"Liebewesen" - ein rasanter, mutiger Roman mit Achterbahngefühlen
Liebesgeschichten, Gedanken über Schwangerschaften, die Zukunft und Erzählungen von glücklichen Beziehungen gibt es in der Buchwelt wie Sand am Meer. An sich ist Liebe ja auch etwas sehr Schönes, doch ...
Liebesgeschichten, Gedanken über Schwangerschaften, die Zukunft und Erzählungen von glücklichen Beziehungen gibt es in der Buchwelt wie Sand am Meer. An sich ist Liebe ja auch etwas sehr Schönes, doch in Romanen wird dies (für mein Gefühl) meistens so überromantisiert und die Wirrungen des Lebens werden oftmals durch die erträumte Partnerschaft am Ende belohnt... aber so ist es eben nicht immer, schon gar nicht in der Realität. Was ist also, wenn alles nicht so rund läuft, die Beziehung anstrengend wird und jeder noch so die eigenen Probleme mit einbringt, vielleicht auch gar nicht mal so beziehungsfreudig veranlagt ist? In Caroline Schmitts Roman "Liebewesen" lernen die Leserinnen zunächst Lio und Miriam kennen. Zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während Miriam eher locker und leicht auf andere Menschen zugeht, braucht Lio eine Weile, ist eher unentspannt und kämpft stets mit sich und der Welt und doch beschließen sie beide auf einer Party eine gemeinsame WG zu gründen. Das läuft auch ganz gut und irgendwie ergänzen die beiden sich perfekt, nur in Sachen Liebe könnte es für Lio noch besser laufen, findet zumindest Miriam...
">Warum erzähle immer nur ich von Blowjobs und all dem anderen Kram?< [...] Wir kannten uns jetzt seit drei Monaten, in denen ich keine einzige solcher Geschichten beigesteuert hatte. In Miriams Zeitrechnung war das eine unerträglich lange Zeit ohne Sex. In meiner war es die beste meines Lebens."
Und so kümmert sich Miriam darum, dass Lio sehr schnell Max kennen lernt, mit dem sie bereits beim zweiten Date in der Badewanne landet und dann auch intimer wird, gar eine Beziehung eingeht. Doch Lios Körper ist ihr persönlicher Albtraum, sei es durch ihre Erfahrungen in der Vergangenheit, aber auch die Unsicherheit und Nähe stellen für sie oftmals Hindernisse da. Und als sie dann auch noch ungewollt schwanger wird, scheint ihre ganze, mühsam erkämpfte Beziehung und Normalität ins Wanken zu geraten. Sie kann Max nichts von ihrer Schwangerschaft erzählen, eigentlich möchte sie auch gar kein Kind und fühlt sich in ihrer Beziehung gar nicht mal so wohl und doch möchte sie auch... ach, was will sie eigentlich? Gedanken und Erinnerungen beschäftigen sie, Dinge ploppen auf, die sie einfach nur vergessen wollte und doch muss sie sich jetzt damit beschäftigen um endlich ihren eigenen Weg zu gehen.
"Mir wurde kotzübel. Wenn Gott eine Frau war, musste sie doch verstehen, dass Sex der Untergang meiner Welt war, und Gespräche über ihn oder Experimente mit ihm den anderen überlassen. Die meisten Objekte, die in Vulven eingeführt wurden, Penisse, Hände, Dildos, waren noch größer als Tampons. Die Gegenwart dieser Gegenstände nicht nur ohne Panik zur Kenntnis zu nehmen, sondern sogar Gefallen an ihnen zu finden, schien mir unmöglich."
Puh, dieser Roman hat es in sich und das in so ganz unterschiedliche Richtungen. Wäre dieses Buch nicht so dünn gewesen, hätte ich es bereits in der Mitte des ersten Teils abgebrochen, denn Caroline Schmitt legt mit ihrem jungen Roman ein Tempo vor, das es mir wahrlich schwer gemacht hat. So springt sie mit ihren Charakteren ständig von einem Thema zum anderen, ohne wirklich auf etwas einzugehen. Man findet sich irgendwo zwischen Tinder, rasantem Kennenlernen, komischen Dates, Sinnkrisen, Depression, Problemen mit dem eigenen Körper, schwierigen Familienverhältnisse, Sex, Vergewaltigung, Schwangerschaft, Blumenbeeten, Beerdigungen... die Liste ist wirklich lang und gefühlt ploppt mit jedem 3-zeiligen Dialog, der nicht nur aus einzelnen Worten besteht, mindestens ein weiteres Thema auf und bleibt einfach so im Raum stehen. Man muss nicht alles ausführlich erklären, aber zwischen all dem Witz, dem fast schon etwas flapsigen Grundton und der ungewöhnlichen Annäherung zwischen Lio und Max, fühlt man sich als Leser*in zwar irgendwie unterhalten, aber man schrubbelt eben nur an der Oberfläche entlang ohne eine wirkliche Bindung aufzubauen. Aber dann kam der zweite Teil, der zwei Jahre später spielt und doch etwas fokussierter und intensiver, vielleicht sogar etwas ausführlicher ist. Die ungeplante Schwangerschaft, der Abbruch und die kriselnde Beziehung dominieren diese Hälfte, man kann Lios Zweifel und Probleme endlich verstehen, mit ihr mitfühlen und findet sich zeitgleich gedanklich in eigenen Beziehungsproblemen und -geschichten wieder.
Und das fand ich wirklich toll! Im Nachgang verblasst vieles zwar recht schnell wieder, aber "Liebewesen" hat bei mir für den Moment Eindruck hinterlassen. Dieses Buch und meine Lesezeit kann man vielleicht am besten mit einer Achterbahnfahrt beschreiben... zunächst die etwas holprigere, anstrengende Ansteigung, das Fahrt aufnehmen, etwas links und recht anditschen und hin und her geschleudert werden, bevor man rasant dem Abgrund entgegenfährt, nach kurzer Überforderung, Euphorie und einem "Oh, Gott, bloß nie wieder", bleibt nach der Fahrt die Begeisterung und Aufregung noch kurz hängen, aber dann stürzt man sich in ein neues Abenteuer und die Erinnerung verblasst.