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Veröffentlicht am 01.12.2022

Was ist Heimat?

Jahre mit Martha
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Eine Anziehung, die keiner richtig erklären kann: Martha Gruber, 40 Jahre und Professorin - Željko alias Jimmy, 15 Jahre, dessen Familie aus der Herzegowina stammt und dessen Mutter bei Frau Gruber putzt. ...

Eine Anziehung, die keiner richtig erklären kann: Martha Gruber, 40 Jahre und Professorin - Željko alias Jimmy, 15 Jahre, dessen Familie aus der Herzegowina stammt und dessen Mutter bei Frau Gruber putzt. Jimmy erledigt während der Sommerferien einige Arbeiten in Haus und Garten. Bei Grubers gibt es eine riesige Hausbibliothek, Jimmys Familie besitzt nur zwei Bücher. Für den Jungen liegt hier der Unterschied zwischen seiner Familie und den Grubers, nicht in Haus, Pool und Auto. Der Zugang zu Bildung scheint ihm die universelle Lösung zu sein.

"Ganz gleich, wie viele Arbeitsstellen meine Eltern noch annehmen würden - hier sah ich alles, was ich von ihnen nie würde bekommen können. Hier in diesem Raum, das dachte ich damals, lag das verborgen, was die Voraussetzung dafür sein musste, ein kluger Mensch zu sein." (S. 52)

Als die Ferien vorbei sind, trennen sich die Wege der beiden. Jimmy beginnt nach dem Abitur ein Studium in München. Hier trifft er auf den umschwärmten Literaturprofessor Alex Donelli und wird durch einen Zufall sein Assistent. Er wird Martha wieder begegnen. Eine Reise in die Herzegowina und illegale Geschäfte stehen ihm bevor, ehe er endlich glücklich werden wird - anders als er es sich gedacht hatte.

Mir haben die ersten 110 Seiten wahnsinnig gut gefallen. Wie Jimmy über sein Leben reflektiert, die Zukunft, seine Familie, was es heißt "nicht deutsch" zu sein, das war in Verbindung mit der Sprache ganz großartig zu lesen. Der Roman ist in der Ich-Perspektive des Protagonisten im Rückblick verfasst, deswegen spricht und reflektiert der 15-Jährige wie ein Erwachsener. Als Martha erneut in "Jimmys" Leben tritt, hat sich der "Sound" der Geschichte irgendwie geändert und ich habe diese Passagen nicht mehr mit der gleichen Begeisterung gelesen. Die intime Beziehung der beiden empfand ich als - sagen wir mal - irritierend. Zum Ende hin hat es mir dann wieder besser gefallen, obwohl die Handlung nach dem ersten Drittel eher episodenhaft wurde und ich auch nicht mit allem etwas anfangen konnte. Was sollte z.B. die Szene im Heizungskeller? Die Stringenz ging für mich teilweise verloren und auch ein bisschen die Leichtigkeit.

Dennoch ist das Buch lesenswert. Es gibt so viele schlaue Sätze, die zum Nachdenken anregen. Über das Leben im Allgemeinen, über Glück und wie man sich fühlt, wenn man keine richtige Heimat mehr hat.

Und es gibt viele witzige Sätze in diesem Roman, der über weite Strecken sehr unterhaltsam ist und ich fand Jimmy und seine weitverzweigte Familie sehr sympathisch und ich habe mit ihnen mitgefühlt. Der Autor hat seine Figuren ganz liebevoll gestaltet und die Geschichte ist gespickt mit gut beobachteten Details. Die Lesewut, die nur durch die Altpapiercontainer gestillt werden kann, der Besuch beim BIZ, die Arbeit an der Uni und mit Donelli, die Begegnung mit der Reinigungsfrau bei CBM etc.

Jimmy versucht sein Glück (und seinen Weg heraus aus der Zwei-Zimmer-Wohnung seiner Familie) zu finden, aber er findet es nicht mit Martha und er findet es nicht mit Donelli. Dieses Beziehungsgeflecht, wer hier was von wem will und wer wen möglicherweise ausnutzt, fand ich sehr gelungen kreiert.

Ich möchte noch viel mehr schreiben, um die vielen Aspekte des Buches anzusprechen, das sollte aber bis hier her genügen, um neugierig zu machen, oder?


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Veröffentlicht am 01.12.2022

Poetische Reise ins winterliche Norwegen

Das Eis-Schloss
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Die Handlung ist in wenigen Sätzen zusammengefasst: Ein kleiner Ort in Norwegen. Das Mädchen Unn kommt als Waise zu ihrer Tante, hält sich von den anderen Kindern in der Schule aber scheu zurück. Eines ...

Die Handlung ist in wenigen Sätzen zusammengefasst: Ein kleiner Ort in Norwegen. Das Mädchen Unn kommt als Waise zu ihrer Tante, hält sich von den anderen Kindern in der Schule aber scheu zurück. Eines Tages gehen Blicke zwischen ihr und der elfjährigen Siss, der Anführerin, hin und her und schließlich verabreden sich die beiden Mädchen. Unmittelbar entsteht eine Verbundenheit, ein Verstehen, das für die Leser in seiner Tiefe nur zu erahnen ist. Diese eine freundschaftliche Begegnung reicht aus, um das Gefüge in der Klasse und dann auch im Dorf durcheinander zu wirbeln, denn am nächsten Tag verschwindet Unn. Ihre Abwesenheit reißt Siss in eine Trauer, die für die anderen unverständlich ist.

Tarjei Vesaas gilt als einer der bedeutendsten norwegischen Schriftsteller des letzten Jahrhunderts und wurde mehrfach für den Literaturnobelpreis nominiert. Das besondere an seinen Texte ist, dass er sie auf Nynorsk verfasste. Diese Sprache basiert auf westnorwegischen Dialekten. Inwieweit der spezielle Klang dieser Sprache in die Übersetzung einfließen konnte, vermag ich nicht zu sagen. Das Buch liest sich aber nicht wie ein klassischer Roman. Die Handlung ist recht übersichtlich, aber die Darstellung der Natur, vor allem des Eis-Schlosses, bei dem es sich um das kunst- und geheimnisvolle Gebilde rund um einen Wasserfall handelt, ist unglaublich poetisch beschrieben. Fast schon mystisch bewegen wir uns mit den Figuren durch den Wald, am Fluss entlang und bis zum Eis-Schloss. Es ist der zentrale Ort in dieser Geschichte, es ist Ziel, Unheil und Erlösung. Von Beginn an dröhnt immer wieder das Eis auf dem See und schafft eine bedrohliche Atmosphäre.

In kleinen Kapiteln, kurzen Sätzen und knappen Dialogen, die von der warmherzigen aber eher zurückhaltenden Dorfgemeinschaft zeugen, erschafft der Autor quasi ein literarisches Eis-Schloss, das alles in sich birgt, bis es der Frühling endlich wieder frei gibt.

Ich habe das Buch gerne gelesen, es passt hervorragend in diese Jahreszeit und regt zum Mit- und Nachdenken an.

Aus dem Norwegischen übersetzt von Heinrich Schmidt-Henkel.


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Veröffentlicht am 01.11.2022

Ein Amerikaner in Paris

Giovannis Zimmer
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Der Amerikaner David lebt mehr schlecht als recht im Paris der 50er Jahre. Er läßt sich treiben, zieht durch die Bars und Cafés. Seine Freundin ist nach Spanien gereist, um über seinen Heiratsantrag nachzudenken. ...

Der Amerikaner David lebt mehr schlecht als recht im Paris der 50er Jahre. Er läßt sich treiben, zieht durch die Bars und Cafés. Seine Freundin ist nach Spanien gereist, um über seinen Heiratsantrag nachzudenken. In ihrer Abwesenheit begegnet David dem Italiener Giovanni und hat nun nicht mehr die Kraft, sich abzuwenden, die Anziehungskraft ist zu groß. Bereits bei dieser ersten Begegnung wird David prophezeit, wie diese Beziehung enden wird: "Du wirst sehr unglücklich werden. Denk an meine Worte." (S. 50)

Bald schon zieht der Amerikaner wegen Geldmangels in das titelgebende kleine Zimmer Giovannis, dessen heruntergekommener Zustand für David sein eigenes Ich widerspiegelt. Die Liebe, die er für Giovanni empfindet, läßt ihn diesen gleichzeitig hassen. Er macht Giovanni für seine eigene empfundene Scham und Panik verantwortlich. Schließlich will er dem Zimmer nur noch entkommen.

Auch wenn die Zeit, die David und Giovanni in dem Zimmer verbringen, gar nicht lang ist, steht es doch im Zentrum des Romans. Rein äußerlich dadurch, dass seine Beschreibung genau in die Mitte des Textes fällt. Die Wände rücken für David mit der Zeit immer enger zusammen und scheinen ihn zu erdrücken. Giovanni schlägt eine Wand auf, um ein Bücherregal einzubauen. Eine schöne Metapher, für den Versuch, die Enge des Zimmers für David zu weiten.

Baldwins Buch besticht u.a. durch die Darstellung der Pariser Szene der 1950er Jahre, in der sich die beiden Protagonisten bewegen. Schonungslos schreibt er, der Schwarze Autor, über weiße "alte Tunten" und junge Männer, die sich diesen oft angeekelt mehr oder weniger an den Hals werfen und so zu überleben versuchen. Wie viel Geld können sie diesen abpressen, bevor es die Jungen nicht mehr aushalten?

Die Geschichte wird aus der Perspektive von David erzählt und enthält daher viele Gedanken und Selbstgespräche über dessen Situation. Die Zerrissenheit macht Baldwin ganz deutlich: David schämt sich für sein Begehren, sein Schwulsein und hat Angst, dadurch in die Szene abzurutschen, die er eigentlich verachtet; darum will er aus dem Zimmer fliehen und Giovanni zurücklassen. Mit ihm ist kein amerikanisches Standardleben möglich.

Das Buch ist sehr eindrücklich und es hat mir gut gefallen. Es läßt einen aber auch betroffen zurück, mit einem Gefühl, dass hier jemand verraten, ja geradezu geopfert wurde, weil er nicht in die Gesellschaftsordnung passt. Ich habe den Roman vor allem gelesen, weil in "Im Wasser sind wir schwerelos" darauf Bezug genommen wird. Das Buch von Tomasz Jedrowski habe ich dann anschließend gelesen und das war eine gute Wahl.

Interessante Einblicke in das Leben des Autors James Baldwin und Parallelen zum Roman, der seinerzeit vom amerikanischen Verlag abgelehnt wurde, finden sich im Nachwort von Sasha Marianna Salzmann.

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Veröffentlicht am 18.09.2022

Monumentalwerk über eine Ausnahmeerscheinung

Sontag
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Fast sechs Wochen hat mich dieses monumentale Werk mit 805 Seiten Text und weiteren 120 Seiten Anhang begleitet. Es läßt mich zwiegespalten zurück, was auch ein treffendes Adjektiv für Susan Sontag ist.

Benjamin ...

Fast sechs Wochen hat mich dieses monumentale Werk mit 805 Seiten Text und weiteren 120 Seiten Anhang begleitet. Es läßt mich zwiegespalten zurück, was auch ein treffendes Adjektiv für Susan Sontag ist.

Benjamin Moser hat für seine 2020 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Biographie sehr viel Material ausgewertet, u.a. die fast 100 Bände umfassenden Tagebuchaufzeichnungen von Sontag, und er hat zahlreiche Gespräche mit Weggefährt*innen geführt. Das Buch ist in vier Teile mit ingesamt 43 Kapiteln eingeteilt, was das Lesen strukturiert. Inhaltlich geht es dann jeweils um einen bestimmten Aspekt ihres Lebens, einer Beziehung oder ihres Werkes. Ergänzt wird der Text durch zwei Bildtafeln mit zahlreichen Fotos.

Da Sontag in ihrem Leben so immens viele Menschen getroffen hat, ihr Werk von so vielen Personen beeinflusst wurde und kaum etwas davon unkompliziert war, war auch das Lesevergnügen für mich begrenzt. Es gibt ungemein interessante Bezüge und Einblicke in ihr Werk, allerdings verschwindet vieles in diesem überbordenden Angebot von Informationen. Vielfach verliert sich der Autor in eigenen Analysen und Interpretationen über andere Autoren etc. Das ging mir in vielen Fällen einfach zu weit, entfernte sich zu sehr vom Kern des Buches und war oft auch einfach ermüdend. Die Sprache erschien mir zudem stellenweise zu anspruchsvoll. Die gerade in der ersten Hälfte des Buches häufigen philosophischen und literaturtheoretischen Betrachtungen haben meine Aufnahmefähigkeit an ihre Grenzen gebracht. Es fällt mir jetzt am Ende schwer, eine Art Resümee zu geben. Ich müsste alle markierten Stellen noch mal nachlesen. Es lassen sich die Meilensteine herauspicken, ja, aber das wäre auch mit weniger Seiten möglich gewesen.

In dieser Biographie steckt unfassbar viel Arbeit, Moser hat neun Jahre daran gearbeitet. Ich würde sie jeder ans Herz legen, die sich intensiv und auf hohem Niveau mit der Autorin, der philosophischen, literaturtheoretischen und psychologischen Entwicklung ingesamt und der künstlerischen und politischen Entwicklung ihrer Zeit und dem komplizierten Geflecht zwischenmenschlicher Beziehungen auseinandersetzen möchte. Dafür hat dieses umfängliche Werk ohne Frage einen festen Platz im Regal verdient. Für einen Einstieg in das Thema "Sontag", um kompakt etwas über diese Ausnahmeintellektuelle, diese streitbare, von Selbstzweifeln geplagte und innerlich zerrissene Frau zu erfahren, ist das Buch jedoch meines Erachtens nur bedingt zu empfehlen. Zuvor hatte ich bereits die von Daniel Schreiber wesentlich kompakter verfasste Biographie "Susan Sontag. Geist und Glamour" (2007) gelesen, die sich für einen umfassenden ersten und mehr als soliden Einblick besser eignet. Dennoch ist "Sontag" von Moser insgesamt eine Lektüre, die ich nicht missen möchte, trotz der Kritik.

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Veröffentlicht am 08.09.2022

Lebenslange Suche nach Heimat und Halt

Zugvögel
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Wie den Zugvögeln fällt es Franny Lynch schwer, länger an einem Ort zu bleiben. Sie fühlt eine tiefe Verbundenheit mit dem Meer und den Vögeln, die insgesamt nicht nur vom Aussterben bedroht sind, sondern ...

Wie den Zugvögeln fällt es Franny Lynch schwer, länger an einem Ort zu bleiben. Sie fühlt eine tiefe Verbundenheit mit dem Meer und den Vögeln, die insgesamt nicht nur vom Aussterben bedroht sind, sondern bereits kaum noch gesichtet werden. Für die junge Frau ist es eine innere Notwendigkeit, den letzten Küstenseeschwalben von Grönland bis in die Winterquartiere in der Antarktis zu folgen - um jeden Preis. Als sie tatsächlich ein Fischerboot findet, das sie mitnimmt, wird die lange Fahrt zu einer Reise in die eigene Vergangenheit.

Die Handlung spielt in einer nicht genauer definierten Zukunft, die allerdings näher ist, als wir uns wünschen. Das fatale Aussterben verschiedener Tierarten geht einem wirklich sehr zu Herzen, verstärkt durch den intensiven Schreibstil der Autorin. Da die Geschichte immer wieder zwischen verschiedenen Zeitebenen in Frannys Leben hin und her springt, ist teilweise konzentriertes Lesen erforderlich und am besten auch längere Passagen am Stück. Die Charaktere sind alle gut herausgearbeitet, jeder und jede wird mit einer individuellen, glaubhaften und schicksalhaften Biographie versehen. Allerdings ist mir die Protagonistin nicht sehr nahe gekommen. Sie bleibt für mich in einigen Teilen ihres Wesens ein Rätsel. Vielleicht waren mir in ihrer Familie auch einfach zu viel "Schicksal", zu viele Metaphern und zu viel "Flucht" vorhanden.

Dennoch ist die Geschichte sehr lesenswert, die einmal mehr den Finger in die Wunde "Klimawandel" legt. Diese globale Katastrophe wird geschickt in eine dramatische Lebensgeschichte eingebunden und umspült von den Wellen des Atlantiks.

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