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Veröffentlicht am 16.01.2023

Voller Selbstironie und Empathie

Das glückliche Geheimnis
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REZENSION – War es vielleicht doch der literarische Erfolg, der Arno Geiger (54) letztlich zwang, mit seiner im Januar bei Hanser Literaturverlage veröffentlichten autobiografischen Erzählung „Das glückliche ...

REZENSION – War es vielleicht doch der literarische Erfolg, der Arno Geiger (54) letztlich zwang, mit seiner im Januar bei Hanser Literaturverlage veröffentlichten autobiografischen Erzählung „Das glückliche Geheimnis“ sein über 25 Jahre geheimnisvolles „Doppelleben“ als unbeachteter Altpapiersammler in den Straßen Wiens und inzwischen mehrfach ausgezeichneter Autor preiszugeben? Freimütig und voller Selbstironie erzählt der österreichische Schriftsteller auf knapp 240 Seiten über seine schwierigen Anfangsjahre als schreibender Student und unbekannter Literat in Wien, über die damit einhergehenden Enttäuschungen und gelegentliche Hoffnungslosigkeit. „Diese Offenheit passiert mir nicht einfach, ich entscheide mich bewusst für sie, weil ich glaube, das sie das Leben sichtbar macht. Das ist es, worum es mir in der Literatur geht: das Leben sichtbar und dadurch verständlicher machen.“
Vor 25 Jahren begann er auf den Straßen Wiens nicht nur, seinen Frust abzustrampeln, sondern in den Altpapiertonnen nach verwertbarem Material wie Bücher, Tagebücher, Postkarten und Briefen zu suchen. „Meine künstlerische Entwicklung wurde nicht nur von Weltliteratur vorangetrieben, sondern ganz wesentlich auch von Abfall. … Erfahrungen, die außerhalb meiner Reichweite lagen, wurden mir zugänglich.“ Geiger erzählt vom Suchen und Finden – nicht nur von weggeworfenen Briefen anderer Menschen, sondern auch von sich selbst. Als junger, noch erfolgloser Schreiber war er auf der Suche nach sich selbst, zweifelte oft an seiner Berufung. Die Erfolge des jungen Österreichers lagen damals eher auf anderem Gebiet: „Als ich im Herbst eingeklemmt war zwischen mehreren Frauen, bekam ich vom Nervenstress Hautausschlag. Ich war auf ein Bohèmeleben aus gewesen und musste mit großem Bedauern feststellen, dass ich dem nicht gewachsen war. Nicht mein Metier.“
Er konzentriert sich doch lieber auf das Schreiben: „Man kann einige Jahre erfolgreich mit dem Rücken zu den Tatsachen leben, aber irgendwann gehen die Tatsachen um einen herum, und dann blickt man ihnen ins feindliche Gesicht.“ Endlich wendet sich sein Schicksal: Trotz Ablehnung seines Verlags reicht Geigers Lektor seinen Roman „Es geht uns gut“ zum Deutschen Buchpreis 2005 ein – und gewinnt ihn. Geigers Leben ändert sich. Überall wird er plötzlich herumgereicht und hofiert. Dennoch bleibt er bei seinen Runden zu den Altpapier-Containern. „Durch den sich nun einstellenden beruflichen Erfolg und den damit verbundenen gesellschaftlichen Aufstieg veränderte sich die Perspektive, veränderte sich das Sinnbild. Jetzt standen die Runden für Eigensinn, waren Ausdruck der Fähigkeit, unkonventionelle Wege zu gehen.“ Seine Altpapierfunde bleiben seine entscheidende Inspirationsquelle, „mein versteckter Eingang zu jener unterirdischen Welt, die der Gegenstand der Literatur ist.“
Parallel zur amüsanten Schilderung seines anfangs noch hoffnungslosen Werdegangs schildert Geiger im Rückblick des inzwischen abgeklärten 54-Jährigen voller Selbstironie von seinem meist komplizierten Verhältnis zu Frauen, nicht zuletzt zu seiner heutigen Ehefrau K., die nach langjähriger Beziehung erst ein halbes Jahr nach Geigers Antrag diesem zustimmte. Ganz anders, tief berührend und schmerzend, offenbart Geiger auch das Schicksal seiner Eltern, die beide gleichzeitig im Rollstuhl sitzen, der Vater an Alzheimer erkrankt im Pflegeheim, die Mutter nach einem Schlaganfall gelähmt im Krankenhaus. Der Sohn begleitet seine Eltern bis zu deren Tod und schämt sich seiner Tränen nicht.
„Ein glückliches Geheimnis ist gelüftet“, schließt Geiger seine Erzählung. „Ich schreibe ein letztes Kapitel. … es wäre zu wünschen, dass alle, die das Buch lesen, darin etwas für sie Wichtiges finden.“ Davon darf der Autor getrost ausgehen. Sein Buch ist ehrlich, lebenserfahren mit allen Höhen und Tiefen, mal beklemmend offen, mal im Rückblick ironisch über sich selbst schmunzelnd. Nach Lektüre seines empathischen, stellenweise tief berührenden Buches wünscht man Geiger den erhofften Erfolg. Dies mag sich auch darin zeigen, dass irgendwann ein zerlesenes Exemplar im Altpapier-Container zu finden sein wird, wie es Geiger einst selbst auf einer seiner geheimnisvollen Runden mit der Taschenbuchausgabe seines Romans „Es geht uns gut“ (2005) passiert ist.

Veröffentlicht am 03.01.2023

Spannende Fantasy, historisch interessant

Die Bücher, der Junge und die Nacht
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REZENSION – Schon in seinen eher für junge Leser verfassten Romanen vergangener Jahre hatte sich der vielfach prämierte Schriftsteller Kai Meyer (53) dem Thema der Bibliomanie, also der übersteigerten ...

REZENSION – Schon in seinen eher für junge Leser verfassten Romanen vergangener Jahre hatte sich der vielfach prämierte Schriftsteller Kai Meyer (53) dem Thema der Bibliomanie, also der übersteigerten bis krankhaften Leidenschaft zum Sammeln von Büchern, sowie der Bibliomantik, mit Hilfe von Büchern magische Kräfte ausüben zu wollen, zugewandt. Doch während sich die Figuren des „Meisters der deutschen Phantastik“ in dessen Trilogie „Die Seiten der Welt“ (2014-2016) sowie im zweibändigen Roman „Die Spur der Bücher (2017/2018) noch in reinen Fantasy-Welten bewegten, ist Kai Meyers neuester Roman „Die Bücher, der Junge und die Nacht“, im November 2022 beim Knaur Verlag erschienen, ganz anders konzipiert und allein schon deshalb lesenswert.
Seine diesmal für erwachsene Leser geschriebene „Liebeserklärung an die Welt der Bücher“, wie es der Verlag im Klappentext ausdrückt, spielt im Gegensatz zu üblichen Fantasy-Romanen nicht in einer mittelalterlich anmutenden Märchenwelt, sondern die fiktive Handlung ist im durchaus realen Umfeld der historischen Bücherstadt Leipzig und dessen Graphischem Viertel verortet und in die Neuzeit der Jahre 1933, 1943 und 1971 verlegt. Gerade dieses Spannungsfeld zwischen einerseits absoluter Realität von Ort und Zeit und andererseits der eher mystisch als phantastisch wirkenden Handlung macht Meyers Roman „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ auch für Nicht-Fantasy-Leser zu einer interessanten und spannenden Lektüre.
Die Chronologie der Geschichte – in wechselnden Zeitsprüngen abschnittweise erzählt, ohne allerdings den Leser zu verwirren – beginnt 1933, dem Jahr der Machtergreifung der Nazis, im Graphischen Viertel der alten Bücherstadt Leipzig. Juliana Pallandt, Tochter des mächtigen Leipziger Verlegers Konrad Pallandt, mit dem der benachbarte Antiquar und Buchbinder Jakob Steinfeld verfeindet ist, bittet ausgerechnet ihn, das Manuskript eines von ihr verfassten Buches zu binden. Steinfeld lehnt zunächst ab, verliebt sich aber spontan in die junge Frau. Bald darauf ist Juliana verschwunden. Vierzig Jahre später bittet die Bibliothekarin Marie den mit ihr befreundeten Kollegen Robert Steinfeld, Jakobs Sohn, der allerdings seine Eltern nie kennenlernte, die Bibliothek des seit Kriegsende in München wirkenden und nun verstorbenen Verlegers Konrad Pallandt aufzulösen. Einige dort aufgefundene Bände aus der Leipziger Buchbinderei Steinfeld geben den beiden Experten allerdings Rätsel auf, weshalb das Paar den Spuren bis hin zu jenen unheilvollen Ereignissen der 1930er und 1940er Jahre in Leipzig nachgeht. Dabei stoßen sie auf das Mysterium des Buches „Das Alphabet des Schlafs“, dessen Geschichte eng mit Roberts eigener verknüpft ist, und des einzigen Exemplars eines angeblich magischen, vielleicht sogar teuflischen Buches mit dem Titel „Der König im Exil“, das einst im Besitz der Buchbinder-Loge der „Dreizehn Meister“ war.
Kai Meyer versteht es ausgezeichnet, seine rein fiktive Geschichte um die bibliophilen Steinfelds, die Drucker- und Verlegerfamilie Pallandt sowie Pallandts geheimnisvollen Sekretär Flügelschlag und die historische Buchbinder-Loge im Umfeld des Graphischen Viertels so plastisch, in atmosphärischer Dichte packend und realitätsnah zu schildern, dass man versucht ist, im Internet Informationen über die „Dreizehn Meistern“ zu finden. So ist der Roman „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ einerseits eine spannend geschriebene Fiktion, wobei die Tragik des Geschehens hin und wieder humorvoll aufgelockert wird, andererseits aber auch ein interessantes Stück Zeitgeschichte über die Bücherstadt Leipzig während der Weimarer Republik und der Kriegsjahre bis hin zu jener Nacht am 4. Dezember 1943, in der 1 800 Menschen im Bombenhagel umkamen und das Graphische Viertel zerstört wurde. Zudem dürfte dieser Roman mit seinen Beschreibungen des Steinfeld'schen Antiquariats, des Handwerks der Buchbinder, der Pallandt'schen Bibliothek und den Bezügen zu Werken klassischer Literatur wohl jeden wahren Bücherfreund begeistern.

Veröffentlicht am 04.12.2022

Abenteuerlich und historisch sehr interessant

Labyrinth der Freiheit
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REZENSION - Nach „Schatten der Welt“ (2020) und „Revolution der Träume“ (2021) erschien nun mit „Labyrinth der Freiheit“ im November beim Dumont Buchverlag der letzte Band der historischen Trilogie „Wege ...

REZENSION - Nach „Schatten der Welt“ (2020) und „Revolution der Träume“ (2021) erschien nun mit „Labyrinth der Freiheit“ im November beim Dumont Buchverlag der letzte Band der historischen Trilogie „Wege der Zeit“. Darin begleitet der Schriftsteller und Drehbuch-Autor Andreas Izquierdo (54) drei junge Menschen – den schüchternen Carl, den draufgängerischen Artur und die eigensinnige Isi – auf ihrem Lebensweg während der Wirren des frühen 20. Jahrhunderts, beginnend 1910 in der westpreußischen Kreisstadt Thorn bis zum Inflationsjahr 1923 in Berlin.
Der dritte Band beginnt in Berlin im Jahr 1922, wo sich die drei jungen, charakterlich so unterschiedlichen Freunde nach Ende des Ersten Weltkriegs und dem Verlust ihrer Heimat – Thorn gehörte seit dem Versailler Vertrag ab 1920 zu Polen – wiedergefunden hatten und es seitdem mehr oder minder erfolgreich geschafft haben, sich ein eigenständiges Leben als junge Erwachsene aufzubauen. Der Fotograf Carl ist Kameramann bei der UFA, Artur hat esals „Edel-Ganove“ – aber falls erforderlich auch vor Mord nicht zurückschreckend – zum Kiez-König in der Berliner Unterwelt geschafft und Isi hat es durch ihre Hochzeit mit dem dandyhaften Adelssprössling Aldo von Torstayn in den Adelsstand geschafft. Soweit scheint es, als wäre nach den Wirren des Krieges im Leben der drei Freunde etwas Ruhe eingekehrt. Doch neues Unheil kündigt sich an: Die Weimarer Republik steuert auf die Inflation zu und die konservativen Feinde der jungen Demokratie, in deren Einflussbereich über altbekannte Widersacher aus Thorn auch die drei Freunde geraten, werden im Untergrund aktiv: Artur, Isi und Carl entgehen nur knapp einem von rechtsgerichteten Verschwörern unternommenen Mordanschlag. Doch Artur geht mit seinen Männern vom Ringverein zum Gegenangriff über.
Wie die beiden Vorgänger liest sich auch der dritte Band „Labyrinth der Freiheit“ wieder gleichermaßen als spannender Abenteuer- und informativer Geschichtsroman. Izquierdo gelingt es meisterhaft, uns auf leicht lockere Art mit den historischen Fakten, ihren Ursachen und Folgen sowie den gesellschaftlichen Begleitumständen vertraut zu machen. Wir erfahren fast beiläufig die wichtigsten politischen Hintergründe, die – als Folge des von vielen Deutschen damals nicht akzeptierten Versailler Vertrags – in die Radikalisierung konservativer Gruppierungen und zum schleichenden Erstarken der Nazis führen: „Einhunderttausend Nationale in Nürnberg feierten sich zwei Tage lang selbst, angeführt von einem gewissen Adolf Hitler, dessen NSDAP mir erst Anfang des Jahres zum ersten Mal aufgefallen war.“
Wir erleben die anfangs noch schleichende Inflation als Folge der Deutschland überfordernden Reparationszahlungen bis hin zur Hyperinflation des Jahres 1923. Wir beobachten die Zweiteilung der deutschen Gesellschaft in wohlhabende Kriegsgewinnler in ihren Villen und in Arme-Leute-Vierteln hungernde Kriegsverlierer sowie das Chaos einer scheinbar rechtlosen Zeit, in der die mafiös-strukturierten Ringvereine Berlins mit Anführern wie Artur als eigentliche Herrscher das Alltagsleben in ihren Stadtvierteln zu bestimmen scheinen. Nicht zuletzt lernen wir durch Carls Arbeit bei der UFA viel über die ruhmreiche Schaffenszeit der deutschen Filmwirtschaft sowie über die das Filmgeschäft revolutionierende Wende vom Stumm- zum Tonfilm und hören von noch heute berühmten Regisseuren wie Erich Pommer und Fritz Lang.
Es gelingt Andreas Izquierdo auf erstaunliche Weise, diese fast grenzenlos wirkende Sammlung politischer, wirtschaftlicher sowie gesellschaftlicher Fakten und Aspekte scheinbar mühelos in die abenteuerliche Lebensgeschichte der drei Freunde einzubauen, so dass trotz allem historisch Wissenswerten niemals das Gefühl aufkommt, vom Autor historisch belehrt zu werden. Vielmehr nimmt man dank des lockeren Schreibstils eines Unterhaltungsromans diese wichtigen Informationen eher nebenbei und unbewusst auf, während man den drei Freunden in ihrem aufreibenden Alltag folgt. Es lohnt sich also aus vielerlei Gründen, Izquierdos Roman „Labyrinth der Freiheit“ zu lesen. Hilfreich wäre es sicher, die beiden früheren Bände schon zu kennen. Doch auch unabhängig davon ist auch dieser dritte Band der Trilogie „Wege der Zeit“ wieder eine lohnende Lektüre.

Veröffentlicht am 25.10.2022

Besser als jede Talkshow zum Thema

Der Milchmann
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REZENSION – Obwohl der „Der Milchmann“ schon im Jahr 1999 erstmals erschien, hat der jetzt im Verlag Langen-Müller erneut veröffentlichte Roman des in Israel geborenen und seit seinem zehnten Lebensjahr ...

REZENSION – Obwohl der „Der Milchmann“ schon im Jahr 1999 erstmals erschien, hat der jetzt im Verlag Langen-Müller erneut veröffentlichte Roman des in Israel geborenen und seit seinem zehnten Lebensjahr in Deutschland lebenden Schriftstellers und Historikers Rafael Seligmann (75) auch nach 23 Jahren nichts an seiner gesellschaftspolitischen Brisanz verloren. Im Gegenteil: Angesichts des aktuell wachsenden Antisemitismus ist er aktuell wie zuvor und kann immer noch zum besseren Verständnis des deutsch-jüdischen wie des deutsch-israelischen Verhältnisses beitragen. Denn beiderseitiges Verständnis, aber auch Streit - „Streit wie in der Judenschule“ - sind nach Seligmanns Auffassung unabdingbare Voraussetzung, um die nach dem Holocaust zurückgebliebenen seelischen Verletzungen bei Opfern und Tätern sowie bei deren Nachkommen zu heilen. Diese tiefgreifende Vielschichtigkeit der Konflikte nach der Shoah bei den Überlebenden, ihren Angehörigen und deren Nachkommen beschreibt Seligmann, selbst Sohn eines jüdischen Emigranten aus Bayern, in seinem „Milchmann“.
Der aus Polen stammende 70-jährige Jakob Weinberg hat das Vernichtungslager Auschwitz überlebt und lebt in den 1990er Jahren als angesehener Geschäftsmann nach dem Tod seiner jüdischen Ehefrau mit einer nicht-jüdischen Geliebten in München. Seine jüdischen Freunde, alle wie er selbst osteuropäische Überlebende der Shoah, nennen ihn den „Milchmann“. Damals im Vernichtungslager hatte er eine Kiste Trockenmilch gefunden und soll damit – so wird erzählt – seine Mithäftlinge vor dem Hungertod gerettet haben. Weinberg hat dieser Legende aus Eigennutz nie widersprochen. So weit, so gut. Als sein Arzt ihm im Jahr 1995 eine Gewebeprobe entnimmt, um sie im Labor untersuchen zu lassen, wird Weinberg von Todesangst gepackt. Und es kommt noch schlimmer: Nicht nur, dass seine beiden verheirateten Kinder und seine junge Geliebte ihn wegen des beträchtlichen Erbes unter Druck setzen und zusätzlich seine Kumpel von ihm Geld für die Operation eines erkrankten Freundes fordern, sondern völlig ins Wanken gerät seine Welt, als der von ihm verehrte israelische Präsident Yitzhak Rabin einem Attentat zum Opfer fällt und Weinberg erkennen muss: Nicht nur die deutschen Nazis haben Juden ermordet, sondern jetzt ermordet ein Jude den anderen. Gibt es also auch jüdische Nazis? Sind die Grenzen zwischen Gut und Böse fließend?
Ist man als deutscher Leser gewohnt, in Büchern über den Holocaust und die Folgezeit eine meist klischeehaft pauschale Trennung zwischen Tätern (Deutsche) und Opfern (Juden) zu finden, sieht man sich in Seligmanns „Milchmann“ einer fast irritierenden anderen Sichtweise gegenüber: Der Autor beschränkt sich in seinem Roman ausschließlich auf Weinberg und seine jüdische „Mischpoke“, auf dessen eigene Familie und Freundeskreis, und zeigt die gesellschaftspolitischen Konflikte innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Es gibt demnach gravierende Unterschiede im Leben, Denken und Handeln zwischen den Generationen der Überlebenden aus Osteuropa und denen aus Deutschland, zwischen den in der jungen Bundesrepublik aufgewachsenen Kindern und den in Israel lebenden oder den nach Deutschland heimgekehrten Nachkommen – wie Rafael Seligmann selbst. Deutsche Juden sind also keineswegs als homogene Gesellschaftsgruppe anzusehen, sondern so unterschiedlich wie alle Menschen.
Seligmann lässt in seinem provozierenden Roman seine in Deutschland lebenden Glaubensgenossen nicht unverschont. In seinem Roman bestehen die Konflikte nicht zwischen Juden und Deutschen, sondern zwischen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration sowie zwischen den orthodoxen und liberalen Juden. Wegen seiner harschen „Kritik in alle Richtungen“ und seiner Forderung nach „mehr Normalität“ im Zusammenleben von Deutschen und Juden wurde Seligmann, der sich selbst als „deutscher Jude“ sieht, schon in den eigenen Reihen als „Nestbeschmutzer“ beschimpft. Doch gerade diese Offenheit und Ehrlichkeit des Autors lässt seinen Roman „Der Milchmann“ noch heute aktuell wirken, provoziert auch den heutigen Leser zum Nachdenken und macht das Buch auch 23 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung noch immer zu einer empfehlenswerten Lektüre: „Der Milchmann“ trägt leichter zum besseren Verständnis und Miteinander bei als jede Talkshow.

Veröffentlicht am 26.08.2022

Hintergründig, aber locker geschrieben

Ein Mädchen namens Wien
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REZENSION – Ist es wirklich der Mühe wert, eine Rezension über ein kleines Büchlein im Taschenbuchformat mit nicht einmal 90 Textseiten zu schreiben? Doch, sie lohnt sich – zumindest im Falle des im Juli ...

REZENSION – Ist es wirklich der Mühe wert, eine Rezension über ein kleines Büchlein im Taschenbuchformat mit nicht einmal 90 Textseiten zu schreiben? Doch, sie lohnt sich – zumindest im Falle des im Juli in der Edition Faust veröffentlichten Kurzromans „Ein Mädchen namens Wien“ der hierzulande völlig unbekannten libanesischen Schriftstellerin Sahar Mandûr. Seit Jahren setzt sich die 45-Jährige in ihrem Beruf als Journalistin in Beirut für die rechtliche, soziale und kulturelle Situation der Frauen in ihrem Heimatland ein. „Ein Frauenleben“ lautet auch der Untertitel dieser Erzählung, die in Auszügen erstmals in dem 2021 veröffentlichten Band „Kleine Festungen“ mit Geschichten über Kindheit und Jugend in arabischen Ländern auf Deutsch erschien, vorzüglich übersetzt vom Islamwissenschaftler und Arabisten Hartmut Fähndrich.
Tatsächlich schafft es Sahar Mandûr auf knapp 90 Seiten das Leben einer modernen, selbstbewussten Frau im heutigen Libanon mit allen Höhen und Tiefen und den sich daraus ergebenden Konflikten umfassend zu schildern. Die Geburt des Mädchen mit dem für Libanesen so ungewöhnlichen Namen Wien – der Vater schwärmte für österreichische Schlagermusik – fällt in die Zeit des libanesischen Bürgerkriegs, mitten in die Auseinandersetzung zwischen arabischen Nationalisten und prowestlichen Christen. Schon damit ist die Basis für die Suche dieser Frau nach dem Sinn ihres Lebens und ihrem Platz darin gelegt. Sie ist ein zwischen Tradition und Moderne, zwischen arabischer und europäischer Kultur hin- und hergerissenes Mädchen, in weiteren Kapiteln eine junge Frau. Nur dadurch, dass sie sich über alle Tabus und Denkverbote frech hinwegsetzt, versucht sie, sich ihren eigenen Platz in der Gesellschaft zu schaffen.
Auf ihrer mehrjährigen Suche probiert sie alle Möglichkeiten aus, die sich ihr jeweils bieten und verfällt von einem Extrem ins andere – sowohl im beruflichen Bereich, im Liebesleben wie auch im Glauben. Als moderne junge Frau lässt sie sich – wenn auch unwillig, aber der Tradition gehorchend – von den Eltern mit einem ihr unbekannten Mann verheiraten. „Die Atmosphäre zwischen ihm und mir ist recht angespannt, die Stunde der Wahrheit rückt bedenklich näher: In zwei Wochen soll die Hochzeit stattfinden, und die Braut ist keine Jungfrau mehr.“ Doch bald stellt sich zur Schande ihres Mannes heraus, das er zeugungsunfähig ist. „Die ersten fünf Ärzte, die wir aufsuchten, nannte er Lügner. Danach, wir hatten damals vier Jahre Ehe hinter uns, beging er Selbstmord. Nun war ich Witwe. Ich war eine lustige Witwe. Da man mich zwang, vierzig Trauertage in der Wohnung auszuharren, ging ich halt bei Nacht aus und kehrte im Morgengrauen zurück.“
Es ist dieser freche, mal ironische, mal sarkastische Stil der Autorin, mit der sie scheinbar locker das Leben der modernen Libanesin in kurzen, oft Jahre überspringenden Episoden erzählt. Doch diese Lockerheit, der Witz und die scheinbare Oberflächlichkeit der Erzählung täuschen nicht über die Tragik dieser zwiespältigen Lebensweise vieler modern eingestellter Libanesinnen hinweg. „Ein Mädchen namens Wien“ weist schon im Titel auf diesen Konflikt hin, sein Leben einerseits der muslimischen Tradition und Kultur verbunden zu sein, andererseits aber ein modernes, westlich orientiertes Leben genießen zu wollen. Frustriert über die offensichtliche Unmöglichkeit, ein ihr genehmes Leben im Libanon führen zu können, verlässt „Wien“ ihre Heimat voll positiver Erwartung in Richtung Paris.
Man darf davon ausgehen, dass Sahar Mandûr eigene Erfahrungen in diesem Büchlein verarbeitet hat, da sie als Libanesin einige Jahre in London Journalismus studiert und dort die westliche Lebenswelt selbst erfahren hat. Vielleicht lassen sich die gesellschaftlichen Konflikte, die sich den jungen Frauen heute im Libanon stellen, von ihnen tatsächlich nur mit einer gehörigen Portion Sarkasmus und selbstbewusster Überheblichkeit ertragen. Dies ist zumindest die Erkenntnis, zu der man als Leser aus dieser witzig-hintergründigen Erzählung kommen kann. Vielleicht scheinen 20 Euro für knapp 90 Seiten Text etwas viel. Aber die Geldausgabe lohnt sich in diesem Fall durchaus – auch für männliche Leser.