Poetische Reise ins winterliche Norwegen
Die Handlung ist in wenigen Sätzen zusammengefasst: Ein kleiner Ort in Norwegen. Das Mädchen Unn kommt als Waise zu ihrer Tante, hält sich von den anderen Kindern in der Schule aber scheu zurück. Eines ...
Die Handlung ist in wenigen Sätzen zusammengefasst: Ein kleiner Ort in Norwegen. Das Mädchen Unn kommt als Waise zu ihrer Tante, hält sich von den anderen Kindern in der Schule aber scheu zurück. Eines Tages gehen Blicke zwischen ihr und der elfjährigen Siss, der Anführerin, hin und her und schließlich verabreden sich die beiden Mädchen. Unmittelbar entsteht eine Verbundenheit, ein Verstehen, das für die Leser in seiner Tiefe nur zu erahnen ist. Diese eine freundschaftliche Begegnung reicht aus, um das Gefüge in der Klasse und dann auch im Dorf durcheinander zu wirbeln, denn am nächsten Tag verschwindet Unn. Ihre Abwesenheit reißt Siss in eine Trauer, die für die anderen unverständlich ist.
Tarjei Vesaas gilt als einer der bedeutendsten norwegischen Schriftsteller des letzten Jahrhunderts und wurde mehrfach für den Literaturnobelpreis nominiert. Das besondere an seinen Texte ist, dass er sie auf Nynorsk verfasste. Diese Sprache basiert auf westnorwegischen Dialekten. Inwieweit der spezielle Klang dieser Sprache in die Übersetzung einfließen konnte, vermag ich nicht zu sagen. Das Buch liest sich aber nicht wie ein klassischer Roman. Die Handlung ist recht übersichtlich, aber die Darstellung der Natur, vor allem des Eis-Schlosses, bei dem es sich um das kunst- und geheimnisvolle Gebilde rund um einen Wasserfall handelt, ist unglaublich poetisch beschrieben. Fast schon mystisch bewegen wir uns mit den Figuren durch den Wald, am Fluss entlang und bis zum Eis-Schloss. Es ist der zentrale Ort in dieser Geschichte, es ist Ziel, Unheil und Erlösung. Von Beginn an dröhnt immer wieder das Eis auf dem See und schafft eine bedrohliche Atmosphäre.
In kleinen Kapiteln, kurzen Sätzen und knappen Dialogen, die von der warmherzigen aber eher zurückhaltenden Dorfgemeinschaft zeugen, erschafft der Autor quasi ein literarisches Eis-Schloss, das alles in sich birgt, bis es der Frühling endlich wieder frei gibt.
Ich habe das Buch gerne gelesen, es passt hervorragend in diese Jahreszeit und regt zum Mit- und Nachdenken an.
Aus dem Norwegischen übersetzt von Heinrich Schmidt-Henkel.