirrend sein. Deshalb hätte ich mir einen Stammbaum oder eine Auflistung der Personen zum Nachschlagen gewünscht. Gerade wenn man das Buch nicht in einem Rutsch durchliest, kann man durch die vielen Namen aus verschiedenen Generationen, die teils nur einmal erklärt werden, durcheinander kommen.

Alles in allem ist es eine spannende Neuerzählung einer alten Geschichte, die sowohl für Kenner der griechischen Mythologie, als auch für Einsteiger absolut zu empfehlen ist und nochmal eine ganz andere Seite beleuchtet.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
Veröffentlicht am 12.03.2025

Mutiges Werk gegen die Unterdrückung

Menschenwerk
0

Gwangju (Südkorea), Mai 1980: Das Militär beendet eine Demonstration auf brutalste Weise.
Hinterbliebene, Verstorbene, Verhaftete berichten von ihrem Schicksal.
Dies ist ein Roman gegen Gewalt und Unterdrückung, ...

Gwangju (Südkorea), Mai 1980: Das Militär beendet eine Demonstration auf brutalste Weise.
Hinterbliebene, Verstorbene, Verhaftete berichten von ihrem Schicksal.
Dies ist ein Roman gegen Gewalt und Unterdrückung, ein Roman der Menschlichkeit.

Durch verschiedene Blickwinkel schafft es Han Kang den Gwangju-Aufstand (bzw. das -Massaker) ganzheitlich darzustellen. Beginnend mit der Perspektive des Jungen Dong-Hos, der die Leiche seines verstorbenen Freundes sucht, wechselt die Autorin zu einer Schwester, einer Mutter, einem Gefolterten und einigen anderen. Dabei bedient sie sich teils an interessanten kreativen Erzählformen, teils an konventionellen.
Jeder erzählt das historische Ereignis von einem anderen Blickpunkt aus und bringt somit noch neue Aspekte ans Licht. Obwohl sich das ganze Massaker “nur” über zehn Tage gestreckt hat, wird hier deutlich gemacht, dass es auch Jahrzehnte später noch Auswirkungen hat und Opfer fordert.
Der Roman konzentriert sich auf die Brutalitäten des Militärs und macht deutlich, dass bewusst keine Rücksicht auf Menschenleben genommen wurde. Hierbei ist es Han Kang gelungen, Worte für das Unaussprechliche zu finden.

Obwohl mir Einzelschicksale oft näher gehen als Berichte vom großen Ganzen, hatte ich Probleme, Zugang zu den Figuren zu finden. Es werden mehr Fakten als Emotionen vermittelt, die Wechsel zwischen Zeit und Figuren haben zusätzlich ein hohes Maß an Konzentration verlangt und für eine kurze Orientierungslosigkeit zu Beginn eines neuen Kapitels gesorgt.
Trotz der vielen Fakten erfordert der Roman einiges an Vorwissen und/ oder Recherche, um das Geschehen vollständig zu verstehen.

Vordergründig berichtet Kang über schreckliche Gewalt, die leisen Töne zwischen den Zeilen sprechen aber eine andere Sprache: Sie sprechen sich für Gerechtigkeit aus, dafür, wie viel Menschen bereit sind zu geben, um diese zu bekommen. “Menschenwerk” ist ein mutiges Plädoyer an die Menschlichkeit und gegen die Unterdrückung, welches erschüttert, aber auch Hoffnung schenkt. ⭐️3,5/5⭐️

Übersetzt von Ki-Hyang Lee

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 28.02.2025

Solider Justizkrimi

Der zweite Verdächtige
0

Jan Staiger soll einen Bekannten mit einer Überdosis Liquid Ecstasy umgebracht haben.
Er beteuert seine Unschuld und sein Strafverteidiger Rocco Eberhardt glaubt ihm.
Bis es ein zweites Opfer gibt und ...

Jan Staiger soll einen Bekannten mit einer Überdosis Liquid Ecstasy umgebracht haben.
Er beteuert seine Unschuld und sein Strafverteidiger Rocco Eberhardt glaubt ihm.
Bis es ein zweites Opfer gibt und erneut alle Spuren zu Staiger führen.

“Der zweite Verdächtige” ist der fünfte und letzte Justizkrimi vom Autorenduo Schwiecker und Tsokos. Wieder einmal überzeugen sie durch ihre nüchterne, unaufgeregte Erzählart und bauen mit kurzen Kapiteln und schnellen Szenenwechseln Spannung auf. Obwohl man als Leser*in weiß, dass Staiger unsch
uldig ist, fängt man mit Eberhardt an zu zweifeln und hofft ständig auf ein kleines Indiz, das auf die Lösung schließen lässt - doch tappt bis zum Schluss im Dunkeln.

Das Kernstück der Handlung ist die Gerichtsverhandlung, inklusive Eberhardts Verteidigungsstrategie und privaten Ermittlungen. Durch Florian Schwieckers Expertise sind diese Szenen besonders gelungen und für mich persönlich die größte Stärke der gesamten Reihe.
Die Rolle des Rechtsmediziners Justus Jamer ist erneut sehr klein - wer sich dafür interessiert, wird hier vielleicht enttäuscht sein.
Die Thematik ist diesmal nicht so außergewöhnlich wie bei den Vorgängern, dennoch nicht weniger brisant: Es geht um Homophobie und Machtmissbrauch im Polizeiwesen.
Die Auflösung ist zwar nicht unbedingt erwartbar, hat mich aber auch nicht überzeugt. Das Motiv des Täters ist nicht wirklich nachvollziehbar und etwas zu schwach für einen Doppelmord. Auch der letzte Twist ganz zum Schluss war für meinen Geschmack etwas drüber.

Dennoch kann ich “Der zweite Verdächtige”, genauso wie seine Vorgänger, all denjenigen empfehlen, die sich für spannende Gerichtsprozesse interessieren und nahbare Protagonisten mögen. ⭐️3,5/5⭐️

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere