17. Jh. Westerwald. Ernestine von Sayn und Wittgenstein verlebt eine behütete Kindheit auf der elterlichen Burg Freusburg, bis ihr jüngerer Bruder und einzige Erbe des Titels und der Grafschaft stirbt. Gemeinsam mit ihrer verwitweten Mutter, Gräfin Louise Juliane, muss sich Ernestine nun so manch mächtigen Gegner entgegenstellen, die alle nur eines im Sinne haben, ihnen den Anspruch auf die Grafschaft streitig zu machen. Dabei ist es nicht nur die eigene Verwandtschaft, auch andere Kurfürsten haben es auf den Landstrich abgesehen und glauben sich den Frauen überlegen. Gräfin Louise und Ernestine sehen sich großen Herausforderungen gegenüber, die ihnen nicht nur Hunger, Gefangenschaft und Flucht mit unvorhersehbarem Ausgang bescheren…
Annette Spratte hat mit „Die Tochter der Hungergräfin“ einen sehr unterhaltsamen historischen Roman vorgelegt, der sich am wahren Leben der Gräfin Louise Juliane orientiert und Realität mit Fiktion wunderbar zu vermischen weiß. Der flüssige und bildgewaltige Erzählstil lässt den Leser mit den ersten Zeilen eine Reise in die Vergangenheit antreten, wo er für die Jahre von 1636 bis 1652 an Ernestines Seite steht, die die Erlebnisse dieser Zeit aus ihrer Sicht schildert und dem Leser so auch einen guten Einblick in ihre Gedanken- und Gefühlswelt gewährt. Spratte hat gut recherchiert und verbindet den historischen Hintergrund hervorragend mit dem Leben der beiden Gräfinnen von Sayn und Wittgenstein und deren Kampf um ihr Erbe sich während des 30-jährigen Kriegs abspielte. Sowohl die Flucht der Familie auf die Hachenburg als auch das gewaltsame Aushungern sind ebenso bildhaft beschrieben wie die damaligen Lebensverhältnisse, die der Leser während der Lektüre lebendig vor Augen hat. Ernestine, die bis zum Tod ihres Bruders ein beschauliches Leben geführt hat, muss sich völlig neu orientieren und schnell erwachsen werden in diesen gefährlichen Zeiten, in der auch die Rolle der Frau als Ehefrau und das Führen des Haushaltes begrenzt zu sein scheint. Spratte gelingt es, ihre Handlung spannend und unvorhersehbar zu gestalten und ihre Hauptcharaktere als starke Persönlichkeiten darzustellen. Dem Leser wird nicht nur Einblick in eine vergangene Zeit gestattet, sondern während der Lektüre auch ein tolles Kopfkino spendiert.
Die Charaktere sind lebendig und glaubwürdig ausgestaltet und in Szene gesetzt. Der Leser fühlt sich ihnen schnell verbunden und folgt ihnen auf Schritt und Tritt, um ihr Schicksal hautnah mitzuerleben. Louise Juliane ist eine starke und mutige Frau, die sich nicht unterkriegen lässt, einen festen Glauben hat und sich ihrer Verantwortung für ihre Familie und ihrer Untertanen voll bewusst ist. Sie lässt sich nicht bevormunden und besitzt genügend Hartnäckigkeit, ihr Vorhaben nie aus den Augen zu lassen. Ernestine wirkt zu Beginn verwöhnt, die Ereignisse lassen sie schnell reifen und zu einer großen Stütze ihrer Mutter werden. Aber auch Ernestines kleine Schwester Johannette sowie weitere Protagonisten bereichern die Handlung mit ihren Episoden.
„Die Tochter der Hungergräfin“ ist ein unterhaltsamer historischer Roman vor dem Hintergrund des 30-jährigen Krieges, der neben einem spannenden Erbstreit vor allem zwei starke Frauenrollen präsentiert, die ihren Mut, ihre Menschlichkeit und ihr Geschick trotz gefährlicher Widerstände nie verloren haben. Absolute Leseempfehlung für alle Geschichtsliebhaber!