Versöhnt mit der Erinnerung an ein glückliches Gestern
„Das meiste spielt sich in unseren Köpfen ab. Die wildesten Vorstellungen werden nie Wirklichkeit. Das Radikalste, Schönste und Gewagteste steckt vor allem in unseren Köpfen, oder wir spüren es körperlich, ...
„Das meiste spielt sich in unseren Köpfen ab. Die wildesten Vorstellungen werden nie Wirklichkeit. Das Radikalste, Schönste und Gewagteste steckt vor allem in unseren Köpfen, oder wir spüren es körperlich, in der Gegend des Herzens.“
Inhalt
Maria sucht nach neun Jahren der Kontaktstille erstmals wieder das Gespräch mit ihrem Ex-Partner Vincent, der als Psychologe tätig war und ein Experte auf dem Gebiet der seelischen Notlagen. Sie vermisst den aus Sierra Leone stammenden Zeitungsjungen Ishmael, den sie vor sieben Jahren an ihrer Haustür kennengelernt hat und den sie fast wie einen eigenen Sohn bei sich aufgenommen hat und ihm ein besseres Leben zu schenken. Doch nachdem Ishmael seinen niederländischen Pass bekommen hat, verschwindet er ohne ein Wort des Abschieds aus dem Leben der 68-Jährigen, die sich nun ratlos und verlassen fühlt.
Vincent freut sich, die Stimme von Maria zu hören und sich mit ihren Sorgen um den jungen Flüchtling auseinanderzusetzen. Endlich ist es möglich, mit ihr auf neutraler Basis Gespräche zu führen, die sich bald nicht mehr nur um Ishmael drehen, sondern um die eigene vergangene Liebesbeziehung zwischen ihm und ihr. Denn damals hat Vincent Maria nach fünf gemeinsamen Jahren der heimlichen Liebe verlassen, weil er sich nicht mehr in der Lage fühlte, ein Doppelleben zu führen, ungeachtet der Tatsache, wie sehr er Maria liebte. Und auch Maria hat Nachholbedarf, sie möchte nicht nur verstehen, warum Ishmael gegangen ist, sondern auch warum sich dieses Verhaltensmuster bei ihr immer wiederholt. Und so agiert ein afrikanischer Flüchtlingsjunge als Katalysator für die Aufarbeitung einer intensiven aber aussichtslosen Paarbeziehung.
Meinung
Bereits vor einigen Jahren habe ich den Roman „Julia“ des niederländischen Autors Otto de Kat gelesen und durfte mich in eine beschwerte, unglückliche Liebesgeschichte einfühlen und auch mit seinem aktuellen Werk gelingt es ihm mit leichter Hand und viel Feingefühl die Verletzungen zweier Menschen im Verlauf ihrer Beziehung lebensnah und real erscheinen zu lassen. Und so ist „Freetown“ viel mehr eine Erzählung über Lebenswege, verletzte Gefühle und Enttäuschungen als eine vordergründige Geschichte um das Schicksal eines Flüchtlings.
Dennoch empfinde ich die Verflechtung dieser beiden Erzählstränge sehr gelungen, ja regelrecht innovativ, zumal sich in Marias Leben die Verhaltensweisen der Männer ähneln und sie gerade in fortgeschrittenen Jahren erfahren möchte, warum das so ist. Die gewählte Altersspanne, die der Autor hier aufgreift, ist ebenfalls nicht die naheliegende für eine Liebesbeziehung, denn die Protagonisten befinden sich beide in der zweiten Lebenshälfte und ihre Beziehung wird weder reaktiviert, noch hat sie das Leben der Betroffenen nachhaltig verändert. Denn sowohl Maria als auch Vincent haben sich dazu entschlossen die Liaison geheim zu halten, ihre jeweiligen Ehepartner lieber zu belügen und weitere Jahre gefangen in einem Käfig aus Gewohnheit und Routine zu verbringen, nur um sich für kurze Glücksmomente aus ihrem Alltag fortzustehlen. Dieser in meinen Augen kritische Weltbild, basierend auf Lügen und Verletzungen, scheint allerdings bei Vincent und Maria durchaus funktioniert zu haben. Beide haben sich eingerichtet und niemals stand die Debatte nach einer alles verändernden Neugestaltung ihrer beider Leben im Raum.
Die Besonderheit und Schönheit des Romans beruhen in weiten Teilen auf einer ansprechenden, gehobenen Sprache mit vielen tiefsinnigen Weisheiten, aus denen Erfahrung und Herzblut spricht. Der Autor liegt mit seinem Schreibstil genau auf meiner Wellenlänge, so dass mir beim umblättern immer wieder die Aussage auf der Zunge lag: „Ach, wie schön …“. Lediglich eine Raffung des Geschehens im letzten Abschnitt empfand ich zu überstürzt, einmal abgesehen von der Wendung, die viel zu schnell und endgültig den Text ereilte. Hier hätte ich mir 100 Seiten mehr Lesestoff gewünscht, um auch die Randpersonen eingebunden zu wissen und mich noch etwas länger in den Entwicklungen zu verlieren. Dieses Buch sollte man vielleicht auch mehrmals im Leben lesen, wenn man selbst in einem anderen Jahrzehnt steckt, denn manchmal hatte ich das Gefühl mit meinen 36 Lebensjahren, längst nicht die Erfahrungswerte der Protagonisten zu besitzen und ich könnte mir vorstellen, dass man die Belange mit 30 Jahren mehr Lebensweisheit wieder anders erlebt. Allein deshalb bietet dieser Roman einen Mehrwert, weil er eine andere Generation ins Zentrum des Geschehens stellt.
Fazit
Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen andersartigen Liebesroman, der viele Facetten von menschlichen Verhaltensweisen in den Raum stellt und sich in seinem Verlauf mit den Umständen des Lebens aussöhnt. Als Leser fühlt man sich integriert und auf Abstand gehalten gleichermaßen, man kann sich nicht verlieren in der Geschichte und sich auch nicht finden – beides tut dem Lesevergnügen jedoch keinen Abbruch. Etwas mehr Text, noch ein bisschen mehr Feingeist und dieses Buch hätte es in die Liste meiner Highlights geschafft, so habe ich es einfach nur gern gelesen und seine Aussagen wirken noch ein Weilchen nach. Von mir gibt es eine Leseempfehlung und den Autor behalte ich definitiv im Blick.