Ein etwas anderer Western
Die tausend Verbrechen des Ming TsuIn diesem Buch ist der Held weder ein Cowboy, der einsam durch die Prärie reitet und die Viehherde vor sich hertreibt, noch ein Sheriff, der die Stadt gegen die bösen Viehbarone verteidigt. Nein, es ist ...
In diesem Buch ist der Held weder ein Cowboy, der einsam durch die Prärie reitet und die Viehherde vor sich hertreibt, noch ein Sheriff, der die Stadt gegen die bösen Viehbarone verteidigt. Nein, es ist ein Chinese. Chinesen wurden im 19. Jahrhundert zu abertausenden als billige Arbeitskräfte in die USA herangekarrt für den Bau der Eisenbahnen. Sie waren rechtlos, wurden verachtet und wenn sie auch nur andeutungsweise murten, wurden sie kurzerhand erschossen. Auf einen Chinaman mehr oder weniger kam es nicht an. Und nun wird solch ein Underdog zum Helden des Buches. Was seine Widersacher nicht ahnen, Ming Tsu ist ein Auftragskiller. Als eine Gruppe weißer Männer ihm seine weiße Frau rauben und ihn halbtot prügeln, wird Ming Tsu zu seinem eigenen Auftraggeber. Gnadenlos jagt er durch mehrere Staaten die Bande und tötet sie kaltblütig. Unterwegs schließt er sich eier fahrenden Zirkustruppe an. Das ist ein sonderbarer Zirkus, seine Mitglieder können merkwürdige Wunder vollbringen. Da passen Ming Tsu und der alte blinde Chinese genannt “Prophet” dazu. Unterwegs erschießt oder ersticht Ming Tsu noch einige Bandenmitglieder, aber auch andere, die zwar nicht zur Bande gehörten, aber ihren Tod nicht minder verdient haben. Ming Tsu hinterlässt quer durch die USA und durch das Buch eine blutige Spur. Vom großen Salt Lake in Utah durch Nevada bis hinunter nach Sacramento in Kalifornien, wo es zum letzten großen Showdown kommt, in bester Hollywood Manier. Eigentlich zelebriert Tom Lin jeden Mord den Ming Tsu verübt wie einen kleineren oder größeren Showdown.
Das nüchterne, trockene Narrativ nimmt uns gefangen, schon bald zählen wir nicht mehr mit, wie viele Menschen in diesem Buch sterben, es ist, als würde das Motto der weißen Machthaber umgedreht werden: “Auf einen Whiteman mehr oder weniger kommt es nicht an”. Und wir empfinden auch so, denn trotz allem ist Ming Tsu ein Sympathieträger. Und seine Morde sind erklärbar und eigentlich gerechtfertigt. In einem Land und in einer Zeit in der zuerst geschossen wird und danach nach dem Namen gefragt wird, tötet Ming Tsu nur aus Notwehr und Rache. Keine Habsucht, kein Raub-Motiv. In einem Land, in dem Waffenbesitz auch heute noch als Grundrecht aller (weißen) Bürger angesehen wird, wirft dieses Buch Fragen auf. Wie die alten weißen Männer wohl Tom Lins aufgenommen haben?