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Veröffentlicht am 31.07.2023

Figuren mit Ecken und Kanten

Die Lüge
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Mikita Frankos Roman „Die Lüge“ ist ein beeindruckender Debutroman des russischen Autors, den er bereits mit Anfang 20 geschrieben hat.

Mikita ist die Hauptfigur in Frankos Buch. Als er fünf Jahre alt ...

Mikita Frankos Roman „Die Lüge“ ist ein beeindruckender Debutroman des russischen Autors, den er bereits mit Anfang 20 geschrieben hat.

Mikita ist die Hauptfigur in Frankos Buch. Als er fünf Jahre alt ist, stirbt seine Mutter. Er wächst bei seinem gerade Mal 16 Jahre älteren Onkel Slawa auf, der ihn adoptiert.

Der Buchtitel „Die Lüge“ ist freilich nicht besonders gelungen. Bei dem Roman handelt es sich um einen klassischen Entwicklungsroman. Mikita wird erwachsen, er rebelliert gegen seine Umwelt, prügelt sich, läuft von zuhause weg, verliebt sich. Die Lüge ist das, was Mikita nicht erzählen darf: dass sein Onkel mit einem Mann zusammenlebt, denn sonst würde Mikita in Russland im Kinderheim landen. Die Lüge gehört für Mikita zum Erwachsenwerden, ist aber nur ein Teil davon. Viel wichtiger ist die Väter-Sohn-Beziehung, ebenso die Auseinandersetzung mit sich selbst. Natürlich kann man sagen, dass die „Lüge“ das alles überlagert, doch trifft dies nicht den Erzählstil des Buches.

Erzählt wird das Erwachsenwerden durchweg aus der Sicht von Mikita. Das ist gut so, denn Mikita ist eine Figur, an der man sich reiben kann. Er streitet sich mit seinen Eltern, ist trotzköpfig, vorwurfsvoll. Später dann ist er in sich zerrissen, überheblich, widersprüchlich, wird gewalttätig. Mikita ist eine Figur, die gerade durch ihre inneren Widersprüche lebendig wird. Und das hat bei Mikita Franko auch eine sehr humorvolle Seite. Die zeigt sich vor allem in den teilweise recht grotesken Dialogen. Beispiel gefällig? Hier der Dialog zwischen Katja und Mikita:

„Warum stehst du nicht auf?“
„Ich weiß nicht.“
„Komm, wir gehen.“
„Nein, ich will nicht, fauchte ich sie lustlos an. „Ich mag es, in den Schnee zu schauen.“
„Bist du verrückt, oder was?“
„Ich weiß nicht.“
„Ich gehe dann mal.“
„Geh.“
Sie war schon ein Stück weggefahren, kam aber wieder und sagte, dass ein normaler Mensch nicht so auf dem Eis rumliegen und in den Himmel glotzen würde.

Mikita Franko gelingt es so, bei aller Ernsthaftigkeit und Traurigkeit des Themas, immer wieder einen humorvollen Unterton zu setzen. Zu Lasten seiner Figuren geht das nicht.

Der Roman wirkt über weite Strecken episodenhaft, einzelne Szenen werden herausgestellt, anderes bleibt offen – etwa die Frage, ob die Familie noch emigriert oder nicht. Auch die Verbindung zwischen Mikita und Wanja bleibt sehr rudimentär, was umso erstaunlicher ist, da es Mikita ist, der sich in einem Kinderheim mit Wanja anfreundet und dafür sorgt, dass er von Slawa adoptiert wird.

Aber gerade das macht das Buch aus: dass nicht alles auserzählt ist, dass Widersprüche bleiben und dass die Figuren ihre Ecken und Kanten haben.

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Veröffentlicht am 31.05.2023

Ein Buch, das einen beim Lesen mehr und mehr in seinen Bann zieht

Walter Nowak bleibt liegen
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Walter Nowak ist nur bedingt ein sympathischer Zeitgenosse. Julia Nowak bringt in ihrem Roman „Walter Nowak bleibt liegen“ eben diesen in eine sehr unangenehme Lage: er stürzt und bleibt erst einmal liegen. ...

Walter Nowak ist nur bedingt ein sympathischer Zeitgenosse. Julia Nowak bringt in ihrem Roman „Walter Nowak bleibt liegen“ eben diesen in eine sehr unangenehme Lage: er stürzt und bleibt erst einmal liegen. In dieser Situation lässt er nach und nach sein Leben rekapitulieren.

Vom Besuch im Schwimmbad weitet sich der Erzählbogen bis in die Kindheit hinein. Obwohl er als uneheliches Kind der Häme seiner Mitschüler ausgesetzt war, ist es eher die Gegenwart, die ihn an seine Grenzen bringt. Ist alles in Ordnung?, fragt ihn sein Sohn Felix. Der Leser hat allen Zweifel, dass dem so ist. Warum sonst liegt seit mehreren Tagen ein aufgetautes Wildschwein in der Küche?

Walter Nowak fantasiert, sieht Dinge, die es nicht gibt. Er wirkt wie in Trance. Liegt es an einer Krankheit oder am Knall mit dem Kopf gegen den Beckenrand im Schwimmbad? War nun eine Fledermaus im Bad oder ist das ein Hirngespinst Walters?

Dass der Roman als innerer Monolog verfasst ist, macht ihn an manchen Stellen mühevoll zu lesen, vor allem weil die Autorin sich an Anakoluthen sehr erfreut. Sätze. Wie abgebrochen. Angedachte, nicht zu Ende gedachte Sätze, Weggelassenes – all das gehört zu „Walter Nowak bleibt liegen„. Hinzu kommen Stichwort-Verknüpfungen quer durch die Zeiten. Vom eigenen Röntgenbild zum Ultraschallbild des Sohnes, vom Sohn zur Ärztin, von der Ärztin zur eigenen Mutter, von der Mutter vom Kindsein in der Nachkriegszeit und wieder zurück in die Gegenwart. Das ist einerseits sehr anstrengend zu lesen, auf der anderen Seite aber eben auch sehr reizvoll.

Denn ist es die Sprache, die dem Leser immer wieder deutlich macht: Wir wissen nichts über diesen Walter Nowak. Nichts, was wir nicht von ihm selbst erfahren. Ist Yvonne wirklich auf einer Tagung oder hat sie ihn verlassen? Was für eine Krankheit wurde bei ihm diagnostiziert? Das ist es, was dem Roman auch seine Kraft gibt. Man steht vor einem unzuverlässigen Erzähler, der zudem noch Schwierigkeiten hat, seinen Alltag zu leben. Doch was haben seine Aussetzer zu bedeuten? Wie kommt es, dass der 70-jährige Walter Nowak plötzlich so völlig hilflos darin ist, sein Leben zu leben?

Dass zuletzt die Beziehung zu seinem Sohn immer mehr in den Vordergrund rückt, gibt dem Buch gegen Ende zudem noch einmal einen neuen Drive.

„Walter Nowak bleibt liegen“ ist ein Buch, das einen beim Lesen mehr und mehr in seinen Bann zieht.

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Veröffentlicht am 04.04.2023

Informativ und gut verständlich

Wo ist die Mitte des Weltalls?
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FAQs rund um das Universum: das bietet das Buch „Wo ist die Mitte des Weltalls?“ von Jorge Cham und Daniel Whiteson. Die beiden Autoren betreiben einen Podcast, auf dem sie Fragen rund ums Universum beantworten ...

FAQs rund um das Universum: das bietet das Buch „Wo ist die Mitte des Weltalls?“ von Jorge Cham und Daniel Whiteson. Die beiden Autoren betreiben einen Podcast, auf dem sie Fragen rund ums Universum beantworten – einige haben es nun zusammen mit ihren Antworten in die Buchform geschafft.

Neben der Frage, wo das Zentrum des Weltalls ist, werden ganz praktische Fragen beantwortet, etwa was mit E = mc² gemeint ist, wie das Universum entstanden ist oder wann die Sonne erlöschen wird.

Eine große Rolle spielen aber vor allem die Fragen, die auf den ersten Blick keine ernstgemeinten Fragen sind, sondern eher Science-Fiction-Filmen entstammen. Etwa, ob Zeitreisen eines Tages möglich sein könnten, Teleportation möglich sein wird, ob es Außerirdische gibt, unsere Welt nur eine Computersimulation sein könnte und viele mehr.

Die beiden Autoren hantieren bei ihren Antworten dabei mit Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten – lassen unterschiedliche physikalische Antworten gelten und auch mal einen Ingenieur gegen einen Physiker antreten.

Dass es überwiegend ungewöhnliche Fragen sind, die dem Autorenduo gestellt werden, macht das Buch umso lesenswerter.

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Veröffentlicht am 18.02.2023

Gut geschriebenes Jugendbuch über Dietrich Bonhoeffer

Bonhoeffer
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Dietrich Bonhoeffers Leben für Jugendliche zu erzählen, ist kein leichtes Unterfangen. Alois Prinz ist es in seinem Buch „Bonhoeffer. Wege zur Freiheit“ gelungen.

Alois Prinz macht dabei aus Dietrich ...

Dietrich Bonhoeffers Leben für Jugendliche zu erzählen, ist kein leichtes Unterfangen. Alois Prinz ist es in seinem Buch „Bonhoeffer. Wege zur Freiheit“ gelungen.

Alois Prinz macht dabei aus Dietrich Bonhoeffer keine Heldenfigur. Im Gegenteil: Man kommt Bonhoeffer sehr persönlich nahe, denn Alois Prinz zeigt einen sehr nahbaren Bonhoeffer, mit seinen Eigenheiten, seinen Schwächen, seinen Zweifeln.

Prinz zeigt einen Bonhoeffer, der lieber allein ist, der sich auch bei Familienfesten zurückzieht, weil er zu viele Menschen nicht erträgt. Der Schwierigkeiten hat, seine Liebe zu finden. Der ein antiquiertes Frauenbild vertritt. Er zeigt aber auch einen Bonhoeffer, der konsequent ist und sich nicht mit faulen Kompromissen abspeisen lässt. Der ein kluger Kopf ist. Der auf der Suche nach dem richtigen Glauben ist.

Alois Prinz zitiert daher sehr häufig aus Briefen Bonhoeffers an seine Geschwister und vor allem an seinen Freund Eberhard Bethge: da trifft man den persönlichen Bonhoeffer viel mehr als in seinen Büchern. Allerdings lässt Prinz auch Schwieriges wie etwa Bonhoeffers fragmentarisches Buch „Ethik“ nicht außer acht. Auch auf Bonhoeffers Gedanken zum religionslosen Christentum geht Prinz ein. Sehr ausführlich auch auf seine Unterscheidung zwischen billiger und teurer bzw. wahrer Gnade.

Dennoch: Bonhoeffers Leben und seine Überzeugungen stehen im Vordergrund, keine theologischen Spitzfindigkeiten. Alois Prinz ist es genauso wichtig darzustellen, wie oft Bonhoeffer in seinem Leben umziehen musste. Dass die Familie trotz der Frömmigkeit der Mutter auf den sonntäglichen Kirchenbesuch verzichtete. Dass Bonhoeffer erst nach und nach seine Liebe für die Jugendarbeit entdeckte und als Sohn aus einer bürgerlichen Familie mit proletarischen Gemeinden anfangs seine Berührungsängste hatte. Dass Bonhoeffer ein sportlicher Typ war.

Theologische Tiefe zeigt Alois Prinz da, wo es das Leben Bonhoeffers unmittelbar berührt. Etwa bei der Frage des jungen Offiziers Werner von Haeften, ob man den Diktator Hitler erschießen dürfe, also Gewalt anwenden dürfe. Eine Frage, die sich bald genug Bonhoeffer selbst stellte.

Trotz seiner 270 Seiten, die das Buch umfasst, tippt das Buch manche Themen nur an. So macht es auf jeden Fall neugierig auf Dietrich Bonhoeffer. Da das Buch auch komplexere Themen aufgreift, dürfte ein Lesealter von ab 14 Jahren sinnvoll sein – auch für Erwachsene freilich ist es ein Gewinn.

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Veröffentlicht am 30.12.2022

Grandioser Roman

Das Floß der Medusa
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Mit seinem Buch „Das Floß der Medusa“ gelingt es dem österreichischen Schriftsteller Franzobel, die Frage nach Wert und Beständigkeit der Zivilisation mit einem historischen Stoff zu kombinieren. Sein ...

Mit seinem Buch „Das Floß der Medusa“ gelingt es dem österreichischen Schriftsteller Franzobel, die Frage nach Wert und Beständigkeit der Zivilisation mit einem historischen Stoff zu kombinieren. Sein Sujet ist der Untergang der Medusa, ein Schiff, das 1816 auf dem Weg nach Afrika war und auf eine Sandbank lief.

Historisch ist an Franzobels Buch vieles – gerade auch die Tatsache, dass rund 150 Passagiere auf einem Floß ausgesetzt wurden, da es nicht genügend Rettungsboote gab. Und auch, dass nur 15 von ihnen noch lebten, als das Floß entdeckt wurde.

Dennoch: ein historischer Roman ist „Das Floß der Medusa“ nicht und er will es auch gar nicht sein. Zunächst einmal rollt Franzobel die Geschichte um Menschlichkeit, Zivilisation und Führungsversagen von hinten auf. Er beginnt damit, die Leben der Überlebenden zu schildern. Erst nach und nach kommt er auf die Katastrophe des Untergangs der Medusa zu sprechen. Schließlich erzählt Franzobel nicht nur nicht in chronologischer Reihenfolge, er setzt markante erzählerische Kontrapunkte, um dem bombastisch-grausigen Historiengemälde zu entgehen.

Was am Anfang des Romans noch als störend empfunden wird, ist der Sprung in die Perspektive der Gegenwart. Die historische Annährung entgleitet dem Lesenden, der vielmehr in den Zuschauerraum eines Theaters katapultiert wird. Sympathie und Empathie werden so nicht dem Leser abverlangt, sondern vielmehr das genaue Beobachten und Hinterfragen. Immer wieder baut Franzobel á la Brecht Unterbrechungen ein, indem die Perspektive der Gegenwart eingenommen wird, sodass man sich im historischen Stoff nicht verlieren kann.

Beim Betrachten und Beobachten von Schiffbruch, Rettung und dem Umgang mit der Schuld wird dem Leser recht viel abverlangt. Grausamkeiten wie auch der Kannibalismus auf dem Floß sind allzu detailreich dargestellt. Unweigerlich muss man zu dem Schluss kommen, dass der Mensch von Natur aus „böse“ ist, dass Thomas Hobbes hier zu uns spricht. Menschlichkeit lässt sich eben nicht mehr leben, wenn Menschen um ihr Überleben kämpfen. Doch verwundert es dennoch, wie schnell Menschlichkeit und Zivilisation auf dem Floß über Bord geworfen werden.

Zudem gelingt es Franzobel, mit nur wenigen Handstreichen seine Figuren so zu skizzieren, dass sie als Karikatur ihrer selbst auftreten: Der entscheidungsschwache oder besser: unfähige Kapitän, der sich von einem Betrüger übers Ohr hauen lässt. Die Opfer, die schließlich nicht einmal mit einer Abfindung des Staates rechnen dürfen – geschweige denn Anerkennung. Desillusioniert wird das verklärte Afrika genauso wie auch die Seefahrts-Idylle. Und nicht zuletzt der Glaube daran, dass Zivilisation nicht immer wieder neu erkämpft werden muss.

Mag der Roman an manchen Stellen zu ausufernd und zu grausam erzählen: „Das Floß der Medusa“ ist gerade in seiner Vielschichtigkeit ein grandioses Buch.

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