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Veröffentlicht am 07.09.2024

Klassischer Whodunit mit unbefriedigendem Ausgang

Der Todeswirbel
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Ihren 38. Kriminalroman, der im englischen Original unter dem Titel "Taken at the Flood" veröffentlicht wurde, lässt Agatha Christie – wie gewohnt – im ländlichen England und direkt nach dem Zweiten Weltkrieg ...

Ihren 38. Kriminalroman, der im englischen Original unter dem Titel "Taken at the Flood" veröffentlicht wurde, lässt Agatha Christie – wie gewohnt – im ländlichen England und direkt nach dem Zweiten Weltkrieg spielen. Letzteres wiederum ist ungewohnt, ebenso wie die Tatsache, dass die Autorin, deren Charaktere, wie auch in vorliegender Geschichte, gewöhnlich der britischen Oberschicht angehören, die zwar allerhand Probleme haben, sich finanziell aber nie beklagen können, diesmal so deutlich hinweist auf die Unbillen der Nachkriegszeit, wie Nahrungsmittelknappheit, neue, das Leben erschwerende Gesetze, fehlende Arbeitsplätze, die auch die Begüterten und Privilegierten des Landes zu spüren bekamen. Der realistische und nicht geschönte Hintergrund, den sie entwirft, ist schließlich auch verantwortlich für das, was den Charakteren in der zu besprechenden Geschichte widerfährt und was sich mutmaßlich niemals zugetragen hätte, hätte der Krieg sie nicht aus ihrem behaglichen, sorgenfreien Leben herausgerissen...

Aber da sind sie nun, die Mitglieder der Familie Cloade aus Warmsley Vale, ihres Oberhauptes Gordon beraubt, der bei einem Bombenangriff, genauer gesagt dem „Blitz“, in London ums Leben gekommen war und von dem alle finanziell abhängig waren, auf den sich alle in jedweder Notlage verlassen konnten – ermutigt von ihm, dem Patriarchen Gordon höchstpersönlich!

Zum Leidwesen der Familie allerdings überlebte seine junge Frau Rosaleen, eine Witwe, die er kurz zuvor – man kann sich die Empörung von Gordons nichtsnutzigen Verwandten vorstellen! - ganz unerwarteterweise geheiratet hatte. Das schöne Geld – futsch! Denn Gordons Witwe ist nun mal die Alleinerbin – was so schlimm nicht wäre, denn die lässt sich, naiv und liebenswürdig, wie sie ist, leicht anpumpen, was die übrigen Cloades auch ohne Skrupel versuchen. Leider jedoch gibt es da einen gewissen David Hunter, ein zwielichtiger Abenteurer, voller Wut, voller Hass auf die Cloades – und der ist Rosaleens Bruder und wild entschlossen, seine Schwester von den Schmarotzern, als die er sie empfindet und die sie auch sind, wenn wir ehrlich sein wollen, zu schützen. Die Verzweiflung der feinen Familie, von denen jeder einzelne aus den unterschiedlichsten Gründen dringend Geld braucht, kann man sich vorstellen! Und dass da jemand von ihnen – oder allesamt? - Pläne schmieden, sich Rosaleens zu entledigen, auch!

Die Atmosphäre ist zunehmend angespannt, man kann es fühlen – wie immer, wenn die Meisterin der subtilen Spannung, die man unter einer glatten Oberfläche erahnt, am Werk ist.... Und da sie ebenso bekannt ist für überraschende Wendungen, kleine, gemeine Fallen und eine ganze Reihe falscher Spuren, lässt sie einen geheimnisvollen Fremden in Warmsley Vale auftauchen, einen gewissen Enoch Arden, dessen Namen sie Alfred Tennysons Versepos mit dem gleichen Titel, an dessen Handlung sie sich zudem orientiert, entliehen hat. Und jener Fremde deutet an – man hört förmlich die kalten Herzen der Cloades höher schlagen! - ,dass Rosaleens erster Mann, Robert Underhay, noch am Leben sei! Damit wären ja alle Schwierigkeiten beseitigt, nicht wahr? Das riesige Vermögen ihres lebenslangen Wohltäters würde wieder in ihren Taschen landen, dort, wo es, wie sie überzeugt sind, von Rechts wegen auch hingehört... Doch das wäre ja zu einfach – und wie man erwarten darf, legt Agatha Christie nun, nachdem der Leser in einer unspektakulären, actionarmen ersten Hälfte erst einmal die Charaktere in Ruhe kennengelernt hat und hinter ihre glatten Fassaden geschaut hat ( so etwas beherrscht die „Lady of Crime“ bis zur Perfektion! ), endlich richtig los!

Und endlich auch taucht der Meisterdetektiv Hercule Poirot wieder auf, dem man bereits im Prolog begegnen durfte, im Londoner Coronation Club während eines Bombenangriffs den Erzählungen eines gewissen Major Porter lauschend, der ein Freund des, wie jeder glaubte, verstorbenen Robert Underhay gewesen war. Von ihm hörte der belgische Detektiv im Übrigen auch den Namen Enoch Arden, den der Verstorbene in einigermaßen kryptischer Weise dem Major gegenüber erwähnt hatte.

Aber wie dem auch sei, Poirot ist endlich im Spiel – und wird seinerseits von gleich zwei Mitgliedern der Cloade-Familie um Hilfe gebeten, was er allerdings erst dann annimmt, als der Fremde namens Enoch Arden einen unzeitigen Tod von fremder Hand findet! Weitere Tode kann er zwar nicht verhindern, doch dass er die verzwickte Geschichte auflöst, steht für jeden Leser der Agatha Christie-Krimis und sowieso für alle Poirot-Anhänger außer Frage!

Dame Agatha ist eine unübertroffene Kriminalschriftstellerin – auch daran gibt es keinen Zweifel! Die meisten ihrer Geschichten sind hervorragend, intelligent, spannend, verzwickt – und immer clever ersonnen und in einer geschmeidigen, stets gehobenen Sprache geschrieben. Andere sind intelligent, spannend, verzwickt – ohne großartig zu sein. Einige wenige sind zu all den bereits erwähnten Attributen ärgerlich und unbefriedigend. Leider gehört „Taken at the Flood“ beziehungsweise in der amerikanischen Ausgabe „There ist a Tide...“, einem Vers entnommen aus Shakespeares Drama „Julius Caesar“, zur letzten Kategorie!

Woran liegt das, habe ich mich während der Lektüre immer wieder gefragt. Wieso bin ich einfach nicht recht vorangekommen und wurde auch nicht, wie sonst bei Dame Agathas Büchern üblich, von Spannung oder doch wenigstens Neugierde gepackt? Die Geschichte hat alles, was Mrs.Christies Bücher ausmacht – und dennoch! Es sind die Charaktere, die mich stören, habe ich schließlich entschieden! Es verärgerte mich ihre Selbstherrlichkeit, ihre Geringschätzigkeit des Onkels Witwe gegenüber, die sie dennoch gnadenlos auszunehmen versuchen, ihre offensichtliche Lebensuntüchtigkeit ohne die schützende Hand des Familienoberhauptes. Sie sind schlechte Menschen, die Cloades, punktum! Jeder einzelne von ihnen. Und das trifft auf viele der unzähligen Figuren der berühmten Schriftstellerin zu, ist also per se nichts Ungewöhnliches. Doch die Art und Weise, wie sie mit denjenigen, die uns hier begegnen, verfährt, die Milde, die sie ihnen unverdienterweise zukommen lässt – die ist höchst ungewöhnlich und befremdlich. Diese Milde geht am Ende sogar so weit, dass ein direktes Verbrechen und eines, das durch Egoismus und Manipulation indirekt verschuldet wurde, ganz einfach unter den Teppich gekehrt werden – von dem gerechtigkeitsliebenden, unbestechlichen Hercule Poirot höchstpersönlich! Was mag sich Agatha Christie dabei gedacht haben? Und – was mag sie sich darüber hinaus bei dem Epilog, den letzten drei Seiten ihres Buches, auf die ich hier allerdings nicht näher eingehen kann, ohne die Lösung des Falles zu verraten, gedacht haben, der so manchen Leser ganz entsetzt zurücklässt und ihn an dem Verstand der Dame zweifeln lässt?

Dass dieses eines der schwächsten, vielleicht sogar das schwächste der vielen Bücher der mit Recht hochgelobten Schriftstellerin ist, war mir durchaus klar, als ich es nach vielen vielen Jahren wieder gelesen habe – in der Hoffnung, es heute mit anderen Augen lesen zu können. Diese Hoffnung hat sich leider nicht erfüllt – ganz im Sinne des blitzgescheiten, hier aber etwas trägen Meisterdetektivs Poirot, der weiß, dass sich einige Dinge nie ändern...

Veröffentlicht am 14.03.2023

Science Fiction für Experten

Sieben Kapitulationen
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Um 'Sieben Kapitulationen' (im englischen Original 'Seven Surrenders'), dem zweiten Band der Tetralogie 'Terra Ignota' der Historikerin der University of Chicago, Ada Palmer, überhaupt folgen zu können, ...

Um 'Sieben Kapitulationen' (im englischen Original 'Seven Surrenders'), dem zweiten Band der Tetralogie 'Terra Ignota' der Historikerin der University of Chicago, Ada Palmer, überhaupt folgen zu können, bedarf es unbedingt der Kenntnis des ersten Bandes 'Dem Blitz zu nah' (im englischen Original 'Too Like the Lightning'), denn Band 2 beginnt genau da, wo Band 1 aufgehört hat – ein ungemein komplexer und komplizierter Science Fiction Roman, für dessen Verständnis meines Erachtens weit mehr vorausgesetzt wird, als der Durchschnittsleser, Science Fiction erprobt oder nicht, mitbringt. Und selbst dann hat man Mühe, die vielen und vielfältigen Themen, mit denen sich die Autorin befasst, zu ergründen, geschweige denn sie bis in ihre Tiefen zu verstehen. Um Religion geht es, um Geschlechtergleichheit, überhaupt Genderfragen, um Moral, um Freiheit, Brüderlichkeit etcetera, um all die Ideale aus der Zeit der Aufklärung, die die Gesellschaft im Jahre 2454, der wir in diesem außerordentlich ambitionierten, philosophisch-politischen Science Fiction Roman begegnen, scheinbar lebt. Scheinbar, und möglicherweise lebte man eine Zeitlang ja tatsächlich dieses Ideal, das durch die Aufhebung der Nationalstaaten möglich gemacht wurde, an deren Stelle die 'Hives' traten, in die man nicht hineingeboren wird, sondern denen man als Erwachsener beitreten kann, je nach Neigung, vielleicht auch charakterliche Disposition. Es gibt derer sieben – der Titel ist also nicht von ungefähr gewählt und spricht überdies für sich! -, nämlich die Humanisten, die Cousins, das Maurer-Imperium, die Gordischen, die Europäische Union, die Mitsubishi und die Utopianer, über deren Systeme man in den vorderen und rückwärtigen Versatzblättern des Buches Genaueres erfahren kann. Doch sollte man sich nicht täuschen lassen von den wohlklingenden Beschreibungen! Der Teufel liegt eben auch hier im Detail....
Jedenfalls – nach 300 Jahren des Friedens, sprich der Abwesenheit von offen ausgetragenen Kriegen, zeigt sich aber, dass das so stabil erscheinende Machtgefüge brüchig ist, dass da eine Verschwörung im Gange ist, über die der Leser von dem Ich-Erzähler, einem zwielichtigen, seltsamen Manne, einem Verbrecher gar, der, wie es der Klappentext verrät, 'dazu verurteilt wurde, im Dienste aller Hives um den Globus zu wandern' und der daher besser als jeder andere Bescheid weiß, peu a peu erfährt, wenig Genaues freilich. Überdies nennt er sich selbst einen unzuverlässigen Erzähler. Durch seine Augen hauptsächlich erleben die Leser nun die Ereignisse, die die Utopie bedrohen, zu der die Erde – wieder scheinbar! - geworden ist: eine Welt ohne Krieg, ohne Hunger, in der alle Bedürfnisse erfüllt werden und die dank der – heute noch unvorstellbar, aber eigentlich auch nicht verwunderlich! - enorm fortgeschrittenen Technologie auch nicht mehr durch Klimawandel und die daraus resultierenden, uns heute verheerend erscheinenden Konsequenzen bedroht ist.
Spannend, vielschichtig, zum Nachdenken auffordernd? Gewiss! Doch ob seiner Komplexität nur sehr schwer, sehr mühsam zu lesen, wozu auch die wenig eingängige, geschlechtsneutrale Sprache ihren Teil beiträgt, an die ich mich bereits im ersten, beinahe noch schwerer zu lesenden Band nicht gewöhnen konnte, den ich unmittelbar vor dem zweiten gelesen habe, als ich nach dessen ersten hundert Seiten oder so feststellen musste, dass die Handlung sich auch bei größter Konzentration meinem Zugriff entzog. Im amerikanischen Heimatland der Autorin mag ihre Terra Ignota Tetralogie ja als genial, intelligent, alle gekannten Maßstäbe sprengend etc. gefeiert werden – meinem Lesegeschmack hingegen entspricht sie in keiner Weise. Science Fiction ja, gelegentlich, aber nicht die Art, auf die die intellektuell nicht mit unseren Maßstäben zu messende Ada Palmer sie schreibt. Die ist mir schlicht zu mühsam und zu unverständlich – und tatsächlich habe ich für die Lektüre von 'Dem Blitz zu nah' und 'Sieben Kapitulationen' sage und schreibe vier Monate gebraucht! Da kann dann von Lesevergnügen keine Rede mehr sein, zumal Abbrechen nicht in Frage kam, da ich mich unklugerweise auf eine Leserunde mit dem hier gerade mehr schlecht als recht besprochenen Werk eingelassen habe. Wäre es mir aber auf andere Art und Weise in die Hände gefallen, so hätte ich nach spätestens 100 Seiten, denen nämlich, die ich brauchte, um endgültig einzusehen, dass ich so gut wie nichts verstanden hatte, das Buch mehr oder weniger unauffällig verschwinden lassen, wahrscheinlich aber in die Ecke gefeuert, und damit das Experiment beendet, Zugang zu etwas zu bekommen, das von jemandem geschrieben wurde, die ganz offensichtlich in Sphären schwebt, zu denen ich nur verwundert staunend aufblicken kann! Eine Bewertung erscheint mir also beinahe unangemessen, jedenfalls soweit es mich betrifft. Da Lesbarkeit und Verständlichkeit für mich aber ein ebenso wichtiges Kriterium für die Beurteilung eines Buches sind, gleich welcher Kategorie es angehört, wage ich es, aus der Reihe der Begeisterten auszuscheren und es nur solchen Lesern zu empfehlen, die sich gerne lange und fruchtlos quälen wollen während einer Freizeitlektüre. Oder eben denjenigen, die ähnlich abgehoben ticken wie die Geschichtsprofessorin aus den Vereinigten Staaten!

Veröffentlicht am 14.03.2023

Furchtloser, selbsternannter Gentleman-Gauner rettet die Fantasywelt

Die Tausend Leben des Ardor Benn
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Als 'außergewöhnlicher Gentleman-Gauner' bezeichnet sich der Titelheld des hier zu besprechenden High-Fantasyromans selbst, als 'Meister von List und Tücke', der gar tausend Leben hat. Im englischen Original ...

Als 'außergewöhnlicher Gentleman-Gauner' bezeichnet sich der Titelheld des hier zu besprechenden High-Fantasyromans selbst, als 'Meister von List und Tücke', der gar tausend Leben hat. Im englischen Original hingegen - „The Thousand Deaths of Ardor Benn“ - stirbt er vielmehr tausend Tode, was im Endeffekt wohl auf das Gleiche herauskommt. Dennoch bin ich einmal mehr verwundert über die Angewohnheit deutscher Verlage – wobei gar nichts gegen Paninibooks spricht! -, Originaltitel zu verdrehen oder nichtssagende eigene Kreationen zu ersinnen.
Wie dem auch immer sei, Ardor Benn nimmt den Mund ein wenig zu voll, denn in Wirklichkeit ist er ein zwar wagemutiger, aber dennoch ganz gewöhnlicher Dieb, der seinen Lebensunterhalt damit bestreitet, dass er sich Dinge aneignet, die ihm nicht gehören. Ein Draufgänger und Maulheld ist er, voll von sich selbst, dabei aber zugegebenermaßen recht amüsant und äußerst risikofreudig, denn auch vor den schwierigsten und jedem vernunftbegabten Leser völlig unlösbar erscheinenden Aufgaben schreckt er nicht zurück.
Und eine solche wartet auf ihn in dem umfangreichen Fantasyabenteuer des Amerikaners Tyler Whitesides, der mit dieser seiner ersten Fantasy-Reihe für Erwachsene – in seinem Heimatland bekannt wurde er als Autor von Kinder- und Jugendbüchern – ursprünglich ein Herzensprojekt verwirklichen wollte, für das es keinen Abgabetermin gab. Doch auch Herzensprojekte entwickeln manchmal eine Eigendynamik und, hast du nicht gesehen, der Autor konnte mit dem Fabulieren erst dann aufhören, als eine Trilogie, ein regelrechtes Mammutwerk sogar, entstanden war!
Aber kehren wir zurück zu dem vollmundigen Meisterdieb! Von Ardors ihm weit vorausschallenden Ruf angelockt kommt da nämlich der Priester Eiland Halavend (ja, richtig, der Priester ist eine Insel!) und beauftragt den selbstbewussten Helden mit einer gar schwierigen, umfangreichen, gefährlichen, eigentlich unlösbaren Mission: er soll dem König des Inselreiches, aus dem die Welt, die sich der Autor ausgedacht hat, besteht, zwei Herrscherinsignien entwenden, denn auf dem Spiel stehen, ohne auf Einzelheiten einzugehen, nicht mehr und nicht weniger die Zukunft und das Leben der Inselbewohner!
Für Ardor Benn ist glücklicherweise nichts zu schwer und das Adjektiv 'unmöglich' existiert in seinem Wortschatz nicht. Zudem steht ihm nicht nur Raek, sein Freund aus Kindertagen und für Ardor wie ein Bruder, seines Zeichens mathematisches Genie und Muskelprotz und noch so einiges mehr, wie der interessierte Leser erfahren wird, zur Seite, sondern auch die eigens für die gefährliche Mission angeheuerte Diebin Quarra, eine Romanfigur, der man anfänglich große Sympathie entgegenbringt ob ihrer Unabhängigkeit und Stärke, die als Charakter jedoch leider verliert im Laufe der Handlung, je mehr sie sich zu dem sich für unwiderstehlich haltenden Ardor oder Ard, wie er im Zuge der Namensverkürzungsmanie, in der Geschichte sehr bald schon genannt wird, hingezogen fühlt.
Dass mich der allgegenwärtige Titelheld nicht vom Hocker reißen konnte, da mir grundsätzlich Tausendsassas seiner Art nicht liegen, stellte nur eines der Probleme dar, die ich mit der Lektüre des sage und schreibe 800 Seiten langen, kleingedruckten Werkes hatte, das im Heimatland des Autors mit überwiegend großer Begeisterung aufgenommen wurde. Liest man nämlich Rezensionen von Tyler Whitesides Landsleuten, so ist man ganz geblendet von so viel Überschwänglichkeit, ein Substantiv, das mir schon immer suspekt war!
Ja, jedes Buch, gleich welchen Genres, hat seine Leser – viele mitunter, je nach Güteklasse, oft unverständlich viele. Obschon ich, ohne ein ausgesprochener Fan von Fantasyliteratur zu sein, mich gerne hin und wieder von einem guten Vertreter dieser Gattung begeistern lasse und nach den Vorschusslorbeeren und auch der Inhaltsbeschreibung mit großen Hoffnungen „Die tausend Leben des Ardor Benn“ aufgeschlagen habe, wuchs meine Enttäuschung von Seite zu Seite. Da ich selten ein einmal begonnenes Buch abbreche und dies schon gar nicht innerhalb einer Leserunde tue, habe ich mich weitergekämpft – und dies über mehr als zwei Monate. Ein Lesezeitraum, der keinem Buch wirklich bekömmlich ist! Überfliegen, wie ich das zeitweise versuchte, ging nicht, denn so war es leicht, wichtige Details, die zwar spärlich, aber willkürlich über das gesamte Buch verteilt sind und deren Kenntnis einfach notwendig ist, um der Handlung folgen zu können, zu übersehen. Darüberhinaus ist das Werk so voller Details, dass man die wichtigen manchmal nicht von den unwichtigen und daher vollkommen überflüssigen unterscheiden kann. Streicht man die übrigens weg, bleiben kaum mehr als 300 Seiten übrig...
Desweiteren hatte ich von Anfang an mit der eintönigen, gleichförmigen, langweiligen Sprache Probleme – die im krassen Gegensatz steht zu der so komplexen, ganz und gar fremdartigen Welt, in der der Autor sein Herzensbuch spielen lässt, und die da ein Insel-Archipel ist, deren Hauptschauplatz, die Hauptstadt Beripent, auch Heimatort des Gauners Benn ist. Dazu noch hat der unbestreitbar phantasiebegabte Whitesides ein kompliziertes und gar verwundenes, offensichtlich nur von ihm selbst und den amerikanischen Fans zu verstehendes magisches System ersonnen, das sowohl auf Physik und Chemie, als auch auf Religion basiert, wobei die Magie in direktem Zusammenhang steht mit den auf der Insel Pekal lebenden Drachen, die allerdings vom Aussterben bedroht und in der Handlung wenig mehr als Mittel zum Zweck sind – was ich schade finde, denn wäre ihnen mehr Aufmerksamkeit zuteil geworden, hätte dies die Geschichte aufwerten können. Gezaubert wird, so muss man wissen, nämlich mit einer Substanz namens 'Malm', von dem es unterschiedliche Typen zu unterschiedlichen Zwecken gibt und das nichts anderes ist als pulverisierte Drachenkacke (der beste Malmmischer des Reiches ist, nebenbei gesagt, Ardors Freund Raek!) Dieses Malm wiederum heißt 'Grit' im englischen Original, zu dem ich nach der Hälfte der Lektüre meine Zuflucht genommen hatte, allzumal es ein, in der deutschen Ausgabe fehlendes, Glossar am Ende des Buches gibt, was definitiv eine Hilfe ist. Umso unverständlicher, dass es in der deutschen Version einfach unter den Tisch gefallen ist. Seltsam, dachte ich, wir Deutschen nehmen doch nur allzu willig jedes Modewort und auch noch andere, völlig überflüssige Anglizismen in unsere Sprache auf – warum müssen aber Ausdrücke, die im Grunde Phantasiewörter sind, in weitere Phantasiewörter 'übersetzt' werden? Und es ist ja nicht nur 'Grit', sondern es ist noch unzählig viel anderes aus den 'Tausend Leben' beziehungsweise 'Tausend Tode'!
Eines muss man dem Autor fairerweise zugute halten: seine Ideen sind originell und unterscheiden sich vom Mainstream, so wie ich die fantastische Welt, die er sich ausgedacht hat, interessant, spannend, auch verheißungsvoll finde. Die Umsetzung dieser Ideen wiederum empfinde ich als über weite Strecken nicht gelungen. Leider bleiben auch die handelnden Personen an der Oberfläche, haben keine Tiefe und deshalb auch nicht das Potential, zu berühren. Allerdings – und das ist löblich! - ist der Autor nicht der Versuchung erlegen, den ersten Band seiner Trilogie mit einem Paukenschlag oder, auf gut Deutsch, 'Cliffhanger' enden zu lassen. Das Buch hat einen Abschluss, und das ist gut so! Was immer noch mit und um Ardor Benn geschehen mag mögen die vielen begeisterten Anhänger des Gentleman-Gauners gerne ohne mich herausfinden!

Veröffentlicht am 16.01.2023

Mord im Urlauberparadies

Canaria Mortal
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Die Inhaltsbeschreibung liest sich durchaus verheißungsvoll. Die Sonneninseln der Kanaren, auf denen ganzjährig Sommer herrscht, bringt man gemeinhin mit unbeschwerten Urlaubstagen in Verbindung, denn ...

Die Inhaltsbeschreibung liest sich durchaus verheißungsvoll. Die Sonneninseln der Kanaren, auf denen ganzjährig Sommer herrscht, bringt man gemeinhin mit unbeschwerten Urlaubstagen in Verbindung, denn tiefer möchte der Durchschnittstourist, um das Adjektiv 'unbedarft' zu vermeiden, gar nicht schauen! Kriminalität, unlautere Machenschaften, Korruption oder gar Mord? Nein, das passt da gewiss nicht hin. Eitel Sonnenschein, laute und fröhliche Menschen, traumhafte Strände, herrliches Essen, die Leichtigkeit des Seins – das und nichts anderes erwartet man von den Kanarischen Inseln! Einen realistischeren Einblick freilich bekommen die Langzeiturlauber, die Überwinterer, sofern sie sich nicht entschlossen haben, in einer Blase zu leben und die Wirklichkeit auszublenden, und die Auswanderer, von denen, laut Statistik, die meisten wieder zurückkehren in ihre Ursprungsländer – aus mehreren Gründen, auf die näher einzugehen allerdings den Rahmen sprengen würde. Einer davon allerdings liegt auf der Hand, wenn man sich durch Daniel Veranos (tja, das mit dem ewigen Sommer stimmt zumindest!) auf Gran Canaria spielenden, sehr leicht lesbaren Krimi mit dem bezeichnenden Titel 'Canaria mortal' durchgearbeitet hat. Das Verbrechen macht auch vor den Paradiesen dieser Erde nicht halt und all das Unfeine, das gar nicht Einladende, vor dem einige Auswanderer geflohen sind, findet man auch dort, auf den – so das Klischee – traumschönen Inseln im Atlantik, doch, wie mir scheinen mag, in noch geballterer Form...
Felix Faber jedoch, der Protagonist des hier zu besprechenden Krimis, kehrte Deutschland vor allem aus einem Grund den Rücken: das Wetter hierzulande behagt ihm ganz und gar nicht! Womit er mit den Überwinterern auf eine Stufe zu stellen ist. Denn hätte er nicht das Angebot der 'aufstrebenden Zeitung' La Vida in Las Palmas bekommen, in deren Team mitzuarbeiten, wer weiß, ob er sich nicht doch eher der Reihe der Überwinterer angeschlossen hätte, was sicherlich bekömmlicher für ihn gewesen wäre. Kaum angekommen auf der Insel, bei der er zunächst vergeblich nach der vielgepriesenen landschaftlichen Schönheit sucht, sie sich dann aber herbeiredet, nachdem man ihn in einem schicken Bungalow einquartiert hat (schöne Unterkunft und tolles Essen, und schon ist alles paletti?), gerät er dank seiner grenzenlosen Naivität und Unbedarftheit, gepaart mit einer gehörigen Portion Tollpatschigkeit, in eine Geschichte, die mehrere Nummern zu groß für ihn ist und aus der eine klügere, besonnenere Person vermutlich ihre neugierige Nase herausgehalten hätte. In seiner Einfalt sieht sich Felix überdies noch als wertvoller Mitarbeiter der Polizei, völlig die Tatsache verkennend, dass seine laienhafte Einmischung nicht im geringsten erwünscht ist, obgleich die amtlich Bestellten dringend Hilfe von einem fähigen Kollegen brauchen könnten, der der brave Felix nun wirklich nicht ist.
Apropos Polizei! Ana Montero, die auf dem Covertext völlig zu Unrecht als 'taffe Ermittlerin' charakterisiert wird, ist eine, wie mir mit jeder Begegnung mit ihr scheinen möchte, unorganisierte, unvorsichtige, selten klug handelnde Strafversetzte aus Madrid. Über die Gründe kann man spekulieren, was Genaues weiß man nicht. Wenn man allerdings ihren Aktionen hier in der Geschichte folgt, darf man vermuten, dass ihre Versetzung aufgrund rechter Unfähigkeit, gepaart mit hartnäckiger Eigenmächtigkeit erfolgt ist. Wie sie sich übrigens den PS-starken Rennwagen, den sie liebt wie eine Mutter ihr Kind, und ihre ach so schicken Kostüme, auf denen sie auch dann beharrt, wenn sie Verbrechern in den steinigen Bergen nachjagt, leisten kann, bleibt ein Rätsel, zumal spanische Polizisten, Kriminalbeamte und wie sie sonst noch heißen mögen, eher kärglich entlohnt werden, wie mir mein valencianischer Ordnungshüterfreund mit schöner Regelmäßigkeit vorjammert!
Ja, ein Traumteam der anderen Art sind sie, die 'taffe', dem Kiffen nicht abgeneigte Ana und der verpeilte Felix, der in Windeseile (na denn, ist er halt wenigstens mit einem außergewöhnlichen Talent für Fremdsprachen gesegnet, wenn schon für nichts sonst) so gut Spanisch gelernt hat, dass er sogar für eine spanische Zeitung (!) schreiben soll! Doch was ist das nur für eine seltsame Zeitung? Politisch links ist sie, und 'hipp' (was für ein beklopptes Wort, das alles und nichts bedeuten kann!) ist sie auch. So viel wissen wir, weil man uns das so sagt. Bei der Arbeit können wir ihnen aber nicht über die Schulter blicken, ihre Erzeugnisse kennen wir auch nicht. Was hingegen der Leser beobachten kann ist, dass die schlappen Journalisten des Blattes, wenn sie nicht gerade Kaffee trinken oder in Bars herumhängen und schon am späten Vormittag dem Alkohol zusprechen, geheimnisvoll tun und gegen den Schulbub, denn so wirkt er, aus Deutschland mauern. Halt, dass sie Probleme mit einer rechtsextremistischen Gruppe haben, bekommt man auch noch mit, am Rande, wie alles, mir wichtig Erscheinende, überhaupt nur am Rande Erwähnung findet. Über die sogenannte 'Mentorin' Candela, die Felix zur Seite gestellt wird, möchte ich mich nicht weiter auslassen. Die bei anderen Rezensenten so beliebte hyperaktive junge Frau, ganz dem Klischee der temperamentvollen Spanierin entsprechend, die auf Stöckelschuhen in rasender Geschwindigkeit auch das widrigste Gelände im Sturm nimmt und die man besser nicht ans Steuer eines Autos lassen sollte, kann bei mir genauso wenige Punkte sammeln wie alle anderen Figuren, die in diesem Krimi auftauchen. Dabei müssen für mich die Charaktere keineswegs sympathisch sein, lediglich überzeugend, glaubwürdig in ihrem Verhalten, in ihren Handlungen. Vorstellbar. Genau das aber ist keiner von ihnen, merkwürdigerweise am ehesten vielleicht das Mordopfer selbst, eine sehr junge, aus armen Verhältnissen stammende Frau, seltsam naiv und abgebrüht gleichzeitig, deren Entschluss, auch mal auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen, ihr Todesurteil ist.
So, und nun kommen wir zu dem großen Unbekannten, der im Hintergrund, sprich immer dann, wenn der Autor eine seiner vielen Perspektivwechsel für angebracht hält, seine schmutzigen, mutmaßlich blutverklebten Fäden zieht, dessen Geldgier so übermächtig ist, dass er sich – nach außen Biedermann, wie angedeutet wird – über jegliche Gesetze stellt, alle korrumpiert, die sich korrumpieren lassen (und das trifft leider – wie im wahren Leben? - auf die meisten Amtspersonen genauso wie kleine Lichter auf der trockenen und kargen Kanareninsel zu) – und über dessen Identität der Leser am Ende des wenig spannenden Romans ebenso klug ist, wie zu Anfang! Und dieser Punkt, ein Ende nämlich, das abrupt kommt und nichts, aber auch gar nichts aufklärt, ist die gravierendste Schwäche der Geschichte! Ärgerlich, unbefriedigend, selbst wenn man weiß, dass der übereifrige Einfaltspinsel Felix Faber hier in seinem ersten Fall ermittelt. Zumindest einmal noch wird er auf den Kanaren, wo er sich inzwischen, warum auch immer, bereits recht heimisch fühlt, in ein Verbrechen stolpern dürfen, das, davon kann man ausgehen, irgendwie mit dem unbekannten Bösewicht verknüpft sein wird, sein muss, denn der agiert ja weiter im Dunkeln, sein Handwerk wurde ihm in 'Canaria mortal' nicht gelegt. Vielleicht wird der camouflierte Ehrenmann sogar noch durch weitere Teile fädenziehend, quasi selbst als roter Faden, irrlichtern, bevor endlich, endlich seine wahre Identität aufgedeckt wird!?
Wie dem auch sei – ich sage der angedachten Krimireihe mit der Lektüre dieses ersten Bandes adieu! Keine zweite Chance für Felix, Ana, Candela und wie sie alle heißen. Dafür aber werde ich dem Autor des grandiosen, überragenden, zutiefst bewegenden zeitgeschichtlichen Romans 'Zorn der Lämmer', den er unter seinem richtigen Namen, Daniel Wehnhardt, veröffentlicht hat, treubleiben, auf weitere schriftstellerische Perlen dieser Art hoffend!

Veröffentlicht am 26.11.2022

Wäre Linnea doch nur verschwunden geblieben....

Das Verschwinden der Linnea Arvidsson
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Der Roman beginnt mit dem Besuch eines Kriminalbeamten bei der kroatischen Einwandererfamilie Simovic im schwedischen Malmö. Der Kommissar ist auf der Suche nach Daniel, dem Sohn der Familie, der verdächtigt ...

Der Roman beginnt mit dem Besuch eines Kriminalbeamten bei der kroatischen Einwandererfamilie Simovic im schwedischen Malmö. Der Kommissar ist auf der Suche nach Daniel, dem Sohn der Familie, der verdächtigt wird, auf irgendeine Weise verwickelt zu sein in das Verschwinden der jungen Studentin Linnea, das von deren Lebensgefährten angezeigt worden war. Bei Lydia Simovic, aus deren Erzählperspektive der Leser anschließend eingeführt wird in die komplizierte und deprimierende Geschichte ihrer Familie, läuten sämtliche Alarmglocken! Ihr Bruder, dem sie sich stets besonders verbunden gefühlt hatte, ist kein unbeschriebenes Blatt, wurde schon als 13jähriger straffällig und hatte danach eigentlich keine echte Chance mehr auf Rehabilitation, obwohl er, so erfahren wir von Lydia, sich inzwischen losgesagt hat von der kriminellen Szene und versucht, sein Leben in den Griff zu bekommen. Doch einmal mit dem Gesetz in Konflikt gekommen bedeutet ganz offensichtlich auch im liberalen Schweden einen unauslöschlichen Makel und macht einen bloßen Verdacht im Handumdrehen zur Gewissheit, worüber sich die desillusionierte Lydia völlig im Klaren ist! Wenn jemand den Bruder reinwaschen kann von den schwerwiegenden Anschuldigungen, die sich zusehends verdichten, dann, so meint sie, aus Erfahrung äußerst misstrauisch der Polizei gegenüber, ist sie das. Allzumal sie meint, Daniel etwas schuldig zu sein, war doch sie der Auslöser dafür, dass er als Jugendlicher, beinahe noch ein Kind, ins Visier von Polizei und Jugendamt geriet....
Eine so hektische und planlose, wie verbissene Suche beginnt, in deren Verlauf der Leser einen traurigen Einblick erhält nicht nur in den Zerfall einer mit großen Hoffnungen im sozialen Wunderland Schweden angekommenen Familie, sondern sich auch der Mühsal bewusst wird, mit der die Familie Fuß zu fassen versucht in einem fremden Land, und der Diskriminationen, denen sie allenthalben begegnet. Es bleibt mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die Familie Simovic da keine Ausnahme bildet, sondern für die große Masse der Immigranten steht, was einen vielsagenden Blick zulässt auf unser aller Umgang mit dem Fremden, das uns im eigenen Land begegnet, egal ob dieses nun Deutschland ist oder Schweden oder irgendwo sonst auf der Welt. Es scheint keine Rolle zu spielen!
Doch die Geschichte verfolgt man beileibe nicht nur aus Lydias Perspektive, sondern auch aus der des Bruders selbst, der inzwischen aufgegriffen wurde und, jede Auskunft verweigernd, in Untersuchungshaft sitzt – und schließlich auch, nachdem der Roman, der so stark begonnen hatte, bereits in Bedeutungslosigkeit, Nichtigkeit und Langeweile versandet ist, aus der Sicht der titelgebenden Person.
Während Lydia von Trauer, Einsamkeit, Verlorensein und Sprachlosigkeit nach dem allzu frühen Tod der Mutter, die Herz und Seele der Simovics war, erzählt und der Leser schnell begreift, wieso Daniel, der jeden Halt verloren hatte, sich mit den falschen Freunden einlassen konnte, führt dieser selbst zunächst die Geschichte fort, berichtet er, zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her gleitend, über die traumatische Inobhutnahme, das Herausnehmen aus der eigenen Familie nach einer Körperverletzung, die er aber nie begangen hatte. Erschüttert liest man, dass er ein willfähriges Opfer war als Sohn von Zuwanderern, deren Familienoberhaupt gar noch arbeitslos und in Depressionen versunken war, und dass die Polizei sich, der Täter war ja vermeintlich gefunden, in keiner Weise für die Wahrheit interessierte. Und er erzählt gleichzeitig von seiner Untersuchungshaft, von dem, was sie mit ihm macht, obschon er überzeugt ist, wenn er sich nur ausschweigt, schon bald wegen Mangels an Beweisen in die Freiheit entlassen zu werden. Doch hat er sich gründlich verrechnet und seine Resistenz beginnt zu bröckeln. Bevor dies aber soweit ist, ertönt plötzlich, zu meiner Verblüffung, die Stimme der Vermissten höchstpersönlich aus dem Off! Und von da an wird die Geschichte zu einem einzigen Ärgernis!
Sicher, was diese nie dem Kindesalter erwachsene Linnea auf ihre dröge, einfältige Art zu der Handlung beizutragen hat, klärt manches auf, ist aber gleichzeitig ein vollständiger Bruch mit der anfangs intensiven und überaus realistischen Geschichte, die vielversprechend erschien und von der ich erwartet hatte, dass sie weitergeführt, den Roman tragen würde. Aber nichts da! Der Erzählfaden bricht einfach ab, lässt den Leser genauso einsam und ratlos zurück, wie es der Tod der Mutter bei ihrer Familie getan hatte. Stränge werden nicht weitergeführt, über die weitere Entwicklung der Familienmitglieder bleibt man im Unklaren, sich abzeichnende Konturen werden nebulös und verwischen ganz. Dafür erfährt man allerhand über das weder spannende noch interessante Seelenleben und die selbst produzierten Probleme der unreifen Linnea, die von einer unglaublichen Naivität und Manipulierbarkeit ist. Wie sie es je auf eine Universität geschafft hat, bleibt mir ein Rätsel! Spätestens, als die Autorin der Figur, die für das ganze Schlamassel verantwortlich ist, aus mir unbegreiflichen Gründen das Wort erteilte, verflacht die so interessante wie bedrückende Geschichte bis hin zum Nichts, um dann in ein Ende zu münden, über das man erstaunt die Augenbrauen hochzuziehen versucht ist. Sie zu analysieren lohnt der Mühe nicht, tiefer zu blicken auch nicht, denn eine Tiefe ist nach dem ersten Drittel schlicht nicht vorhanden – und war womöglich von Beginn an nur ein Trugschluss?
Zurück bleiben Ratlosigkeit und Unwillen ob dieses fragmentarischen Romans, ob der vertanen Chance, die sich hoffnungsvoll anbahnende, sozialkritische Geschichte einer Einwandererfamilie am Beispiel der Simovics aus Kroatien zu erzählen, konsequent und glaubwürdig und ohne das Geholpere und Gestolpere, in das sich die hochgelobte schwedische Autorin schließlich verloren hat. Insgesamt ein enttäuschendes Werk, fürwahr!