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Veröffentlicht am 22.12.2022

Ein gelungenes Thrillerdebüt

Die Assistentin
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Nein, so hatte Florence sich ihre „Karriere“ nicht vorgestellt. Eigentlich wollte sie in New York als Autorin groß rauskommen, also so richtig groß. Und der Einstiegsjob als Lektoratsassistentin bei einem ...

Nein, so hatte Florence sich ihre „Karriere“ nicht vorgestellt. Eigentlich wollte sie in New York als Autorin groß rauskommen, also so richtig groß. Und der Einstiegsjob als Lektoratsassistentin bei einem renommierten Verlag schien zumindest nicht der schlechteste Einstieg zu sein: erst berühmte Autor*innen betreuen und anschließend – bald, ganz bald – mit ihrem Erstlingsroman selbst in die Riege der Literaturstars aufsteigen.
Stattdessen ist ihr Berufsalltag denkbar öde und unbefriedigend, die poetische Kreativität stockt und irgendwie scheinen alle um sie herum so viel weltläufiger, belesener, gebildeter als sie selbst zu sein.
Gerade als Florence meint, den Tiefpunkt erreicht zu haben, erhält sie ein unverhofftes Angebot: Sie soll als persönliche Assistentin die geheimnisumwitterte Autorin Maud Dixon unterstützen. Außer deren Lektorin hat kein Mensch sie je zu Gesicht bekommen, niemand weiß, wie sie aussieht, wo sie lebt und welche Person sich hinter dem Pseudonym verbirgt. Für Florence ist klar: Das ist ihre große Chance!
Als Maud, deren Leben so anders ist als ihr eigenes – so stilvoll! So erstrebenswert! –, sie auch noch auffordert, sie auf eine Recherchereise nach Marokko zu begleiten, wähnt Florence sich im Paradies auf Erden. Doch dann erwacht Florence mit Erinnerungslücken an die vergangene Nacht allein im Krankenhaus, von Maud keine Spur. Zurück in ihrer Unterkunft, findet sie Mauds angefangenes Manuskript. Und das stellt alles, was sie zuvor mit Maud erlebt zu haben glaubt, in einem völlig anderen – und vor allem gefährlichen – Licht dar. Und in Florence reift ein ungeheuerlicher Plan, wie sie ihr eigenes Leben radikal zu ihrem Vorteil ändern kann …
Ich kann es nicht anders sagen: Mit „Die Assistentin“ (aus dem Amerikanischen von Regina Rawlinson) hat Alexandra Andrews ein fulminantes Thrillerdebüt vorgelegt. Mit Florence und Maud entwirft die Autorin zwei weibliche Hauptfiguren, die sich auf bemerkenswerte Weise der genretypischen klaren Klassifizierung in Protagonistin und Antagonistin entziehen. (Mal ehrlich: Je besser man die beiden kennenlernt, umso weniger würde man mit ihnen zu tun haben wollen.) Ebenso genreuntypisch und deswegen unbedingt erwähnenswert sind der ausnehmend fesselnde Schreibstil und die stellenweise beinahe philosophische Tiefe, mit der sich die Autorin der jeweiligen Identität, deren Formung und Entwicklung, der beiden unterschiedlichen (?) Frauen widmet.

Dazu faszinierende Schauplätze, überraschende Wendungen und eine verblüffende Auflösung – mehr kann man von einem gelungenen Psychothriller kaum erwarten. Große Leseempfehlung vor allem (aber nicht nur) für buchbegeisterte Thrillerfans.

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Veröffentlicht am 05.09.2022

Ein bemerkenswertes Debüt

Das neunte Gemälde
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„Guten Tag, mein Name ist Dupret. Gilles Dupret […] Spreche ich mit Dr. Lennard Lomberg?“

Als Lennard Lomberg, anerkannter Experte für NS-Beutekunst, diesen Anruf entgegennimmt, ahnt er nicht, was für ...

„Guten Tag, mein Name ist Dupret. Gilles Dupret […] Spreche ich mit Dr. Lennard Lomberg?“

Als Lennard Lomberg, anerkannter Experte für NS-Beutekunst, diesen Anruf entgegennimmt, ahnt er nicht, was für ein Abenteuer ihn erwartet. Es geht um ein geheimnisvolles Gemälde, dessen Rückgabe Lomberg belgeiten soll. Doch bevor der Kunsthistoriker sich mit den Einzelheiten vertraut machen kann, liegt Dupret tot in seinem Hotelzimmer und Lomber gerät ins Visier der Ermittlerin Sina Röhm. Lomberg beginnt, auf eigene Faust die rätselhaften Umstände zu ergründen, die ihn immer weiter in die Vergangenheit führen – und immer tiefer in die Geschichte seiner eigenen Familie …

Bonn, Paris, Barcelona, Luxemburg; 1943, 1966, 2016: Das sind nur einige Handlungsorte und -zeiten dieses rasanten Kunstkrimis, der den fulminanten Auftakt einer neuen Reihe um den charismatischen Kunstkenner Lennard Lomberg bildet.

Was mir persönlich besonders gefallen hat: Wenngleich die Handlung fiktiv ist, finden sich doch zahlreiche historische Verweise, die mein Wissen nicht nur während der – überaus spannenden und kurzweiligen – Lektüre bereichert haben. Ich habe mir so viele Stellen markiert, so vieles gegoogelt, nachgeschlagen, weiterrecherchiert wie schon lange nicht mehr (zumindest nicht bei einem fiktiven Roman).

Fazit: Ein nach wie vor aktuelles und brisantes Sujet, verpackt in eine dynamische Story mit charmant-lebendigen Figuren. Große Leseempfehlung an alle, die Krimis oder Kunst mögen, riesengroße Leseempfehlung an alle, die Krimis UND Kunst mögen.

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Veröffentlicht am 13.05.2022

Süffisant und subtil unheilvoll

Inmitten der Nacht
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Stell dir vor, du hast Urlaub. Endlich! Statt der Schwüle im stickigen Brooklyn erwartet dich eine Woche auf dem mondänen Long Island. Okay, für ein Haus direkt am Strand hat das Budget zwar nicht gereicht ...

Stell dir vor, du hast Urlaub. Endlich! Statt der Schwüle im stickigen Brooklyn erwartet dich eine Woche auf dem mondänen Long Island. Okay, für ein Haus direkt am Strand hat das Budget zwar nicht gereicht – doch dein Feriendomizil hat genau das Quäntchen Luxus mehr als deine Wohnung, dass es sich wie etwas Besonderes anfühlt, aber nicht einschüchtert. Das Wetter ist traumhaft, der Pool erfrischend. Du gibst zwar im Supermarkt mehr Geld aus als gewöhnlich, aber – hey! Es sind Ferien! Die Kids sind so entspannt wie lange nicht mehr, genau wie du selbst. Und auch die eheliche Romantik erfährt eine höchst zufriedenstellende Wiedergeburt. Es könnte nicht besser sein, denkst du, bis … ja, bis eines Nachts ein älteres Ehepaar vor der Tür deines Ferienhauses steht (das sich nach zwei Tagen tatsächlich bereits anfühlt, als sei es dein Haus) und behauptet, dein Vermieter zu sein. Sichtlich aufgelöst berichten sie dir von diesem plötzlichen Stromausfall in New York, der alles lahmgelegt hat. Und deswegen seien sie hierhergefahren, in ihr Ferienhaus, um dem Chaos in der Metropole zu entkommen. Man könne sich doch gewiss miteinander arrangieren? Nur für eine Weile? Nur so lange, bis man Näheres wisse? Indes – wann wird das sein? Das Internet ist ausgefallen, weder Radio noch TV sind noch verfügbar. Zudem scheinen sich die Tiere unversehens recht ungewöhnlich zu benehmen. Und das ist, wie es aussieht, gerade erst der Anfang …

„Inmitten der Nacht“ (Deutsch von Eva Bonné) war eine wahrlich außergewöhnliches Leseerlebnis. In ebenso bestrickendem wie süffisantem Erzählton entwirft Rumaan Alam ein Szenario, in dem scheinbar (?) unaufhaltsam (?) alles (?) außer Kontrolle gerät. Und meine eigenwillige Interpunktion deutet bereits das Vage, Fragwürdige, Rätselhafte an, das diesen Roman durchzieht. Ich habe bis zur letzten Seite gerätselt, was – und ob überhaupt etwas – vor sich geht. Sind die nächtlichen Besucher die, die zu sein sie vorgeben? Stimmt das, was sie berichten? Ist das, was wirklich erscheint, wirklich „wirklich“? Ich habe „Inmitten der Nacht“ kaum aus der Hand legen können. Aber vielleicht lag das (auch) daran, dass ich den Roman im Urlaub gelesen habe. Bei traumhaftem Wetter. Und in einem Feriendomizil, das ein Quäntchen mehr Luxus hatte als meine Wohnung …

Große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 27.12.2021

Bittersüß

Die Puppenspielerin
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„Noch hat sie alle Chancen der Welt, bis zum letzten Atemzug.“ (S. 100)

Die Zwillingsschwestern Sarah und Sophie sind auf das Engste miteinander verbunden. Lieben einander, verstehen sich blind, haben ...

„Noch hat sie alle Chancen der Welt, bis zum letzten Atemzug.“ (S. 100)

Die Zwillingsschwestern Sarah und Sophie sind auf das Engste miteinander verbunden. Lieben einander, verstehen sich blind, haben sich auch als längst erwachsene Frauen mit eigenen Familien und alltäglichen Pflichten ihre eigene, nur ihnen beiden zugängliche Welt kindlicher Phantasie bewahrt, sorgsam gehütet in ihrer gemeinsamen Leidenschaft, dem Puppenspiel. Die eine ersinnt Geschichten voller Zauber, die andere fertigt die Puppen, zusammen erwecken sie ihre verträumten Erzählungen zum Leben. Bis die Realität auf das denkbar Grausamste in ihr Leben einbricht.

Bei Sarah wird Lupus erythematodes diagnostiziert, der körperliche Verfall setzt beinahe augenblicklich ein. Krankenhausaufenthalte und Phasen daheim wechseln einander ab, so rasch, dass die Gefühle kaum damit Schritt halten können. Angst und Hoffnung, Sorge und Freude, das Herz wärmende Erinnerungen und die Seele gefrierende Arztvisiten bestimmen fortan das Leben Sophies wie aller Familienmitglieder. Und niemand weiß, wie lang …

Ich habe selten einen Roman gelesen, in dem ein so bedrückendes Thema so einfühlsam und erschütternd und gleichzeitig so warmherzig und heiter in Worte gefasst wurde. Sibylle Schleichers Ich-Erzählerin Sophie nimmt ihre Leser*innen mit auf eine Reise, die vom ersten Schritt an von dunklen Wolken überschattet ist, und doch bricht sich immer wieder ein unbeugsamer Sonnenstrahl durch das tiefe Grau. Wer je einen geliebten Menschen während einer schweren Krankheit begleitet hat, wird sich in jeder Zeile, in jedem Wort, in jedem einzelnen Gefühl wiederfinden: im Schock und in der Ungläubigkeit, der Ohnmacht und Wut, aber auch in der schier unversiegbaren Hoffnung und Liebe und dem unbändigen Wunsch, ein Wunder zu bewirken. „

Die Puppenspielerin“ ist kein Buch, das man verschlingen, sondern eines, das man wohldosiert auf sich wirken lassen sollte – um der Geschichte dieser beiden Zwillingsschwestern den Raum zu geben, den sie verdient.

Wenn es das Adjektiv „bittersüß“ nicht schon gäbe – für diesen Roman müsste man es erfinden.

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Veröffentlicht am 10.12.2021

Atmosphärisch und fesselnd

Das Meer von Mississippi
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„Dixie Clay dachte darüber nach, dass sie alle den Klang des Nichtregens vergessen hatten oder den Geruch von Nichtgestank.“ (S. 48)

Nach monatelangen, schier endlos scheinenden Regengüssen, die unzählige ...

„Dixie Clay dachte darüber nach, dass sie alle den Klang des Nichtregens vergessen hatten oder den Geruch von Nichtgestank.“ (S. 48)

Nach monatelangen, schier endlos scheinenden Regengüssen, die unzählige vereinzelte Überflutungen verursachten, trat der Mississippi im Frühling 1927 endgültig über seine Ufer. Die eh unzureichenden Dämme brachen und eine Flut, man möchte sagen: beinahe biblischen Ausmaßes ergoss sich über das Mississippi-Delta. Unzählige Menschen verloren ihre Häuser und ihre Heimat, ihre Familien – und das eigene Leben.

Vor dieser historischen Folie spielt die Geschichte von Dixie Clay und Ted Ingersoll im fiktiven Städtchen
Hobnob. Dixie ist die beste Schwarzbrennerin weit und breit (ihr „Black Lightning“ ist legendär), verhaftet in einer lieblos gewordenen Ehe und seit dem Tod ihres Babys ihrer einstigen Lebensfreude beraubt. Ingersoll ist ein ehemaliger Soldat, einst im Waisenhaus aufgewachsen, charakterfest – und nunmehr Prohibitionsagent. Sein Auftrag: Er soll gemeinsam mit seinem Chef zwei seit Wochen vermisste Kollegen ausfindig machen. Deren letzter bekannter Aufenthaltsort ist … Hobnob. Anstelle der verschwundenen Agenten trifft Ingersoll auf den Schauplatz eines Verbrechens, ein elternloses Baby – und Dixie …

„Das Meer von Mississippi“ von Beth Ann Fennelly und Tom Franklin (aus dem Amerikanischen von Eva Bonné) ist ein außerordentlich atmosphärischer Roman, der mich sowohl inhaltlich als auch sprachlich gefangen nahm. Ich habe den immerwährenden Regen gehört, die stets etwas klamme Kleidung, die Stiefel, die gar nicht mehr trocknen wollen, beinahe körperlich spüren können. Dabei gelingt es dem Autorenduo vortrefflich, die unterschiedlichsten Töne anzuschlagen, die sich erstaunlich harmonisch zu einem harmonischen Gesamtwerk fügen. Da ist die unerbittliche Wildheit der entfesselten Natur und die verzweifelte Härte der um ihr Überleben kämpfenden Menschen und zugleich eine schmerzliche Zärtlichkeit der Zuneigung und Fürsorge, der Liebe und Sehnsucht. Episch!

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