>> „Ich glaube, dass Tränen eine unbewusste Form der Sprache von uns sind. Wenn wir sehr traurig sind, können wir oft nicht mehr reden. Also übernimmt der Köper für uns das Sprechen.“ << (S. 197)
Aber was ist, wenn auch der Körper nicht mehr sprechen kann?
Jana weint nicht. Die meisten Emotionen verschließt sie lieber. Das Einzige jedoch, was sie oft überfällt, ist ihre Angst. Die Angst davor, Fehler zu machen, nicht genug zu sein, zu versagen, wieder weg geschickt zu werden, einem anderen zu nahe zu treten, die Angst davor wer Jana eigentlich wirklich ist. Um ihre Ausbildung zur Bauzeichnerin machen zu können, bekommt die 19 – Jährige eine Chance. Sie darf in einer Wohngemeinschaft auf Sylt mit vier anderen jungen Erwachsenen wohnen und für Anke und Klaas Völkner arbeiten.
Alle fünf WG Mitglieder verbindet eine Sache. Sie kommen aus einem betreuten Wohnheim oder schlechtem Elternhaus zu den Völkners, haben Probleme auf die eine oder andere Art und versuchen nun ihr Leben auf die Reihe zu bekommen. Ob Vanessa – die eher aufmüpfige Azubine zur Raumgestalterin, Lars – der sensible Landschaftsgartenbau Azubi, Tom – der machohafte Bürokauffmann oder Collin – der angehende Bauzeichner mit dem Hang zur Einsamkeit. Es gibt so viel zu erfahren, so viel aufzudecken, selbst um jeden Nebencharakter spinnt sich eine kleine und feine Geschichte. An ihrer Seite steht außerdem auch ihre Psychologin. Und diese Frau hab ich sowas von ins Herz geschlossen. Ihr positives, unerschütterliches Auftreten und ihre Süssigkeitenbox haben mich total verzückt. Jana lernt sie alle auf unterschiedliche Art und Weise kennen und das trägt so viel zu ihrer Entwicklung bei.
Anfangs nimmt Jana in ihrem Umfeld hauptsächlich vieles negativ auf und ihre Sicht beschränkt sich stark, wie in einem dunklen Tunnel, nur umgeben von ein paar Schatten. Doch um so weiter die Handlung verläuft, desto mehr Licht fällt ein. Man spürt, wie die junge Frau anfängt Vertrauen zu schöpfen, sich zu öffnen, sich selbst wieder zu finden und nach dem, was man über ihre Vergangenheit erfährt, ist es fast schon ein Wunder, welchen Weg sie am Ende bewältigt hat. Wir dürfen mit ihr ins Licht treten und fühlen, wie die Sonne wieder ihre Haut erwärmt, wie ihr Lächeln zurückkehrt und wie Jana Rückschläge bekämpft, um mit großer Hoffnung am Ende hoffentlich etwas Positives erntet.
>> Sich selbst zu akzeptieren konnte manchmal das Schwerste überhaupt sein, ich wusste, wovon ich sprach. Doch wie sehr ich auch nach einer Alternative gesucht hatte, es gab keine. Alle Wege endeten irgendwann bei mir selbst. Es gab keine steilen Pfade, die drum herum führten, auch wenn ich das gerne geglaubt hatte. Es gab keine Auswahlmöglichkeiten. Und es spielte keine Rolle, was ich viel lieber sein wollte. Irgendwann musste man akzeptieren, dass man sich selbst akzeptieren musste. << (S.420)
Total fasziniert bin ich von Collin. Sein Päckchen habe ich lange nicht erkannt und doch ist er Jana ein kleiner Fels in der Brandung. Der Auszubildende zum Bauzeichner ist eine sehr facettenreiche Persönlichkeit. Direkt und ehrlich, oft hart, aber sehr scharfsinnig. Er wirkt immer abwesend und abweisend – bekommt aber alles mit. Er liest die Menschen wie offene Bücher und ist später sogar sehr sehr feinfühlig. Am meisten schaffte es Carina Bartsch mich mit Collins Talent zum Malen zu ergreifen. Er sagt mit seinen Bildern so viel mehr aus, als man mit Worten jemals beschreiben könnte. Ich hatte bittere Tränen in den Augen, als ich von seinen Erlebnissen erfuhr.
„Nachtblumen“ ist aus der Erzählersicht von Jana geschrieben. Es ist etwas ganz anderes als die zwei Bücher (Kirschroter Sommer / Türkisblauer Winter), die ich von der Autorin schon gelesen habe. Man findet keine erotischen Szenen und auch nur gediegenen Humor. Dafür erzählt „Nachtblumen“ eine so ergreifende Geschichte von einer jungen Frau, die sich selbst verloren hat, mit großen Gefühlen, vielen dramatischen Momenten und richtig heftigem Herzschmerz auf allen Ebenen. Und von ihrem Weg zurück ins Leben durch die Hilfe von ganz besonderen Menschen. Die Schreibweise ist komplexer, aber sehr flüssig und leicht. Das Setting ist wunderschön beschrieben und umso mehr Jana sich öffnet, umso bildreicher wird Sylt und die anderen Orte, und umso mehr konnte ich mich auf die Insel tragen lassen, roch förmlich die salzige Luft und spürte den Wind im Gesicht. Es war einfach wunderschön und fesselnd.
Gerade im letzten Viertel, nachdem ich schon mit der Protagonistin gelitten habe, ihre Unsicherheiten bekämpfen habe sehen, und ihre neuartigen Gefühle entstanden sind, wurde mein Herz für eine heftige Zeit auseinander gerissen. Ich musste eine Pause machen, weil mir die Tränen die Sicht auf die Buchstaben verwehrt haben und es tat so unglaublich weh. Mit Jana diesen Schlag verwinden zu müssen war so intensiv und die Emotionen in „Nachtblumen“, egal welcher Art, reißen einfach mit.
Wie das ganze ausging und ob meine Hoffnung erfüllt wurde, müsst ihr selbst raus finden. Ich jedoch weiß, dass mich der Wandel von Jana und das Buch um die besonderen Nachtblumen noch lange Zeit beschäftigen wird.