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Veröffentlicht am 20.12.2022

Tolles Buch!

Für euch
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FÜR EUCH
Iris Sayram

„Ich selbst war oft zu feige, zu mir zu stehen. Und was schlimmer war: Häufig war ich auch noch zu feige, zu Dir zu stehen. Ich habe mich für dich geschämt. Geschämt, dass du anders ...

FÜR EUCH
Iris Sayram

„Ich selbst war oft zu feige, zu mir zu stehen. Und was schlimmer war: Häufig war ich auch noch zu feige, zu Dir zu stehen. Ich habe mich für dich geschämt. Geschämt, dass du anders ausgesehen hast; Angst davor gehabt, dass man Dir ansehen könnte, was Du beruflich machst. Dabei hast du viel Geld damit verdient und es uns in Überfluss gegeben. Dafür habe ich mich nicht geschämt. Dafür schäme ich mich heute. Ich bin stolz, wie Du uns durchgebracht hast." (S.18)

Iris Mutter arbeitete als Prostituierte, säuberte nachts die Toiletten von Clubs, klaute Lebensmittel und saß zwischendurch im Gefängnis ein.
Nur knapp entging Iris einer Unterbringung bei einer Pflegefamilie oder im Kinderheim. Ihr Vater war ein Spieler, ein Arbeitsloser und alles andere als eine Hilfe.

Sayram erzählt in ihrer autobiografischen Geschichte wie sie mit ihrer Mutter und dem Vater, einem türkischen Gastarbeiter, in Berlin, aufwuchs. Ungeschönt berichtet sie über persönliche Dinge, wie sie sich für ihre Mutter schämte, obwohl sich diese „Für Euch“ - für ihre Tochter und ihren Ehemann - abrackerte. Trotz finanzieller Engpässe navigierte ihre Mutter die Familie sicher durch Turbulenzen. Sie sorgte trotz Krankheit dafür, dass ihre Tochter auf ein Gymnasium ging, damit diese es irgendwann einmal besser hat.

Iris Sayram ist ein unglaublich intensives Buch gelungen. Traurig, herzzerreissend, aber auch stellenweise sogar lustig. Für mich war es ein wahrer Page Turner, der mich ganz oft an eine Freundin hat denken lassen, die nach ihrem Jobverlust auf der Herbertstraße landete.
EVERYBODY HAS A STORY - DON’T JUDGE PEOPLE BY THEIT APPEARANCE!

4½ / 5 und eine klare Leseempfehlung von mir.

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Veröffentlicht am 29.11.2022

Skurril, aber gut!

Frau mit Messer
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Könnt ihr euch ein Buch vorstellen, dass eine Mischung aus dem Donnerstagmordclub und Kill Bill ist? Wo allerdings nicht Tarantino das Drehbuch geschrieben hat, sondern Murakami?
Ich meine einen etwas ...

Könnt ihr euch ein Buch vorstellen, dass eine Mischung aus dem Donnerstagmordclub und Kill Bill ist? Wo allerdings nicht Tarantino das Drehbuch geschrieben hat, sondern Murakami?
Ich meine einen etwas skurrilen Kill Bill, wo Uma Thurman bereis 65 Jahre alt ist?
Hier ist es:

FRAU MIT MESSER
Gu Byeong-Mo

Südkorea: Die 65-jährige Hornclaw ist Auftragskillerin. Eine betagte Auftragskillerin, die täglich damit rechnet, in Rente geschickt zu werden.
Eigentlich, wenn sie es zugeben würde, merkt sie selber, dass sie "in die Jahre gekommen ist": Ihre Kräfte lassen nach und es fällt ihr immer schwerer die Aufträge präzise auszuführen. Dabei war sie ihr Leben lang eine „Schädlingsbekämpferin" - nie hat sie etwas anderes gemacht, Gefühle und Mitleid waren ihr Fremdwörter. Doch zum Alter hin, ertappt sie sich immer öfter dabei, wie sie Gefühle für andere hat. Was ihr im Alter allerdings zugutekommt, ist ihr unauffälliges Aussehen. Wer würde schon denken, dass hinter der kleinen Frau mit merkwürdigem Hut und Mantel eine professionelle Killerin steckt?
Zusammengefasst ist sie zufrieden mit ihrem Leben, wenn da nicht ihr jüngerer Kollege Bullfight wäre, der sie unaufhörlich schikaniert und es darauf abgesehen hat, sie zu Fall zu bringen. Seit neuestem mischt er sich sogar in ihre Fälle ein! Warum er sie mit so wenig Respekt behandelt, ist ihr ein Rätsel. (Wenn Hornclaw ein paar Morde weniger ausgeführt hätte, würde sie sich vielleicht noch an den kleinen Jungen erinnern, der sie einmal bei der Ausführung eines Mordes beobachtete …)

Immer wieder gibt es Rückblicke in die Vergangenheit der Protagonisten. Durch diese Rückblicke fallen die einzelnen Puzzleteile ins Ganze.

Byeong-Mo hat einen Roman geschrieben, der sich in keine Schublade stecken lässt. Skurril, spannend, liebevoll und traurig.
Ein Buch, das ich in nur 2 Tagen gerne gelesen habe, sicherlich aber nicht für die breite Masse ist. Für alle, die Murakami oder asiatische Literatur mögen, wird dieses Buch ein Fest sein.
4½ /5

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Veröffentlicht am 05.11.2022

Spannend bis zum Ende

Was auf das Ende folgt
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Von hier bis zum Anfang war in diesem Jahr eines meiner absoluten Highlights.
Erst im Anschluss wurde Whitakers Debütroman, der bei mir schon viel zu lange auf meinem SUB dümpelte, ins Deutsche übersetzt.

Hier ...

Von hier bis zum Anfang war in diesem Jahr eines meiner absoluten Highlights.
Erst im Anschluss wurde Whitakers Debütroman, der bei mir schon viel zu lange auf meinem SUB dümpelte, ins Deutsche übersetzt.

Hier ist er:

Was auf das Ende folgt
Chris Whitaker

In der Kleinstadt Namens Tall Oakes passiert nicht viel. Doch eines Tages wird der kleine 3-jährige Harry in der Nacht entführt. Seine Mutter Jess gibt an, einen Clown über die Bewachungskamera gesehen zu haben. Richtig deutliche Spuren hat der Täter nicht hinterlassen, man findet lediglich ein grünes Haar, das zu einer Clownsperücke passen könnte. Das ganze Dorf ist in Alarmbereitschaft, doch Harry bleibt verschwunden.

Auch drei Monate später gibt es nichts Neues im Fall Harry.
Jess ersäuft ihren Frust, treibt sich nächtelang herum und auch ihr Noch-Ehemann Michael, der sie bereits vor dem Verschwinden Harrys verlassen hatte, kümmert sich nicht um sie. Lediglich Jim, der Polizist, schaut regelmässig bei ihr vorbei und bleibt an dem Fall dran.

Der Autor nimmt uns mit, in die Kleinstadt Tall Oaks und wir lernen nach und nach seine Bewohner mit ihren Eigenarten kennen.
- Jerry, der 250 Pfund auf die Waage bringt und mit 35 Jahren noch immer bei seiner Mutter lebt.
- Manny, der mit seinem Freund Abe einen auf „Gangster“ macht und Schutzgeld von ansässigen Geschäften erpressen möchte.
- Henrietta, die noch immer um ihren Sohn trauert, der kurz nach der Geburt starb. Von ihrem Mann Roger fühlt sie sich so gar nicht verstanden.
- Elena, die sich in den dubiosen Autoverkäufer Jared verliebt.

Der Einstieg ins Buch fiel mir nicht leicht. Jerry, Jim, Jared, Jess, das waren zu viele J’s für mich, aber als ich mich dann eingelesen hatte, konnte ich das Buch kaum aus der Hand legen.
Wahnsinnig spannend bis zum Schluss, aber nicht nur das - über Manny musste ich des öfteren laut lachen. Alles zusammen ein sehr kurzweiliger Krimi.

Für mich ist Chris Whitaker die Neuentdeckung des Jahres und ich freue mich auf weitere spannende Geschichten von ihm.
4½ /5

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Veröffentlicht am 28.10.2022

Wunderbar melancholisch

Zur See
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Eine kleine Insel in der Nordsee. Es könnte jede sein - mal ist sie grösser, mal kleiner - je nach Wellenschlag. Generationen von Seefahrern hat sie hervorgebracht. Hochseefahrt, nicht nur Fischer.
Man ...

Eine kleine Insel in der Nordsee. Es könnte jede sein - mal ist sie grösser, mal kleiner - je nach Wellenschlag. Generationen von Seefahrern hat sie hervorgebracht. Hochseefahrt, nicht nur Fischer.
Man kennt sich untereinander, seit Generationen, die Insulaner.

Im Mittelpunkt steht die Familie Sander, die hinter dem Zaun aus Walknochen wohnt.
Hanne, die Mutter, die Stunden damit zugebracht hat, wartend im Auto zu sitzen, um ihren Mann Sven abzuholen, der wochenlang zur See fuhr.
Sven, der die Seefahrt irgendwann aufgab, um lieber Vögel zu beobachten, der es nicht mochte, wenn Pensionsgäste mit Schlappen durch seine Küche schlurften und sich halbnackt an seinen Tisch setzten und er deshalb in die Hütte zog.
Der älteste Sohn Ryckmer, der ständig besoffen zur See fuhr und deshalb rausgeschmissen wurde und seitdem noch mehr säuft.
Tochter Eske, die im Pflegeheim arbeitet, von oben bis unten tätowiert ist und damals am Hafen gegen Touristen protestierte.
Und dann ist da noch Henrik, der jüngste Sohn, der mit sich im Reinen ist. Künstler wird er genannt, da er aus angespültem Treibholz Figuren zimmert. Schuhe hat er in seinem Leben noch nie getragen.

Aber es geht nicht nur um diese Familie, alle Geschichten werden erzählt: Die, des Pastors, der Nachbarn und der anderen Insulanern. Das Inselleben hat sich verändert. Fischer gibt es nicht mehr, vielmehr ziehen sich die Männer als Fischer an, das mögen die Touristen. Touristen, davon gibt es viele - Sie werden im Sommer angespült und das Wasser nimmt sie bei Saisonende wieder mit.

Zur See
Dörte Hansen

Ich konnte einfach nicht in die Geschichte finden. Dachte, irgendwann muss doch mal die Einleitung vorbei sein. Aber der Erzählstil änderte sich nicht.
Beim zweiten Versuch, als ich wusste, dass es ein anderer Roman, eine ruhige und melancholische Geschichte ist, konnte ich mich ganz hineinfallen lassen, konnte das Salz des Meeres schmecken, den Sand zwischen den Zehen spüren und den Geschichten, Leiden und Nöten der Inselbewohner lauschen.
Es ist kein Wohlfühlroman. Hansen geht ins Detail, bohrt mit ihren Fingern in angetrocknete Krusten herum, nichts wird verschönt, alles wird angesprochen und später aufgelöst.

Ein eindrucksvoller Roman - wundervoll, ruhig und melancholisch von Nina Hoss gesprochen. Eine grosse Lese/Hörempfehlung von mir.

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Veröffentlicht am 07.10.2022

Dystopie oder im Jetzt?

Unsre verschwundenen Herzen
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Unsre verschwundenen Herzen
Celeste Ng,
aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit

In ihrem Vorwort schreibt Celeste Ng, dass sie eigentlich einen Roman über eine Mutter mit ihrem heranwachsenden ...

Unsre verschwundenen Herzen
Celeste Ng,
aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit

In ihrem Vorwort schreibt Celeste Ng, dass sie eigentlich einen Roman über eine Mutter mit ihrem heranwachsenden Sohn schreiben wollte, doch aktuelle Auseinandersetzungen veränderten ihre Geschichte.

Worum geht es?
Bird war 9 Jahre alt, als er vor 3 Jahren von seiner Mutter Margaret, einer amerikanisch-chinesischen Lyrikerin, verlassen wurde. Seitdem reden sein Vater und er nicht mehr über sie. Sie ist eine persona non grata. Leute sagen, sie sei eine Aufwieglerin, eine, die Demonstranten angeführt hat. Sie ist eine PAOs - Person of Origin - und die Asiaten sind schliesslich an allem Schuld, sagt die PACT.

Damals in Amerika, bevor Bird geboren wurde, gab es goldene Jahre, aber dann kam es zur Krise. Immer öfter konnten Menschen die hohen Mietpreise nicht zahlen. Zwangsräumungen waren an der Tagesordnung. Die Vermieter setzten diese, zusammen mit ihren Möbel, auf die Strasse. Ganze Wohnblöcke waren verlassen. Krankenhausrechnungen konnten nicht mehr bezahlt werden. Die Menschen plünderten. Läden und Fabriken schlossen. Die Strassen waren für keinen mehr sicher. Dann kamen die Pandemien hinzu.
Erst PACT - Preserving American Culture and Traditions Act - stellten wieder Ordnung her. Allerdings mit einem schlimmen Unterdrückungsinstrument: das Herausnehmen von Kindern aus vermeintlich subversiven Familien. PACT versprachen amerikanische Werte zu schützen, doch mit ihnen zogen Misstrauen, Bespitzelung und Rassismus im Land ein.

Eines Tages findet Bird eine mysteriöse Zeichnung im Briefkasten, die seine Mutter angefertigt hat. Zusätzlich sieht er immer öfter den Schriftzug „All our missing hearts“ an Mauern gesprüht, ein Gedicht, das seine Mutter einst verfasst hat. Bird beschliesst die Wahrheit über seine Mutter herauszufinden.

Wow, dieses Buch regt zum Nachdenken an. Ng hat hier eine Dystopie geschrieben, aber so viele Elemente sind aus der Realität. Hat die USA nicht vor kurzem China bezichtigt, Schuld an einem Virus zu haben? Und der Iran wirft heuer der USA Protestunterstützung vor. Und was ist mit unseren hohen Strom- und Gaspreisen? Wo soll das hinführen?
Ng hat hier ein brisantes Buch geschrieben. Ein Buch was trotz kleineren Längen bei mir nachwirken wird.

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