Nachhallend
Girl A„Girl A“ erzählt keine klassische Anfang-Verlauf-Schluss-Geschichte; dieser Roman ist achronologisch aufgebaut und wirkt dabei ähnlich zerbrochen wie die Figuren, von denen er erzählt. Im Fokus steht das ...
„Girl A“ erzählt keine klassische Anfang-Verlauf-Schluss-Geschichte; dieser Roman ist achronologisch aufgebaut und wirkt dabei ähnlich zerbrochen wie die Figuren, von denen er erzählt. Im Fokus steht das sogenannte „Girl A“, das, daraufhin zur Wahrung ihrer Anonymität als solches benannt, im Alter von 15 Jahren dem Elternhaus entkam, in dem ihre Geschwister und sie zwischenzeitlich seit Jahren gefangengehalten und von ihren Eltern, insbesondere dem immer mehr religiösem Wahn verfallenden Vater, misshandelt wurden – diese Vorgänge liegen in „Girl A“ bereits lange zurück, aus Lex, eben jenem „Girl A“, ist inzwischen eine in New York lebende Anwältin geworden, die nun nach dem Tod der Mutter, dem letzten gelebt habenden Elternteil, zurück nach Großbritannien reist, da diese sie testamentarisch betraut hat, den Nachlass abzuwickeln, der im Wesentlich aus dem inzwischen verfallenen „Horrorhaus“ besteht – Lex ist somit nicht nur gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen, was weiterhin mit diesem Haus geschehen soll, sondern dies auch mit ihren Geschwistern zu besprechen… an dieser Stelle hakte „Girl A“ für mich ein wenig, da erklärt wurde, dass die Kinder nach ihrer Rettung alle getrennt voneinander untergebracht und später vor Allem sämtlich adoptiert worden waren; für mich blieb es da etwas zu vage, wieso die Kinder hinsichtlich der leiblichen Mutter erbberechtigt gewesen sein sollten: Rührte das noch vom früheren Tod des Vaters her; hatte die Mutter sie nach und trotz all der Geschehnisse einfach weiterhin als Begünstigte benannt…? Wieso war das Haus nicht nach der Rettung der Kinder, z.B. zur Begleichung der Anwaltskosten, längst verkauft worden? Aber gut: die Opfer waren nun also plötzlich für den Tatort verantwortlich, und dieses Buch erzählt davon, wie Lex mit all ihren Geschwistern darüber reden muss, wobei sie mit der Erinnerung konfrontiert wird, dass sie sich auch in Gegenwart einer Therapeutin schon immer schwertat, über das zu reden, was ihren Geschwistern und ihr damals widerfahren ist.
Da schwenkt der Roman von Szenen der Gegenwart, in denen Lex hauptsächlich ihre Geschwister nacheinander aufsucht und in denen gezeigt wird, wie es jenen nach ihrer Befreiung weiterhin ergangen ist, zu Rückblenden, in denen Lex sich erinnert, wie sie vom relativ normal aufwachsenden Mädchen zum zunächst vernachlässigten und später zum eingesperrten und misshandelten Kind wurde. Es gibt übrigens keine auffallend bildhaften Darstellungen der Gewalt, die die Geschwister durchmachen mussten; hier scheint alles sehr vage durch und lässt letztlich zwar keinen Zweifel, aber man muss doch schon ein wenig aufmerksamer lesen, um das Grauen zu erfassen. Während des Lesens fand ich es zwar mitunter schwierig, weil mir alles teils so unklar geschildert zu sein schien und manches quasi über Nacht völlig extrem geworden war (wurde z.B. vorher zwar mal das zu wenige Essen und das Hungergefühl angesprochen, war eines der Kinder aber „plötzlich“ nicht „einfach nur“ hungrig, sondern buchstäblich bereits am Verhungern), aber im Nachhinein war das sehr geschickt gemacht, weil „Girl A“ eben spezifisch von Lex erzählte und man so eigentlich krass verdeutlicht bekam, dass bei ihr Verdrängungsmechanismen immer noch fleißig Rädchen drehten, und dass sie bestimmte Dinge/Situationen tatsächlich wohl gar nicht mehr erinnerte oder noch die mutmaßlich besseren Dinge im Gedächtnis hatte, wie der Vater der die Kinder auslachte, dass sie angesichts eines verfaulten Schimmel-Irgendwas tatsächlich glaubten, er würde sie zwingen, sowas zu essen. Oder dass ihr bestimmte Dinge letztlich gar nicht mehr auffielen, weil sie auf alle Geschwister zutrafen und sonstige Vergleichsmöglichkeiten inzwischen ja fehlten.
Spannend fand ich letztlich aber auch die Darstellungen der Geschwister, die allesamt grundverschieden waren und bei denen sich zeigte, wie hilflos die Geschwister auch im Umgang miteinander noch waren und dass alle sehr anders mit ihrer Herkunft umgingen bzw. dass sich teils auch zeigte, wie sehr man auch von den Eltern geprägt worden war.
Insgesamt ein sehr bedrückendes Buch, bei dem man, nicht zuletzt im Wissen, dass es derlei Befreiungsschläge schon gegeben hat und dass die hier geschilderten Verhältnisse durchaus Realitäten entsprechen, auch nicht umhinkommt, sich zu fragen, was passiert und wie es endet, wenn niemand entkommen kann.