Durst
DurstMein Interesse an den Büchern von Jo Nesbø fing 2013 mit dem Erscheinen von „Koma“ an. Dieses Buch klang so unglaublich spannend, dass ich es unbedingt lesen musste. Damals wurde mir gesagt:“Das ist eine ...
Mein Interesse an den Büchern von Jo Nesbø fing 2013 mit dem Erscheinen von „Koma“ an. Dieses Buch klang so unglaublich spannend, dass ich es unbedingt lesen musste. Damals wurde mir gesagt:“Das ist eine zusammenhängende Serie. Du musst mit dem ersten Buch anfangen.“ Also versuchte ich den „Fledermausmann“ zuerst zu lesen. Und ehrlich gesagt, blieb es bei einem Versuch, denn ich kam einfach nicht von der Stelle. Aber das Buch ging mir trotzdem nicht aus dem Kopf. Also gab ich Nesbø 2015 mit „Blood on Snow“ eine weitere Chance. Und verliebte mich. Dieses Buch war einfach so poetisch und geistreich, dass ich nicht anders konnte. Deswegen ignorierte ich dieses Mal einfach alle Warnungen und lernte Harry Hole in "Durst" kennen.
"Durst" regt zum Nachdenken an, ist hochspannend und es vermittelt neues Wissen. Also genau die Art Thriller, wie ich sie liebe. Der Einstieg in die Harry Hole Serie ist mir mit „Durst“ ohne Probleme gelungen und deswegen glaube ich, dass auch langjährige Fans von diesem Harry Hole Band begeistert sein werden.
Harry Hole, ein scheinbar von seiner Arbeit im Polizeidienst gebrochener Ex- Alkoholiker, hat sich vom Polizeidienst zurückgezogen, um bei seiner Familie sein zu können und zu unterrichten. Er kann sein Glück mit seiner Frau Rakel und ihrem Sohn Oleg nicht fassen. Verlustängste beschäftigen ihn. Die neu gewonnene Stabilität ist schwierig für ihn. Besonders als er mit einem Fall konfrontiert wird, weil seine ehemaligen Kollegen nicht ohne ihn zurecht kommen können und wollen. Er muss sich zwischen seiner Berufung zum Polizisten und seiner Familie entscheiden, doch er versucht für Beide gleichzeitig da zu sein und das tut ihm nicht gut.
Dieser Thriller erlaubt keine Realitätsflucht, denn er konfrontiert den Leser knallhart mit der Realität. Die Charaktere sind nicht perfekt. Ihnen stellt sich das Leben breitbeinig in den Weg. Und das Aufeinandertreffen der Charaktere und ihrer Leben sorgt für eine düster realistische Atmosphäre, die unter die Haut geht.
Der Schreibstil ist eindringlich. Ich empfand es jedoch manchmal als unglaublich schwierig weiter zu lesen oder mich zu konzentrieren. Nicht, weil es nicht spannend ist, sondern weil sich auf jeder Seite so unglaublich viele Ebenen Inhalt befinden. Ich musste mir einfach Pausen nehmen, um über das gelesene länger nachzudenken und es auf mich wirken zu lassen.
Da ist zum Einen die emotionale Seite. Philosophisch, ja, sogar poetisch werden die Innenleben der Charaktere erleuchtet. Besonders in den Gedanken Harry Holes wird diese poetische Philosophie deutlich.
„Die Zeit ließ sich nicht aufhalten, und Dinge ändern sich. Das Leben war wie der Rauch seiner Zigarette, der sich selbst in einem geschlossenen Raum bewegte und sich beständig auf nicht vorhersehbare Weise veränderte. Da sein Leben jetzt perfekt war, würde jede Veränderung eine Verschlechterung bedeuten. Ja, so musste es sein. Glücklich, wie er war, hatte er das Gefühl, über dünnes Eis zu laufen (…).“ S. 82
Harry Hole denkt viel über die Zerbrechlichkeit des Lebens nach und das ist auch verständlich, denn wie schnell kann es passieren, dass er wieder zum Alkoholiker wird und damit sich selbst verliert. Da er, durch seinen Beruf, auch viel mit Verlust konfrontiert wurde, ist ihm auch bewusst, dass er genauso schnell die Menschen um ihn herum verlieren kann. Diese poetische Nachdenklichkeit ist ansteckend und fesselnd. Wird Harry Hole heil aus diesem Fall herauskommen? Oder wird er ihn vollends zerbrechen?
Dann ist da natürlich der komplexe Thriller mit all seinen blutigen Details. Der Leser wird direkt mit dem polizeilichen Geschehen konfrontiert.
„Harry trat einen Schritt zurück, ließ die Szenerie, die Komposition, das Gesamtbild auf sich wirken. Erst dann machte er wieder einen Schritt vor und begann sich Details zu notieren. Die Frau saß auf dem Sofa, die Beine gespreizt, ihr Kleid war nach oben gerutscht und der schwarze Slip zu sehen. Der Kopf lag nach hinten gekippt auf der Sofalehne und die langen, blond gefärbten Haare hingen herunter. In ihrem Hals klaffte ein großes Loch.“ S. 144
Nicht nur die blutigen Einzelheiten der Tatorte werden beschrieben, sondern auch die politischen Konsequenzen, die diese Polizeiarbeit mit sich bringt. Außerdem macht die Presse den Polizisten ihre Arbeit schwer. Der Täter ist sehr gerissen. Sind es am Ende doch mehrere Täter? Und natürlich sind auch die persönlichen Schwächen der Charaktere einer einfachen Ermittlung hinderlich.
Und als letzte Ebene ist da die, wie ich sie nenne, wissenschaftliche Seite, wo dem Leser interessantes neues Wissen vermittelt wird. Der Täter benutzt Tinder, um seinen Vampirismus auszuleben und über diesen und über andere mit dem Fall in Zusammenhang stehende Dinge erfährt der Leser hier sehr viele interessante Fakten.
„Der Vampirist John George Haigh war vom Händewaschen besessen und lief sommers wie winters mit Handschuhen herum. Er hasste Schmutz und trank das Blut seiner Opfer nur aus frisch gespülten Gläsern.“ S. 262
Von Anfang an schwebt eine bedrohliche Atmosphäre über der Geschichte. Diese wird durch geschicktes Aneinanderknüpfen von Absätzen verstärkt. Aber auch die Brutalität und Blutigkeit der Taten, sowie die Abgründe der Charaktere tun ihr übriges. Harry Hole und der Täter liefern sich eine Katz-und-Maus-Jagd, die einzig in einem Showdown enden kann. Und was das für einer ist! Selbst wenn man, wie es mir passierte, den Täter nach der Hälfte des Thrillers kennt, lohnt es sich deshalb weiter zu lesen. Zudem schreibt Jo Nesbø so geschickt, dass man sich nie seiner eigenen Schlussfolgerungen ganz sicher sein kann.
Jo Nesbø hat mit „Durst“ einen großartig geschriebenen Thriller geliefert, der einen in seinen Bann zieht und selbst nach dem Lesen nicht los lässt. Sein Schreibstil macht süchtig, fesselt mit seiner Spannung und bezaubert durch seine melancholische Poesie. Ich möchte unbedingt mehr von Jo Nesbø lesen und kann „Durst“ nur empfehlen.