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Veröffentlicht am 02.01.2023

Doppelleben einer Jugendlichen

Irgendwann werden wir uns alles erzählen
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Das Buch ist die Neuauflage des bereits im Jahr 2011 erschienenen Debütromans der Autorin. Er hat mich sehr beeindruckt und erhält von mir eine Bestbewertung.
Die Geschichte ist angelegt zur Zeit der ...

Das Buch ist die Neuauflage des bereits im Jahr 2011 erschienenen Debütromans der Autorin. Er hat mich sehr beeindruckt und erhält von mir eine Bestbewertung.
Die Geschichte ist angelegt zur Zeit der Wende in der DDR im Jahr 1990 auf einem grenznahen Dorf. Die 16jährige Maria, die aus schwierigen familiären Verhältnissen kommt, findet Aufnahme in der Familie ihres gleichaltrigen Freundes auf deren Bauernhof und wird dort vorbehaltlos als vollwertiges Familienmitglied anerkannt. Sie verfällt sexuell dem einsiedlerischen 40jährigen Nachbarn und schleicht sich zu ihm über Monate hinweg, ohne dass ihr Doppelleben publik wird. Kurz bevor sie sich schließlich der Familie offenbaren will, um dann endgültig zum Geliebten zu ziehen, passiert etwas Einschneidendes.
Das Leben in der ehemaligen DDR wird gut beleuchtet, gerade auch, wenn es um Spitzeltätigkeit auf dem Dorf geht, ebenso die Aufbruchstimmung der Wendezeit. Noch besser aber ist Marias Lebensgeschichte, die, obwohl fast noch ein Kind, so erwachsen charakterisiert wird. Was ihr Beziehungsleben angeht, verschont die Autorin sie und den Leser nicht. Ob es letztlich realistisch ist, vermag ich, die gut behütet aufgewachsen ist, nicht zu beurteilen. Auf jeden Fall kommt Maria trotz ihres Doppellebens sympathisch rüber.

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Veröffentlicht am 30.12.2022

Eine einmal etwas andere Biografie

Das glückliche Geheimnis
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Arno Geiger ist ein bekannter österreichischer Schriftsteller. Sein neuestes Buch ist eine ungewöhnliche Biografie. Er schildert schonungslos seine beruflichen und privaten Stationen seit seinen jungen ...

Arno Geiger ist ein bekannter österreichischer Schriftsteller. Sein neuestes Buch ist eine ungewöhnliche Biografie. Er schildert schonungslos seine beruflichen und privaten Stationen seit seinen jungen Zwanzigern bis in die Gegenwart. Beides war oft holprig und hat sich für ihn erst spät zum Positiven gewendet. Vor allem aber sind Geigers Bekenntnisse offen. Denn bis zur Niederschrift dieses Buches hat nur eine ganz kleine Anzahl von engeren Lebensgefährtinnen von seinem Geheimnis gewusst, das inhaltsbestimmend und titelgebend ist: Als junger Student, der unter Zukunftsängsten litt betreffend seinen schriftstellerischen Werdegang, begann er im Wiener Stadtgebiet, systematisch Altpapiercontainer zu durchforsten und Fundstücke wie werthaltige Bücher, Briefe, Tagebücher, Postkarten mitzunehmen. War es mit dem nachfolgenden Verkauf auf dem Flohmarkt für ihn zunächst noch ein Broterwerb, dessen er sich schämte, so wandelte sich die Bedeutung des Containers im Laufe der Jahrzehnte und seine Einstellung dazu. Er sog aus den Fundstücken mit den verbundenen Lebensläufen das Material für sein Schreiben über das Leben von Menschen. Geiger lässt in seinen Roman einiges an Hintergrundwissen über seine früheren Werke einfließen wie auch Zitate aus Werken von Schriftstellerkollegen, was das Buch unheimlich interessant macht.
Ein anspruchsvolles Buch, aber unbedingt lesenswert.

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Veröffentlicht am 31.10.2022

Schonungsloser Rückblick auf die eigene Familiengeschichte

Für euch
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Der Name der bislang mir unbekannten deutsch-türkischen Autorin wird einem ab dem kommenden Jahr sicherlich häufiger im Fernsehen begegnen. Denn dann wird die Journalistin und Rechtsanwältin bundespolitische ...

Der Name der bislang mir unbekannten deutsch-türkischen Autorin wird einem ab dem kommenden Jahr sicherlich häufiger im Fernsehen begegnen. Denn dann wird die Journalistin und Rechtsanwältin bundespolitische Korrespondentin im ARD Hauptstadtstudio sein. Sie hat also den Sprung aus einfachsten familiären Verhältnissen geschafft, was überhaupt nicht selbstverständlich war. Doch so desolat ihre Familienverhältnisse waren, eines haben ihr ihre deutsche Mutter und ihr türkischer Vater von klein auf mitgegeben – man kann alles schaffen, was man will. Auf eben ihr Familienleben blickt die 1976 in Köln geborene Autorin schonungslos und ehrlich zurück. Die lebenslustige Mutter hat bereits zwei gescheiterte Ehen hinter sich, den Kontakt zu daraus hervorgegangenen Kindern verloren, als sie eine Beziehung zu Iris späterem Vater aufnimmt, der, aus gehobenen Verhältnissen in der Türkei stammend, seine Heimat aus politischen Gründen verlassen hat. In Deutschland ist er nie so recht angekommen, fühlt sich hier nicht zugehörig, wird zum notorischen Spieler, der entsprechend viele Schulden anhäuft. Die Mutter bringt die kleine Familie zunächst mit Putzstellen durch, später als Prostituierte, hat zwischendurch Gefängnisstrafen abzusitzen. Alles tut sie immer uneigennützig „für euch“, ihre Familie. Der kleinen Iris lassen ihre Eltern, obwohl Sozialhilfeempfänger, es an nichts fehlen. In ihrer Kindheit sind Vater und Mutter für sie die Helden. Erst auf dem Gymnasium, auf das sie es tatsächlich schafft, trennt sie strikt die häusliche und die schulische Welt. Allmählich beginnt sie sich ihrer Eltern zu schämen, obwohl diese immer noch alles für sie tun. Sie versucht um jeden Preis, Freundschaften zu „besseren“ Kindern/Jugendlichen aufzunehmen und sich ihnen anzupassen und mitzuhalten. Erst im Erwachsenenalter, als die Mutter dem Sterben nahe ist, bekennt sich Iris wieder rückhaltlos zu ihrer Herkunft und kann nunmehr ehrlich von ihrem Werdegang erzählen. Das Buch ist eine liebevolle Hommage an die Mutter und basiert auf der Grabrede, die die Autorin für ihre Mutter gehalten hat. Sehr authentisch wird über das Kölner Milieu erzählt, noch dazu häufig mit typischem Kölner Dialekt in den wörtlichen Reden. Interessant sind die Schilderungen über die unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen. Da Kindheitserinnerungen aufbereitet werden und Iris als Kind natürlich nicht alle Zusammenhänge des Lebens der Erwachsenen verstanden hat, bleibt einiges bruchstückhaft, aber dennoch so vollständig, dass der Leser selbst zutreffende Rückschlüsse auf die Begebenheiten ziehen kann.
Das Buch kann ich unbedingt empfehlen.

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Veröffentlicht am 07.10.2022

Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte eines jungen Immigranten

Jahre mit Martha
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Die Geschichte, die überwiegend in den 1990er Jahren angesiedelt ist, ist im Hinblick auf die behandelte Thematik auch heute 30 Jahre später sehr aktuell. An die Stelle des damaligen Gastarbeiterhintergrunds ...

Die Geschichte, die überwiegend in den 1990er Jahren angesiedelt ist, ist im Hinblick auf die behandelte Thematik auch heute 30 Jahre später sehr aktuell. An die Stelle des damaligen Gastarbeiterhintergrunds ist der heutige Migrationshintergrund getreten. Der Protagonist Željko ist Kind jugoslawischer, bildungsferner Gastarbeiter, die arbeiten, arbeiten, arbeiten um einen einfachen Lebensstandard zu haben. Von Kind an erkennt er, dass Bildung der Schlüssel für ein erfolgreiches Leben im Wohlstand ist. Dank seiner Strebsamkeit schafft er Abitur und Studium. Dabei wird er von der wesentlich älteren Professorin Martha unterstützt, die er schon als 15jähriger als die Arbeitgeberin seiner putzenden Mutter kennenlernt und deren Welt so ganz anders ist als seine. Zwischen ihnen entspinnt sich über die Distanz eine Liebesbeziehung. Was Martha in ihm sieht, bleibt der eigenen Auslegung überlassen. Vielleicht ist es die verlorene Jugend. Auf jeden Fall ist ihre Beziehung sehr ungewöhnlich und deshalb interessant. Ein anderer wichtiger Wegbegleiter ist sein Literaturprofessor, der ebenfalls das Kind von Einwanderern ist. Ihm vertraut er, wird jedoch arglos von ihm ausgenutzt. Das eigentlich Wichtige, dass der Roman herausstellen will, ist, dass Željko zwischen seiner kroatischen Herkunft und seinem Leben in einem anderen Land hin und hergerissen ist und seine Identität verliert, was letztlich zur tiefen Depression führt. Erst als er alles verloren hat, erkennt er, was ihn selbst ausmacht. Beeindruckend ist, mit welcher Detailtreue der Autor die unterschiedlichen Leben von Immigranten und Deutschen vergleicht.
Das Buch erhält von mir eine uneingeschränkte Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 25.09.2022

Der einjährige Countdown bis zum geplanten Freitod

Die Mauersegler
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Dieser Wälzer von immerhin 830 Seiten verdient es, mindestens einmal gelesen zu werden.
Der Ich-Erzähler, ein 54jähriger Philosophielehrer aus Madrid, notiert über einen Zeitraum von einem Jahr seine Biografie. ...

Dieser Wälzer von immerhin 830 Seiten verdient es, mindestens einmal gelesen zu werden.
Der Ich-Erzähler, ein 54jähriger Philosophielehrer aus Madrid, notiert über einen Zeitraum von einem Jahr seine Biografie. Sie soll der Nachlass für seinen Sohn werden. Denn nach Fristablauf will er sein Leben beenden. So wechseln sich dann in nicht chronologischer Reihenfolge seine niedergeschriebenen Erinnerungen an seine Herkunftsfamilie und die von ihm selbst gegründete Kleinfamilie sowie seinen ungeliebten Beruf ab mit eher ereignislosen Begebenheiten aus seinem Leben in der Gegenwart, bestehend aus Spaziergängen mit seinem Hund, Kontakten mit seinem einzigen Freund und seinem Sohn, Einkäufen auf dem Markt und nach einem halben Jahr auch Treffen mit seiner Freundin von vor 27 Jahren, die er zugunsten seiner späteren, von ihm nunmehr geschiedenen Ehefrau verlassen hat. Auch Reflexionen über die politische Lage Spaniens fließen ein.
Beim Lesen stellt man sich schon die Frage, weshalb dieser Mann eigentlich sterben will, der doch nur unzufrieden ist mit seinem Leben. Hierauf eine Antwort zu erhalten, treibt einen beim Lesen an ebenso wie in der zweiten Buchhälfte die Frage, ob das beharrliche Einschleichen der Ex-Freundin in sein Leben seinen Plan umwerfen wird. Und auf noch eine Frage will man gerne eine Antwort haben: Wer ist der Urheber zahlreicher anonymer Nachrichten, die der Protagonist eine lange Zeit erhalten hat? Das Buch, obwohl anspruchsvoll, liest sich angenehm, wozu sicherlich die lakonische Art des Erzählers beiträgt. Seine vielen interessanten philosophischen Gedanken, die er einfließen lässt und die das Buch so tiefgründig machen, erschließen sich vielleicht erst beim wiederholten Lesen.
Das Buch erhält von mir eine klare Leseempfehlung.

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