Beunruhigende Zukunftsvision
Seeing what you see, feeling what you feelDieser Jugendroman hat mich völlig fasziniert, auf gute sowie schlechte Art, gefesselt, schockiert, aufgewühlt, nachdenklich gemacht… selten hat mich je eine Geschichte überhaupt eine solche Bandbreite ...
Dieser Jugendroman hat mich völlig fasziniert, auf gute sowie schlechte Art, gefesselt, schockiert, aufgewühlt, nachdenklich gemacht… selten hat mich je eine Geschichte überhaupt eine solche Bandbreite der Emotionen durchmachen lassen; selten hat mich eine Hauptfigur so beeindruckt wie Lydia und wirkte dabei jedoch derart unsympathisch. Man kann es nicht anders sagen: Lydia ist eine geniale Hackerin, bei der von Anfang an ersichtlich ist, dass ihre Fähigkeiten sie rasch ins Kriminelle abgleiten lassen könnten und bei der man sicher sein kann, dass ihr in einem entsprechenden Verfahren ein „Offener Vollzug oder Bewährung, wenn du für uns arbeitest“-Deal angeboten werden würde; wenig überraschend entspinnt sich sehr frühzeitig im Hintergrund auch eine Art „Catch me if you can“-Strang, der diesen Eindruck verstärkt.
Die Künstliche Intelligenz, deren Entwicklung Lydia mit ihrem Vater begonnen und die sie nun völlig alleine abgeschlossen hat, erinnerte mich sehr an die Mecha aus Spielbergs inzwischen 20 Jahre altem „A.I. – Künstliche Intelligenz“, wobei jene aber schon in Figuren gepresst wurden: das von ihr nach ihrem verstorbenen kleinen Bruder Henry benannte Programm wirkt wie ein körperloser Mensch, was auch hier letztlich ein Problem darstellt, denn Lydia sehnt sich nach einem „echten“ Henry in ihrem Leben und auch die KI strebt mehr und mehr danach, vollauf am Leben teilhaben zu können. Dabei habe ich mich teils arg schwergetan, wie hochfunktional Lydias Künstliche Intelligenz war und wie rapide sie sich weiterentwickelt hat – mitunter habe ich da echt überlegt, ob es die Künstliche Intelligenz überhaupt gäbe oder ob Lydia nach dem traumatischen Unfall ihrer kompletten Familie nicht einfach in eine Psychose abrutschte… teils schien mir das alles sehr wie die Darstellung einer gespaltenen Persönlichkeit, denn auch wenn häufig darauf hingewiesen wurde, dass Henry, der sicherlich auch durch seine Körperlosigkeit sehr imaginär wirkte, die menschliche Komponente fehlt und sein Bewusstsein rein technisch wäre, hat das Programm die Menschen doch so sehr kopiert und sich an diese angelehnt auch eigenständig weiterentwickelt, dass dieser Unterschied zwischen KI und Mensch irgendwann gar nicht mehr auszumachen war und Henry eher wie Lydias toxischer, hochmanipulativer Partner wirkte. Allerdings war auch Lydia nun nicht der Prototyp des netten Mädchens von nebenan, da entstand schnell eine ungute Bonnie-und-Clyde-Dynamik, bei der es teils nicht so einfach auszumachen war, wer nun der skrupellosere Part war und wer/was die Grenzen der Moral wohin verschob. Da lohnt es sich durchaus, die Handlung aus einem ethischen Blickwinkel kritisch zu betrachten; mich hat dieser Roman zwar sehr gut unterhalten und er war auch sehr spannend, aber als reinen Unterhaltungsroman würde ich ihn definitiv nicht betrachten. Da wird zweifelsohne eine diskussionswürdige Thematik angesprochen: mit welchen Tabus sollte man eine KI programmieren; zu welchem Zeitpunkt geht sie zu weit, so dass man eingreifen sollte; wie schnell gerät eine Entwicklung ggf. außer Kontrolle und welche Mechanismen hätten es womöglich verhindern können, dass Lydia mit Henry auf die „wir Zwei gegen den Rest der Welt“-Bahn gerät? Denn über dieser Handlung schwebt ein riesiger Schatten der Vernachlässigung und Ignoranz und des Traumas einer ganzen Familie.
Ein sehr lesenswertes Buch, vor Allem in dieser Zeit, in der ChatGPT so klar auf dem Vormarsch ist.