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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 03.03.2023

Ein literarischer Geniestreich

Morgen, morgen und wieder morgen
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Aufgrund des quietschbunten Covers wollte ich diesen Roman eigentlich gar nicht lesen. Ich habe diese Mischung aus sich gerade brechender Riesenwelle und Weltraumnebel als abschreckend empfunden. Als plötzlich ...

Aufgrund des quietschbunten Covers wollte ich diesen Roman eigentlich gar nicht lesen. Ich habe diese Mischung aus sich gerade brechender Riesenwelle und Weltraumnebel als abschreckend empfunden. Als plötzlich das Buch überall auftauchte, fing ich an, mich damit zu beschäftigen, fand Gaming als Gemeinsamkeit mit den Charakteren und fing schließlich an, es zu lesen.

Ich kann nur konstatieren: Es hat sich wirklich, wirklich und nochmals wirklich gelohnt. Gabrielle Zevin ist eine wahre Künstlerin. Mit gut verständlichen, gleichzeitig ganz wunderbaren Formulierungen schafft sie eine Atmosphäre von in Liebe ausufernder Freundschaft. Dabei bringt sie die Gefühlswelt ihrer Protagonist:innen ebenso auf den Punkt wie die Entstehung eines Computerspiels von der ersten Idee bis zum letzten Testzyklus. Die Autorin zieht ihre Leserschaft in die Geschichte hinein, macht sie zu Komplizen des Geschehens. Das Gelesene fühlt sich an, als wäre man mit im Raum, Teil der Welt, die sie beschreibt.

Dabei stattet Gabrielle Zevin ihre Welt mit kleinen liebevollen, scheinbar unwichtigen Details aus, auf die sie dann hunderte Seiten später wieder zurückgreift, nur um an eine frühere Erzählung nochmals mit inzwischen erweitertem Wissen anzuknüpfen. Dadurch bekommt der Roman eine Tiefe, die ich unheimlich gern mochte. Zudem liebe ich die Anlage der Charaktere, von denen ich nur einen einzigen gar nicht mochte. Beginnend mit den liebevollen Großeltern der beiden Hauptfiguren wird ein ganz besonderes Beziehungsgeflecht aufgebaut. Niemals urteilend, stattdessen immer mit weisen Anekdoten unterstützend begleiten sie Sam, den Mathematikstudent, und seine Kindheitsfreundin Sadie, angehende Informatikerin, ins Leben.

Ich bewundere Sadie, weil sie so coole Dinge kann, wie eine Grafik-Engine programmieren. Sie besteht in der von Männern dominierten Welt der Spielebranche für Computer und Konsolen. Als Gamerin und als Entwicklerin muss sie eine Menge Gegenwind aushalten, auch wenn dies manchmal fast nicht möglich erscheint. Sam ist der typische Underdog, der lange braucht, um über sich hinaus zu wachsen. Den kindlichen Sam habe ich direkt lieb gewonnen. Daran änderte sich auch nichts, als er berufliche wie zwischenmenschliche Chancen verstolpert, weil ihm hier und da die notwendige Sensibilität fehlt.

Letztlich bin ich glücklich, mich auf diesen Roman eingelassen zu haben. Der Roman war das erste Lese-Highlight in diesem Jahr. Sehr gern empfehle ich die Lektüre.

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Veröffentlicht am 18.02.2023

Ansprechender Werkzeugkasten zur Weiterentwicklung eigener Führungskompetenzen

Moderne Führung und Selbstorganisation
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Die Arbeitswelt verändert sich gerade massiv. Ich merke das im täglichen Doing daran, dass jahrelang komfortabel, wie selbstverständlich gelebte Prozesse nicht mehr wirklich gut funktionieren. Zum einen ...

Die Arbeitswelt verändert sich gerade massiv. Ich merke das im täglichen Doing daran, dass jahrelang komfortabel, wie selbstverständlich gelebte Prozesse nicht mehr wirklich gut funktionieren. Zum einen sind häufiger, wechselnde Kollegen mit jeweils anderen Impulsen beteiligt, zum anderen sind die Anforderungen des Marktes an unsere Produkte und Services komplexer geworden, bedürfen einer intensiven Zusammenarbeit interdisziplinärer Teams. Um in diesem Kontext (m)eine Führungsrolle anzunehmen, zu stärken und ggf. neu auszurichten, habe ich mich mit dem vorliegenden Sachbuch „Moderne Führung und Selbstorganisation“ sowie den zur Verfügung gestellten digitalen Extras auseinandergesetzt.

Der Ansatz des Buches ist zunächst den Blick auf sich selbst zu richten. Ausgehend von der Reflexion und dem Verständnis der eigenen Persönlichkeit lassen sich Stärken und Potenziale des Selbst erkennen. Gelingt uns im Kontext der Potenziale häufiger das Verlassen der Komfortzone, entwickeln wir uns automatisch weiter. Erfolgt dies bewusst, können Zukunftskompetenzen zielgerichtet gefördert und ausgebaut werden. So lernen wir durch das Setzen eigener Ziele und durch getroffene Entscheidungen unsere Handlungsmöglichkeiten zu erweitern sowie unser Umfeld aktiver zu gestalten. Beim Wirken auf unser Umfeld geht es vordergründig um das Verstehen des Gegenübers und das darauf ausgerichtete sozial und auch emotional intelligente Handeln.

Was hier kurz zusammengefasst ziemlich theoretisch anmutet, kommt im Buch recht locker und gut verständlich daher. Deshalb hat es auch Spaß gemacht, sich mit den vielen Detailthemen auseinanderzusetzen. Gespickt mit Beispielen, Schaubildern und Anregungen zum Aktivwerden bei Übungen und Herausforderungen ist es der Autorin gelungen mich durchgehend motiviert zu halten. Passende Zitate von Persönlichkeiten wie beispielsweise Goethe, Einstein oder Sokrates haben mich öfters anerkennend schmunzeln lassen. Ich habe das Buch gern jeden Abend zur Hand genommen, ein zwei Kapitel gelesen und Themen, die mich besonders angesprochen haben, direkt auf mich und mein Umfeld reflektiert. Als besonderes Highlight empfinde ich hier, dass psychologische Fallen und Stolpersteine an den passenden Stellen aufgezeigt werden.

Am meisten helfen mir persönlich die Erkenntnisse zum Imposter-Syndrom, zum Gruppendenken und zum Pygmalion-Effekt sowie die letzten drei Kapitel. Motivation für mein aktuelles Führungsverständnis ziehe ich aus Musterbrecher und Organisationsrebellen. Direkt weiterarbeiten werde ich an den Zukunftskompetenzen Entscheidungsklugheit, Lösungsorientierung und Kreativität. Im Rahmen der Entwicklung meiner Lösungsorientierung finde ich die Methode des Future-back-Thinking interessant. Das Kapitel Emotional und sozial intelligent handeln wird mich professioneller wirken lassen. Jetzt muss ich nur noch meine Komfortzone verlassen und loslegen.

Das einmalige Lesen des Buchs verschafft einen guten Überblick über die Vielfalt an Ansatzpunkten und Methoden auf dem Weg zur Modernen Führung. Ich verstehe das Buch allerdings eher als Arbeitsbuch, in dass man immer wieder hineinschaut, wo man in seinem Entwicklungsprozess einzelne Übungen mit Hilfe der digitalen Extras ausführt. Ich kann das nur empfehlen.

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Veröffentlicht am 13.02.2023

Gewalt und Homophobie der 90er

Young Mungo
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Es ist die Zeit der großen Sorgen, Margaret Thatcher ist die Regierungschefin, Kohlekumpel und Werftarbeiter haben ihre Jobs verloren, Straßenschlachten zwischen Katholiken und Protestanten sind an der ...

Es ist die Zeit der großen Sorgen, Margaret Thatcher ist die Regierungschefin, Kohlekumpel und Werftarbeiter haben ihre Jobs verloren, Straßenschlachten zwischen Katholiken und Protestanten sind an der Tagesordnung, Alkoholsucht grassiert in vielen Familien. Das Leben bzw. Überleben der sich selbst überlassenen Jugendlichen ist eine dauerhafte Herausforderung. In diesem Leben ist kein Platz für verweichlichte Jungen. Als solcher wird auch Mungo von seinen Mitmenschen betrachtet. Ohne eigene Freunde, in seinem Selbstbewusstsein boykottiert von seinen Ticks, wird er von seinen Geschwistern, Hamish und Jodie, abwechselnd in deren Lebenswirklichkeit hineingezogen. Sich kümmernde Eltern sind nicht vorhanden. Der Vater ist tot. Die Mutter entweder betrunken oder fernab ihrer Kinder engagiert, den nächsten potentiellen Lover von sich zu überzeugen.

In diesem Umfeld begleiten wir Mungo in zwei zeitlich aufeinanderfolgenden Handlungssträngen. Wir begegnen seinem Hunger am Abend, wenn er warten muss, dass seine Schwester von ihrer Schicht nach Hause kommt und ihn versorgt. Wir sind dabei, wenn ihn sein Bruder zwingt, mit ihm in den Bandenkrieg gegen die Katholiken zu ziehen. Mungo wird Zeuge von maßloser Gewalt, ihm selbst werden schlimmste Verletzungen beigebracht. Schlimme Erfahrungen gepaart mit Gefühlen der Einsamkeit sind sein Leben. Einziger Lichtblick ist James, den Mungobei einem einsamen Streifzug kennen lernt.

Mir hatte das Debüt von Douglas Stuart, Shuggie Bain, sehr gut gefallen, weswegen ich unbedingt diesen neuen Roman lesen wollte. Young Mungo gefällt mir noch besser. Die Sprache ist noch etwas ausgefeilter, die Schilderung der Geschehnisse gnadenlos. Es geht neben den Nöten der Menschen seinerzeit vordergründig um Gewalt und Homophobie. Douglas Stuart legt den Finger tief in die Wunde, schönt nichts. Aus meiner Sicht hat sich der Autor selbst übertroffen. Ich bin gleichermaßen schwer begeistert und erschüttert von der Deutlichkeit der Darstellung.

Mit Young Mungo mutet man sich Einiges zu, zeitweise ist das Lesen schwer auszuhalten. Trotzdem gebe ich eine ganz klare Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 04.01.2023

Der wahre Glaube

Der Kreis
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Glaube ist individuell. Wenn nun Glaubensgemeinschaften jeweils von nur einem Gott, nämlich dem eigenen, ausgehen, ist Konfliktpotenzial zwangsläufig. „Der Kreis“ ist eine Auseinandersetzung mit dem Konflikt ...

Glaube ist individuell. Wenn nun Glaubensgemeinschaften jeweils von nur einem Gott, nämlich dem eigenen, ausgehen, ist Konfliktpotenzial zwangsläufig. „Der Kreis“ ist eine Auseinandersetzung mit dem Konflikt zwischen verschiedenen Religionen zeitgleich mit Zusammenbruchs des Osmanischen Reiches. Dadurch sind nicht nur religiöse Kräfte, sondern auch koloniale Mächte involviert.

In dieses Umfeld wird Aziza als Jesidin hineingeboren. Ihrer Familie entstammte eine Reihe von Heilern und Heilerinnnen, die den Menschen der umliegenden Dörfer bei Verletzungen, Krankheiten und Geburten mit ihren pflanzlichen Arzneien halfen. Auch Aziza besitzt diese Kraft. Sich selbst vor Verfolgung, Unterdrückung und Gefangenschaft kann sie damit allerdings nicht schützen. Die Zwangsislamisierung ist auf dem Vormarsch, die Jesiden haben eigentlich keine Chance, wenn sie leben wollen. Nachdem Aziza von den Schergen des Sheikh entführt worden ist, muss sie schlimmstes Übel miterleben und sich als Werkzeug des Sheikh benutzen lassen.

Azizas Standhaftigkeit in ihrem jesidischen Glauben macht sie für mich zu einer faszinierenden Persönlichkeit. Eigene Befindlichkeiten stellt sie zurück, damit der ihr Glaube noch ein wenig überdauert. Nachdem ihre gesamte Familie zum Islam übergetreten ist, bleibt ihr lediglich noch Priester Pir Hesman als letzter echter Vertrauter.

Durch seinen sachlich dokumentarischen Tonfall habe ich den Roman sehr gern gelesen, obwohl manche grausame Tat nichts als Ablehnung in mir auslöst. Zudem konnte ich die historischen Ereignisse rund um die Gründung der Türkei und die beteiligten Figuren für mich bewusst ordnen. Ich mochte es sehr, dass der Autor so dicht an der Historie geblieben ist und sich weniger den Leidenschaften seiner Charaktere hingegeben hat. Gleichzeitig schenkt er seinen Figuren genug Persönlichkeit, dass ich sie gern lesend begleitet habe. Selbst die kritischen Figuren wie der Sheikh und Jibrail haben mir von der Darstellung ihres Lebensweges her gut gefallen, weil mir deren Entwicklung realistisch erscheint und der Roman dadurch eine hohe Glaubwürdigkeit generiert.

Ein Roman mit wunderbarem Symbol als Titel, der noch etwas lehrt ohne zu belehren, der die Auswüchse des Konflikts wahrhaftig darstellt ohne Partei zu ergreifen, den zu lesen ich nur empfehlen kann.

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Veröffentlicht am 25.11.2022

Reise in die Vergangenheit

Die Sehnsucht nach Licht
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Nach „Was uns erinnern lässt“ und „Wo wir Kinder waren“ habe ich mich sehr gefreut, als ich den neuen Roman von Kati Naumann entdeckt habe. Ich mag ihre Geschichten, die aus dem aktuellen Geschehen heraus ...

Nach „Was uns erinnern lässt“ und „Wo wir Kinder waren“ habe ich mich sehr gefreut, als ich den neuen Roman von Kati Naumann entdeckt habe. Ich mag ihre Geschichten, die aus dem aktuellen Geschehen heraus den Blick in die Vergangenheit wagen und den Fokus auf ganz bestimmte Gegenden richten. Die Autorin arbeitet mit hoher Sensibilität die kritischen Ereignisse im gewählten Setting heraus und verbindet diese geschickt mit ihren sympathischen Charakteren.

Im neuen Roman bewegen wir uns in der Bergbauregion im Dreieck zwischen Schneeberg, Schlema und Aue, südöstlich von Zwickau. Als jüngstes Mitglied der Bergmannsfamilie Steiner beschließt Luisa für ihre Großtante Irma Nachforschen zu deren einst verschollenen Bruder Rudolf anzustellen. Einmal angefangen, gräbt sie tief in die Familiengeschichte hinein und fördert so manches Geheimnis zu Tage. Ganz nebenbei wird der mehrfache Auf- und Abstieg der Region im Wandel behandelt, zeitweise Kurort, mal sowjetische Besatzungszone, durchgehend mehr oder weniger intensiv ausgebeutete Bergbauregion. Interessant war für mich darüber hinaus die Entwicklung des Gesundheitsschutzes im Bergbau. Mit dem Wissen um heutige Möglichkeiten ist vieles erschreckend. Dennoch gab es einfache Mittel und Regeln sowie den Zusammenhalt der Kumpel, wodurch tatsächlich Leben im noch sehr gefährlichen Bergbau gerettet werden konnten.

Begleitet wird die Familienforschung von Traditionen und Weisheiten der Bergmannswelt. „Ein Bergmann ist ehrlich” und “Wir lassen keinen zurück” seien hier nur beispielhaft genannt. Besonders schön finde ich das allabendliche Anzünden der Leuchter, damit die Bergleute nach Hause finden. Ich stelle es mir schön vor, beim Nachhausekommen die Leuchter im Fenster zu sehen und zu wissen, dass hinter dem Fenster meine liebe Familie auf mich wartet. Darüberhinaus trägt auch das gemeinsame Klöppeln von Spitze und das Geschichtenerzählen zu dieser heimeligen Atmosphäre bei. Insgesamt entsteht ein positives Gefühl von Heimat, dem ich mich bedingungslos hingeben kann.

Summa summarum bin ich mal wieder begeistert von Kati Naumann. Die Geschichte bringt gelesene Wärme in diese kalte Jahreszeit. Wenn man unsere aktuelle Krisenlage mit den beschriebenen Krisen des Schlematals vergleicht, erscheint das eigene Schicksal doch gleich in einem anderen Licht. Als kleines Highlight zwischendurch fügt die Autorin ein verbindendes Element zum Vorgänger-Roman ein, indem sie der kleinen Irma einen Nachziehhund der Firma Langbein an die Hand gibt. Ich liebe so etwas.

Ganz klare Leseempfehlung.

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