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Veröffentlicht am 20.01.2023

Die Großen Fünf versus Die Hässlichen Fünf

Die Suche nach den Großen Fünf
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Das fünfte Buch der Abenteuerserie mit B-OB Coddiwomple, dem 'entschlossen Reisenden zu einem unbekannten Ziel', wie man gleich zu Anfang der Lektüre erfährt, und den Kindern Line und Benni beginnt mit ...

Das fünfte Buch der Abenteuerserie mit B-OB Coddiwomple, dem 'entschlossen Reisenden zu einem unbekannten Ziel', wie man gleich zu Anfang der Lektüre erfährt, und den Kindern Line und Benni beginnt mit dem Ausmisten des alten Wohnmobils, eben jenes B-OB, bei dem allerhand Schätze zu Tage gefördert werden, mit denen man eigentlich ein ganz besonderes Museum füllen könnte, wie Benni, der Junge mit dem großen Wissensdrang und daraus resultierender Weltoffenheit, gepaart mit einer guten Portion Schlagfertigkeit, meint, denn jedes Stück, das B-OB in seinem spezialausgerüsteten Wunderbauch beherbergt, ist einzigartig und kann eine spannende Geschichte erzählen. Fast jedes! Denn da gibt es auch noch eine riesige aber ganz normale Trommel aus Botswana, dem früheren Bechuanaland im Süden des afrikanischen Kontinents – die der Anlass für eine erneute Reise der Weltenbummler Kids gemeinsam mit dem himmelblauen Wohnmobil ist, das sich nicht nur auf die herkömmliche Art fortbewegen kann, sondern eben auch fliegend und schwimmend. B-OB war natürlich schon einmal dort, in diesem großen, flachen Land mit der reichen Tierwelt! Dem Land übrigens, innerhalb dessen Grenzen als einzigem afrikanischen Land niemals ein Krieg ausgetragen wurde – wie man weiß, wenn einem Botswana aus der, nebenbei gesagt, sehr empfehlenswerten Serie um Mma Ramotswe, der ersten weiblichen Detektivin des Landes, wohlbekannt ist....
Und mit zwei Detektiven bekommen es B-OB, Line und Benni bereits kurz nach ihrer Ankunft in Gaborone, der Hauptstadt des friedlichen Landes mit seinen freundlichen und fröhlichen Menschen, zu tun. Genauer gesagt, mit den 'Cleveren Zwei', wie sie sich nennen, den besten Kinderdetektiven des Landes, Bonty und Thobo, die gerade von der Polizei in ihre Schranken gewiesen werden, was sie verletzt, denn sie haben schon Fälle aufgeklärt, an denen die offiziell damit Beauftragten gescheitert sind. Nun aber bietet sich erneut die Möglichkeit, ihren detektivischen Spürsinn und ihren Einfallsreichtum unter Beweis zu stellen, denn noch während sich B-OB, Line, Benni und die Cleveren Zwei miteinander bekannt machen, ereilt sie die Nachricht, dass eine durch eine Dokumentation bekannte Zebraherde aus dem Wildreservat Mokolodi, außerhalb von Gaborone, spurlos verschwunden ist. Empörung macht sich bei den Weltenbummler Kids und ihren neuen botswanischen Freunden breit, denn sie wissen, dass die längst rückläufige Zahl der wildlebenden afrikanischen Tiere Grund zu großer Besorgnis ist, weshalb in Botswana das unerlaubte Jagen und Fangen wilder Tiere streng verboten ist. So beschließen sie auf der Stelle, nach den Tierdieben Ausschau zu halten und finden alsbald heraus, dass da Tierdiebstahl in großem Stile in Gang ist, hinter dem die gemeinste Ganovenbande des Landes steckt, die sich 'Die Großen Fünf' nennt, nach den fünf imposantesten, aber auch am stärksten bedrohten Tieren des afrikanischen Kontinents, dem Löwen, dem Elefanten, dem Nashorn, dem Leoparden und dem Büffel. Eine anmaßende Bezeichnung für eine Gruppe von zweifelhaften Individuen, die den realen 'Big Five' nicht einmal im Traume das Wasser reichen können....
Bei der Verfolgung der Gangster, die ihnen immer einen Schritt voraus sind, kommen Line, Benni, Thobo und Bonty in viele weitere Reservate und Nationalparks, ohne dass sie den Diebstahl der dort jeweils beheimateten Tiere verhindern können. Doch Optimismus, das wissen wohl diejenigen unter den großen und kleinen Lesern, die die vier Vorgängerbände der Abenteuerreihe kennen, scheint ein Markenzeichen B-OBs und der Weltenbummler Kids zu sein! Niemals aufgeben, es gibt immer einen Weg, ist die Devise. Und so sind es nicht 'Die Großen Fünf', die zuletzt lachen, obschon sie sich ihrer Sache so sicher waren, sondern die von ihnen verächtlich 'Die Hässlichen Fünf' betitelten Kinder, samt B-OB, also die zwar nicht hübsch anzuschauenden, aber mit hervorragenden Eigenschaften ausgestatteten Tiere Gnu, Hyäne, Geier, Warzenschwein und Marabu!
Es kommt also nicht darauf an, lautet die Botschaft in dieser sehr passend, sehr kindgerecht illustrierten Geschichte, ob man groß oder klein, alt oder jung ist, sondern vielmehr auf das, was man tut und wem man damit nützt! Ja, das haben die zu Beginn doch recht niedergeschlagenen Cleveren Zwei gut verstanden, und als sie zum Ende hin gar eine Belobigung der Polizei erhalten, kennen ihre Freude und ihr Tatendurst keine Grenzen....
Obgleich ich erst mit vorliegendem fünften Band in die Reihe um B-OB und den Weltenbummler Kids eingestiegen bin, mit diesem die Geschichten überhaupt erst kennengelernt habe, gefiel mir das Konzept auf Anhieb! Ja, genauso müssen sie sein, die Bücher dieses Genres für junge Leser, wobei mir die Altersgruppe unter 5 allerdings zu jung erscheint und von den Vorlesenden die Geschichte besser in abgespeckter Form zu Hören bekommen sollten, während sie sich an den wirklich schönen Zeichnungen mit Sicherheit erfreuen. Besonders befriedigt bin ich darüber, kein 'pädagogisches' Buch, wie der Autor zu Recht versichert, vor mir zu haben. Derer gibt es zur Genüge – und leider sind sie immer langweilig! Ja, ein rechtes Abenteuerbuch ist das, was ich hier gelesen habe, mit pfiffigen, neugierigen Kindern, die in keiner Weise altklug, verwöhnt oder nervig sind. Und wenn diese Abenteuer dazu noch in den unterschiedlichsten Ländern der Erde erlebt werden und man dabei diese Länder auf eine Art und Weise kennenlernt, die Spannung mit angenehm unprätentiösen Informationen – nicht zu vielen, nicht zu wenigen – kombiniert, dann macht das Lesen einfach Spaß, auch Erwachsenen! Man bekommt einen prägnanten Eindruck von dem bereisten Land, hier ja dem weitgehend unbekannten Botswana (außer natürlich für die schon erwähnten Mma Ramotswe Fans!), selbst wenn man es niemals mit eigenen Augen gesehen hat, noch zukünftig sehen wird. Und letzteres trifft, da wollen wir uns nichts vormachen, für die Mehrheit der Leser, gewiss aber für die Mehrheit der Bevölkerung zu! Das, was Familie Wallenborn tut, aus Leidenschaft und, so will es mir beinahe scheinen, 'hauptberuflich', ist nur ganz wenigen Privilegierten, so möchte ich sie mal nennen, vorbehalten. Reisen, auch minimalistisches Reisen, kostet nun einmal Geld, Vielreisen kostet viel Geld. Und wenn man auch noch so abenteuerlich ist, kann man das nicht, wenn man jeden Monat mit seinem sauer verdienten Geld gerade so eben über die Runden kommt....
Wenn ich mich auf der 'Weltenbummlerkids' – Homepage umschaue, dann wird mir der Eindruck vermittelt, dass Reisen wie die der Wallenborns (alleine 80 Länder, mit Kind, später Kindern 30 Länder), für jedermann möglich ist, dass Familien mit Kindern lediglich Ermutigung und Tipps brauchen, um sich dann auch gleich auf den Weg zu machen. Das aber geht an jeglicher Realität in diesem unserem Lande vorbei, in dem die Preise für alles, ob Produkte oder Dienstleistungen, munter steigen! Was nichts daran ändert, dass ich Kinderbücher wie das Botswana-Abenteuer, die einem die Welt nach Hause bringen, und zu dem ich hier ein paar Gedanken niedergeschrieben habe, für eine Bereicherung halte (und selbstverständlich die Reihe weiterverfolgen werde)! Reisen aus zweiter Hand ist schließlich auch eine Möglichkeit, ferne Länder kennenzulernen – und nicht einmal die schlechteste....

Veröffentlicht am 06.01.2023

Ann und der Junge mit den goldenen Augen

Der rote Seidenschal
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Über Federica de Cesco, die Autorin des hier zu besprechenden Romans, schreibt Kurt Schnidrig 2021 folgendes: „Ihre Bücher haben bei Generationen von jungen Menschen die Freude am Lesen und am Schreiben ...

Über Federica de Cesco, die Autorin des hier zu besprechenden Romans, schreibt Kurt Schnidrig 2021 folgendes: „Ihre Bücher haben bei Generationen von jungen Menschen die Freude am Lesen und am Schreiben geweckt, und sie dienen auch heute noch als Türöffner für das Bücherlesen“. Dem kann ich nur zustimmen, darf ich mich doch einreihen in die große Gruppe derer, deren Lesegeschmack schon im jungen Alter von der 1938 in Norditalien geborenen und seit mehr als einem halben Jahrhundert in der Schweiz beheimateten, äußerst klugen, weitgereisten und polyglotten Schriftstellerin enorm beeinflusst, wenn nicht gar geprägt wurde!
Immer imponierten mir ihre Hauptpersonen, ausschließlich Mädchen und später, als Federica de Cesco begann, auch für Erwachsene zu schreiben, junge Frauen, die mutig gegen alle Widrigkeiten ankämpften, die ihnen begegneten, denn sie machten Mut, den eigenen Weg zu verfolgen, egal wie unkonventionell der war, und den Platz zu hinterfragen und notfalls auch zu verlassen, der traditionell den Mädchen zugewiesen wurde. Nicht von ungefähr schreibt die Autorin 'von starken Frauen, die immer gewinnen', und sie betont, dass daher die in ihren Büchern auftauchenden Jungen und Männer emanzipiert und 'liebe und freundliche Gefährten der Mädchen' sein müssen. Über sich selbst sagt sie, dass sie in ihrem Leben 'niemals gehorsam sein' wollte, immer den Weg ging, den sie als den für sie richtigen betrachtete. Damit war sie ganz selbstverständlich emanzipiert, lange bevor die Frauenbewegung in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts sich in Bewegung setzte....
Doch nun komme ich endlich auf das Erstlingswerk de Cescos, 'Der rote Seidenschal' zu sprechen, den sie nach eigener Aussage als erst 15jährige für ihre Freundinnen während der langweiligen Schulstunden ersonnen hatte und der in der Tat den Grundstein legen sollte für eine beispiellose Karriere, während derer die inzwischen 84jährige, ungebrochen schaffensfreudige Autorin mehr als 100 Romane geschrieben hat. Eine Vielschreiberin also? Diese Bezeichnung hat ja immer etwas Anrüchiges, denn wer viel schreibt, verfasst Massenware? Nicht doch! Nicht die blitzgescheite, über ihre Interessengebiete, die da andere Völker und Kulturen sind, bestens informierte de Cesco, die stets sorgfältig recherchiert. Für jeden einzelnen ihrer Romane, die sie ebenso sorgfältig konzipiert und die genau das in aller Unbekümmertheit auch schon als ganz junges Mädchen getan hatte! Denn über die nordamerikanischen Indianer, unter denen die Handlung des 'Roten Seidenschals' angesiedelt ist, wusste sie Bescheid! Ihnen galt damals ihr ganz besonderes Interesse. Und sie mag sich, inspiriert vielleicht durch ihre Brieffreundschaft mit einem jungen Mann, der den First Nation, respektive American Natives, wie das heutzutage in vollendeter politischer Korrektheit ausgedrückt werden muss, angehörte, dann überlegt haben, was denn dabei herauskommen könnte, wenn sie eine genauso unkonventionelle Protagonistin wie sie selbst – die gegen ihren Willen überbehütete und, wie das damals eben so war, völlig fremdbestimmte Ann aus Georgia – auf einer Reise durch den 'Wilden Westen' (hoffentlich tue ich mit dieser Bezeichnung der allgegenwärtigen Zensur namens 'political correctness' genüge!) mit einem Halbblut – dem goldäugigen Chee, Sohn eines weißen Vaters und einer wunderschönen indianischen Mutter vom Stamme der Apachen – zusammentreffen lassen würde. Und dies zu einer Zeit, nämlich etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die großangelegte systematische Vernichtung der Ureinwohner, der First Nation, durch die selbsternannten neuen Herren, die Weißen, gerade erst begonnen hatte. Ein brisanter und sehr spannender Stoff, fürwahr, der jede Menge Zündstoff enthält – und im Grunde der Vorläufer ist für die modernen Western, die dann in den 70ern in die Kinos kommen sollten und die versuchten, mit den überkommenen Klischees aufzuräumen.
65 Jahre nach der Erstveröffentlichung von Frederica de Cescos Debütroman beschloss der Schweizer Wörterseh-Verlag dann eine Neuauflage, 'sanft der heutigen Zeit' angepasst. Letzteres bereitete, wie man hört, nicht nur der Autorin, die bekannt dafür ist, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, wenn es um eine in ihren Augen unsinnige Zensur der Wortwahl geht, einige Bauchschmerzen, sondern auch mir vor dem Wiederlesen, kannte ich den Roman doch schon in den 60er Jahren, denn im Zuge der auf 'political correctness', um mich schon wieder dieses Begriffs zu bedienen, getrimmten Neuauflagen anderer mir lieben literarischen Werke verloren diese an Authentizität, damit an der Kraft, die ihnen im Original innewohnte.
Nun, ich hätte mir keine Gedanken machen müssen, erkannte ich doch 'meinen' alten 'Seidenschal' in jedem Satz wieder! Ich kann mir vorstellen, dass die Autorin, wäre das anders gewesen, auf ihre unnachahmliche, sanfte, aber sehr bestimmte Art ihr Veto eingelegt hätte! Selbst wenn sie in ihrem Vorwort zur Neuauflage schreibt, dass sie – natürlich und nachvollziehbarerweise! - heutzutage ihren in so jungen Jahren verfassten Erstling anders schreiben würde, lebensnaher, exakter im Hinblick auf das Brauchtum der Apachen, realistischer, in Bezug auf ihre Situation in ihrem ureigenen Heimatland. Naja, und vom Ende, über das hier selbstredend nichts verraten wird, ganz zu schweigen!
Während der Lektüre wurde mir allerdings auch, mit nicht wenig Erstaunen, klar, wie modern der bereits vor meiner Geburt geschriebene Roman doch noch immer ist, drückt er doch etwas Universelles, etwas Zeitloses aus, etwas, das auch und gerade für die jungen Menschen der heutigen Zeit nach wie vor seine Gültigkeit hat – die Hoffnung auf ein friedliches Miteinander aller Völker und aller Rassen, auf ein Ende jedweder Diskriminierung und das selbstverständliche Recht für alle, seine Träume zu leben! Dass wir nach wie vor auf die Erfüllung dieser Hoffnung warten, sollte kein Grund sein, sie aufzugeben. So oder ähnlich würde das Federica de Cesco ganz gewiss auch ausdrücken!

Veröffentlicht am 05.01.2023

Die geheimnisvolle Schule im Wald

Ashwood Academy – Die Schule der fünf Türme (Ashwood Academy 1)
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So gut mir die wohl niemals zu übertrumpfende Harry Potter – Reihe auch gefällt, so sehr bedauere ich, dass Joanne K. Rowling durch ihre geradezu unerschöpfliche Phantasie bereits das allermeiste vorweggenommen ...

So gut mir die wohl niemals zu übertrumpfende Harry Potter – Reihe auch gefällt, so sehr bedauere ich, dass Joanne K. Rowling durch ihre geradezu unerschöpfliche Phantasie bereits das allermeiste vorweggenommen hat, was sich gegenwärtige und zukünftige Autoren von Fantasy-Geschichten, die sich in dieser Art von Setting, einer besonderen Art von Schule nämlich, bewegen, jemals einfallen lassen. Da können sie sich noch so sehr bemühen – ein Anklang an Harry Potters Welt ist immer dabei! Es kommt dann darauf an, was aus der gemeinsamen Ausgangsposition gemacht wird, in welche Richtung sich also die jeweiligen Geschichten bewegen! Und wenn wir es mit einem richtig guten Autor beziehungsweise einer Autorin, wie Karin Müller eben, zu tun haben, dann kann es gelingen, dass man als Leser alsbald aufhört, Vergleiche zu ziehen und Harry Potter einfach vergisst!
Und genau das erfuhr ich während der Lektüre des ersten Bandes von Karin Müllers neuer Reihe 'Ashwood Academy', von der ich wirklich hoffe, dass mehr als nur zwei Bände geplant sind, denn die Geschichte, so wie sie sich in dem hier zu besprechenden Roman angelassen hat, besitzt unendlich viel Potential, wurde doch bisher gerade einmal an der Oberfläche gekratzt und sind die meisten Fragen, die sich nicht nur der Leser, sondern auch die Hauptperson Helena oder besser Lenya, wie sie viel lieber genannt werden möchte, stellen, unbeantwortet geblieben. Gewiss, man hat jetzt doch wenigstens eine Ahnung, wo all das Geheimnisvolle, uns und der Ich-Erzählerin Verschwiegene und – aus welchem Grund auch immer – unbedingt zu Verschleiernde hinführen wird. Eine Ahnung, wie schon gesagt, mehr aber auch nicht! Und damit kann man durchaus falsch liegen, wie wir ja, und da muss ich einfach gleich noch einmal auf Harry Potter zurückkommen, sehen können. Auch dort ließ man sich in die Irre führen, wurde im Ungewissen gelassen, um dann durch die weitere Entwicklung der Dinge überrascht zu werden. J. K. Rowling hatte, so sagte sie einmal, die gesamte, sich über sieben Bände erstreckende Potter-Geschichte bereits fix und fertig in ihrem Kopf, bevor 'The Philosopher's Stone' quasi über Nacht ein so nie erwarteter durchschlagender Erfolg wurde. Liest man besagten ersten Band noch einmal sorgfältig, so weiß man, dass sie die Wahrheit gesagt hat, denn all die Fragezeichen, die man schon in diesem setzen musste, konnten nur so, wie es dann im düsteren Abschlussband getan wurde, aufgelöst werden. Alles machte im Nachhinein Sinn, vollkommen und auf absolut geniale Weise!
Nun, bleibt zu hoffen, dass Karin Müller ihre Leser nicht derartig lange, also fast zehn Jahre, auf die Folter spannen wird – was auch nicht zu befürchten ist, wenn man sich an das zügige Erscheinen ihrer bisherigen Reihen – 'Nordlicht', 'Nordstern' und 'Das Rätsel des Pferdeamuletts' – erinnert. Bei denen übrigens ging es zunächst genauso rätselhaft zu wie im ersten Band der 'Ashwood Academy', man hatte mehr Fragen als Antworten und dennoch wurde alles schlüssig und überzeugend aufgelöst. Also werden wir, da bin ich sicher, schon bald über all das Geheimnisvolle, das uns hier begegnet, aufgeklärt, werden wir mehr über den Sinn und Zweck der von der Außenwelt abgeschotteten Schule im Wald, dessen magischen Geschöpfen und natürlich über die fünf Türme erfahren, deren letzter, der rote, künftighin seine erste Bewohnerin nach unzähligen Jahren, die Lichtwandlerin, genauer Feuerwächterin, Lenya, bekommen wird. Und klar, das unverständliche Verhalten ihres Hausmeistervaters Corbinian und sein Herumgedruckse, wenn ihm Fragen gestellt werden, wird letztlich auch einen Grund haben, der uns sicherlich gewaltig überraschen wird!
Von der ersten Seite an übrigens habe ich 'Ashwood Academy' geliebt – und mag ich auch hundertmal Vergleiche gezogen haben zu Hogwarts mit seinen Häusern Gryffindor, Ravenclaw, Hufflepuff und Slytherin! Die Türme hier in der Schule im verwunschenen Wald haben aber ihren ganz eigenen, fröhlichen, düsteren, unheimlichen, verlockenden (der rote Turm!) Charme, und ja, ich hätte mich gerne in jeden einzelnen von ihnen hineingeschlichen, um sie zu erkunden, um ihre Geheimnisse (denn die haben sie alle!) zu ergründen. So blieb mir meine eigene, leider oft überbordende Vorstellungskraft. Was nicht das Schlechteste ist, denn ich mag, wenn ich ehrlich bin, das Unausgesprochene, das Im-Dunkeln-Gelassene wesentlich lieber als das Explizite. Das ist dann geradeso, als würde man sein eigenes Buch in einem fremden lesen! Und dafür, dass sie dem Leser zutraut, seinen eigenen Weg durch ihr Handlungslabyrinth zu finden, womit sie die Phantasie ungeheuer anregt, bin ich Karin Müller sehr dankbar. Ein Grund mehr, warum ich von ihren Fantasy-, nun ja, eher Urban-Fantasyromanen, gar nicht genug bekommen kann. Ihre magischen Welten haben einen ganz speziellen Zauber und sind – da verweise ich mal auf die 'Pferdeamulett' – Trilogie – gar nicht leicht zu fassen, wenn man sich bemüht, zwischen den Zeilen zu lesen, was man bei ihr unbedingt tun sollte!
Ihre Protagonistinnen – ja, es sind immer Mädchen, die ihnen zur Seite gestellten Jungen sind stets so emanzipiert, dass sie im Schatten der jeweiligen Heldinnen, heißen sie nun Erla oder Elin oder Godje, stehen können – gleichen einander, scheinen zunächst ganz normale, oft ein wenig schnoddrige, zu Beginn sogar recht zickige Mädchen zu sein, wachsen dann aber an den anspruchsvollen und gefährlichen Anforderungen, die man an sie stellt. So wie man das bei Lenya eben auch beobachten kann, denn, seien wir ehrlich, möchte man die anspruchsvolle, immer etwas verpeilt wirkende, trotz ihres lockeren Mundwerks doch sehr oberflächlich wirkende Meckerziege, als die sie sich bei ihrer Ankunft präsentiert, wirklich zur Freundin haben? Auch für sie gilt: man muss tiefer blicken, der erste Eindruck täuscht! Benu hat das mit seinen Nachtaugen und mit seinem Herzen sofort erkannt und ihr dadurch eine erste Möglichkeit gegeben, sich zu bewähren. Und ihr bleibt ja auch gar nichts anderes übrig, als in Notsituationen zu reagieren, könnte man denken, nicht wahr? Aber diese Schlussfolgerung wäre zu einfach, denn schließlich ist sie dazu ausersehen, die Schule im Wald mitsamt allem, das sie hütet, beschützt, verbirgt zu retten. Sie folgt also, ohne es zu wissen, ihrer Bestimmung, doch wer weiß, wie die Begegnung mit den Trollen ausgegangen wäre, hätten ihr Benu und die anderen, die sich letzten Endes als echte Freunde erwiesen haben, nicht geholfen? Folglich ist das so eine Sache mit den Bestimmungen, man sollte nichts so nehmen, wie es scheint – und es bleibt spannend und rätselhaft und ganz gewiss auch gefährlich! Und mir bleibt nur noch, mich auf den Folgeband im März zu freuen....

Veröffentlicht am 05.01.2023

Bei den Schwarzwald-Engländern

Xaver im Uhrenland
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Bevor ich das von Martina Mair wunderhübsch illustrierte und von Heidi Knoblich mit viel Gefühl erzählte gewiss nicht alltägliche Bilderbuch 'Xaver im Uhrenland' zum Lesen und anschließenden Besprechen ...

Bevor ich das von Martina Mair wunderhübsch illustrierte und von Heidi Knoblich mit viel Gefühl erzählte gewiss nicht alltägliche Bilderbuch 'Xaver im Uhrenland' zum Lesen und anschließenden Besprechen bekam, war mir die Thematik, die als Hintergrund der Geschichte dient – ich muss es zu meiner Schande gestehen! - vollkommen unbekannt! Nun, ich komme schließlich nicht aus der Freiburger Gegend, wo alles rund ums Uhrwerk Allgemeingut zu sein scheint, sondern aus einer ganz anderen Ecke Deutschlands... Dies mag mein Unwissen erklären, das ich allerdings mit Hilfe der anrührenden Geschichte, zu der ich im Folgenden einige Gedanken aufschreibe, und einiger zusätzlicher Nachforschungen in doch wenigstens Grundwissen umgewandelt habe. Die Schwarzwälder Uhrenhändler, respektive ein Teil von ihnen, die Schwarzwald-Engländer, die im 19. Jahrhundert in die Welt hinauszogen, ins Uhrenland, das überall da war, wo sie ihre Uhren verkauften, sind nun gewiss keine Unbekannten mehr für mich!
Erfolgreich waren sie, diese Schwarzwald-Engländer; durch sparsames Wirtschaften und der oft harten Arbeit unter widrigen Bedingungen zum Trotz, gelangten viele von ihnen zu Wohlstand, um dann in der alten Heimat, die sie regelmäßig besuchten, Hofgüter oder Gastwirtschaften zu erwerben. Hochgeachtet waren sie überdies, sorgten sie denn auch treu und zuverlässig dafür, dass die Ihren in der alten Heimat ein Auskommen hatten und somit ein wenig teilhaben konnten am Erfolg der Verwandten. Kein Wunder also, dass viele in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsene Jungen, die oft nur Hütejungentätigkeiten ausübten und ansonsten keine rechte Zukunft hatten, den dringenden Wunsch verspürten, in die Fußstapfen der reichen, fernen oder engen, Verwandten zu treten. Aber damals wie heute – ohne Beziehungen lief da gar nichts....
So auch, und nun komme ich endlich auf die eigentliche Geschichte zu sprechen, der Hirtenjunge Xaver aus dem Schwarzwald, dessen Onkel Johann zu den erfolgreichen Schwarzwald-Engländern gehörte. Seine Mutter unterstützt ihn, rät ihm, an sich selbst zu glauben, während dem Vater der Herzenswunsch des Sohnes suspekt ist. Dennoch willigt er schließlich ein und lässt Xaver mit dem Onkel nach England ziehen, allerdings sozusagen erst einmal auf Probe! Sollte Xaver bis zum Weihnachtsfest nicht bewiesen haben, dass er zum Uhrmacherhandwerk taugt, muss er wieder zurück und weiterhin das Vieh hüten. Und dann wäre es vorbei mit seinem Traum, das weiß er und ist daher fest entschlossen, sich zu bewähren und so viel wie möglich von seinem freundlichen, so geduldigen wie gutherzigen Onkel Johann zu lernen. Stolz sollen sie auf ihn sein, zuhause, freuen sollen sie sich, denn unser Xaver denkt nicht im Traum daran, das Geld, das er als erfolgreicher Schwarzwald-Engländer in ferner Zukunft verdienen würde, für sich selbst zu verwenden! Nein, es war Ehrensache, damit die Familie zu unterstützen, eine Einstellung, über die die meisten jungen Leute von heute nur verständnislos den Kopf schütteln würden, die ich aber für außerordentlich liebenswert halte....
Nun, Xaver erweist sich als gelehriger Schüler, und gleichzeitig begreift er, dass das Handwerk, das er zu dem seinen auserkoren hat, ein hartes ist. Bei Wind und Wetter, mit schmerzenden Füßen und schwerem Gepäck durch die Lande zu ziehen, ist kein Zuckerschlecken! Dazu ist es gar nicht leicht, sich in dem fremden Land, in dem er die Menschen nicht versteht, und in der so großen Stadt London einzugewöhnen. So ist das nagende Heimweh Xavers ständiger Begleiter, wird aber erträglicher, als er das Mädchen Vicky kennenlernt, deren liebenswerter Großvater es als nunmehr in London sesshafter Schwarzwald-Engländer zu einigem Wohlstand gebracht hat. Xaver ist also zuversichtlich, Weihnachten nicht nach Hause zurück geschickt zu werden. Womöglich allzu zuversichtlich, denn wähnt man sich zu sicher, wird man manchmal unbedacht und es geschehen Fehler, im schlimmsten Falle sogar schwerwiegende, wie man ja auch dem Klappentext entnehmen kann. Und nun zeigt sich, dass nicht nur Vicky eine wahre Freundin ist, sondern dass man sich auch auf den ihm anfangs nicht wohlgesonnenen Lehrjungen Olly verlassen kann. Gemeinsam verhüten die drei Kinder das Schlimmste, zu Onkel Johanns Zufriedenheit, der dem Neffen gar eine große Zukunft als Uhrmacher prophezeit!
Alles hätte in Wohlgefallen enden können, aber da gab es etwas, das Xaver das Herz schwer machte: Weihnachten stand vor der Tür! Und er war in der Fremde, konnte nicht bei seinen Lieben sein, zuhause, im Schwarzwald. Das, so begriff er jetzt vielleicht, wenn auch unbewusst, war das Los derer, die in die Fremde zogen, um dort ihr Glück zu machen. Doch der Onkel und Xavers neugewonnene Freunde, die zum Weihnachtsmahl einluden, - mit Tannenbaum, versteht sich, obgleich dieses an Weihnachten unverzichtbare Requisit zu der Zeit, da die Geschichte spielt, noch keinen Einzug in England gefunden hatte - halfen, den Schmerz zu lindern – und als dann, neben den typisch englischen Weihnachtsgerichten, schließlich all die Köstlichkeiten aufgetragen wurden, die es auch daheim gab, spürte Xaver endlich die Weihnachtsfreude, tief in seinem Herzen....
Ein wunderschönes Bilderbuch, wie ich schon zu Anfang schrieb, eines, das so recht dazu taugt, mitten in der Weihnachtszeit gelesen zu werden, in der die Menschen ohnehin in sentimentaler, sehnsuchtsvoller Stimmung sind – und vielleicht durch das so freundlich erzählte Bilderbuch (das ganz gewiss einen Platz finden wird in meinem Regal besonders schöner Bilderbücher) zum Nachdenken gebracht werden, über all diejenigen, die das Fest weit weg von der Familie verbringen, ob freiwillig oder unfreiwillig. Doch wie gesagt, Weihnachten ist im Herzen, man trägt es mit sich, wo immer man auch ist – und wenn man das Glück hat, die Weihnachtsfreude mit lieben Freunden teilen zu können, dann ist das ja wie zu Hause, beinahe....

Veröffentlicht am 04.01.2023

Ein hervorragend erzähltes Stück Zeitgeschichte

Rabenkinder (Morduntersuchungskommission Leipzig 1)
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„Ein Wendekrimi“ ist der hier zu besprechende Roman 'Rabenkinder' untertitelt, ein Kriminalroman also, so war mir klar, bevor ich mit der Lektüre begann, der um das geschichtsträchtige Datum, dem 9. November ...

„Ein Wendekrimi“ ist der hier zu besprechende Roman 'Rabenkinder' untertitelt, ein Kriminalroman also, so war mir klar, bevor ich mit der Lektüre begann, der um das geschichtsträchtige Datum, dem 9. November 1989, dem Tag des Mauerfalls, spielt, oder irgendwann zwischen den Kommunalwahlen in der DDR im Mai 1989 und der einzigen wirklich freien Volkskammerwahl im März 1990.
Ich selbst bin im Zonenrandgebiet – auf westlicher Seite – aufgewachsen, die Teilung Deutschlands war also allgegenwärtig während meiner Jugend, immer unverständlich freilich, und das, was hinter dem Todesstreifen vor sich ging – über so vieles wurde ja gemunkelt, was Genaues wusste man nicht -, empfand ich immer als unheimlich. In lebhafter Erinnerung sind mir auch die Wochen, die dem Mauerfall vorausgingen; die Berichterstattungen über die Montagsdemonstrationen in Leipzig verfolgte ich mit wachsender Spannung, befriedigt schließlich über den Niedergang eines Unrechtsstaates, über dessen mehr als zweifelhafte Methoden seine Bürger gefügig zu machen im Laufe der nächsten Wochen, Monate und Jahre, eigentlich bis heute, immer mehr Unglaubliches, Erschreckendes, Menschenverachtendes ans trübe Licht des Tages sickerte.
So hielt ich mich also für wohlinformiert! Was ich dann allerdings hier in 'Rabenkinder' zu lesen bekam, ist ein Kapitel, über das ich bislang zugegebenermaßen nicht hinreichend informiert war und das dann wirklich wie ein Schock kam – obschon ich es mir hätte ausmalen können, hätte ich denn dahingehende Anstrengungen unternommen! Thematisch wird nämlich ein gar düsteres Kapitel aus der Zeit des DDR-Regimes behandelt, das schon während seiner Existenz totgeschwiegen wurde und dessen himmelschreiendes Unrecht mich geradezu fassungslos zurückließ. Das so etwas auch in anderen Staaten unseres von unvernünftigen Regierungen gequälten Planeten gängige Praxis ist, macht das Ganze nicht besser!
Aber der Reihe nach: die zuständigen Ermittler der Mordkommission aus Leipzig, die zu diesem Zeitpunkt noch militärische Titel wie Hauptmann oder Major trugen, werden am 10. November 1989, am Tag Eins nach dem Mauerfall, in den geschlossenen Jugendwerkhof der Stadt Torgau gerufen. Der Direktor dieser Anstalt, hinter deren offiziellem Namen sich in Wirklichkeit ein Gefängnis für 'schwererziehbare' Kinder und Jugendliche – was auch immer man darunter verstand – verbarg, wurde tot aufgefunden. Erhängt! Ob es sich um Mord oder Selbstmord handelt, ist zunächst unklar, wiewohl dank des auktorialen Erzählstils der Leser von Beginn an weiß, dass jener Direktor, über den im weiteren Verlauf der Geschichte viel Unschönes und Abstoßendes, um es noch milde auszudrücken, zu erfahren ist, keineswegs freiwillig den Tod gesucht hat. Der Fall wird den Leuten der MUK Leipzig denn auch schnell aus der Hand genommen, von der Firma 'Horch und Guck', wie man, so erfuhr ich in dem Kriminalroman, die unheimliche Stasi-Organisation, im Volke auch, sicherlich hinter vorgehaltener Hand, nannte. Noch in allerletzter Minute mischte dieser Unrechtsdienst des Unrechtsstaates mit, versuchte zu vertuschen und zu verheimlichen, was gerade noch möglich war – um sich danach flugs aus dem Staube zu machen und sich in die langen Schlangen hinter den Sanzaru, den berühmten drei Affen, die nichts sehen, nichts hören und nichts sagen, einzureihen. Wie das eben immer so ist, wenn die Diktaturen dieser Welt zusammenbrechen respektive gestürzt werden.
Die drei verbliebenen Jugendlichen des auf Margot Honeckers persönlichen Befehl in Windeseile und gerade noch vor Toresschluss liquidierten Torgauer Jugendwerkhofes, Tanja, Andreas und Maik, die von der sympathisch-menschlichen Ermittlerin Beate Vogt, die ihrerseits bei der Stasi in Ungnade gefallen war und aufs Abstellgleis geschoben werden sollte, ohne sie dann allerdings in Ruhe zu lassen, wissen mehr, als sie bereit sind zu sagen – und gerade der junge Andreas hätte den Fall in Windeseile zur Aufklärung bringen können, wäre er nicht so verschreckt und ängstlich gewesen!
Wenn einem überdies Steine vor die Füße gelegt werden, gestaltet sich jede Kriminaluntersuchung schwierig, allzumal die Jugendlichen plötzlich verschwinden und der Fall zu den Akten gelegt wird – um beinahe ein ganzes Jahr später, im Oktober 1990, wieder aufgerollt zu werden, als längst eifrig und allzu hektisch und, so erschien es mir damals und so erscheint es mir noch heute, 33 Jahre später, überstürzt und planlos an der Blitz-Wiedervereinigung gearbeitet wurde. Josef Almgruber, ein zwar williger und gar nicht überheblicher, aber seltsam uninformierter Kommissar aus Nürnberg wird zur Mordkommission Leipzig versetzt und unter seiner Ägide soll nun doch noch versucht werden, den Fall des toten Direktors zu lösen. Ob seine Wahl so klug war, mag man anzweifeln, orts- und systemunkundig, wie 'der Neue', der 'Wessi', nein, kein 'Besserwessi', wie man ihm zugestehen muss, nun einmal ist. Aber da ist ja schließlich noch Beate, die intuitiv immer wieder den richtigen Riecher hat und die durch ihr starkes Einfühlungsvermögen die inzwischen wieder aufgetauchte Tanja, die mit ihrem schweren Trauma, erlitten in der demütigenden Zeit im 'Jugendknast', alleingelassen ist, dazu bringt, wichtige Informationen zu dem noch immer rätselhaften Fall beizutragen.
Übrigens weiß man, dank des bereits erwähnten auktorialen Erzählverhaltens, als Leser stets, was mit Tanja und Andreas, der verschwunden bleibt und seine eigenen Seelennöte durchstehen muss, gerade geschieht. Man weiß um ihre Befindlichkeiten, ihren desolaten Seelenzustand, ihre Mühen, nach all den Jahren der durch nichts zu begründenden Gefangenschaft, denn etwas anderes war der Zwangsaufenthalt in den geschlossenen und offenen Jugendwerkhöfen (wieder so ein Begriffkonstrukt, das etwas beschönigt, das jeder Beschreibung spottet!) zu keinem Zeitpunkt, in die neue Freiheit, die für sie keine ist, hineinzufinden. Und wenn man dann über die Praktiken liest, mit denen die jungen Menschen, die sich in den seltensten Fällen etwas wirklich Gravierenden haben zuschulden kommen lassen, außer dass sie im Verhalten und Aussehen nicht der gesetzten Norm entsprachen und somit nicht ins System passten, in diesen Institutionen gefügig gemacht und, was noch weitaus schlimmer ist, gebrochen wurden, dann kann man sich der aufsteigenden Tränen kaum erwehren....
Mehr über die immer spannender werdende Handlung, die am Ende in ein überraschendes Finale mündet und danach so vieles der Phantasie des Lesers überlässt, soll in dieser ohnehin schon sehr ausführlichen Besprechung nicht verraten werden. Es lohnt sich allemal, diesen wichtigen Roman zu lesen, selbst wenn man kein ausgesprochener Freund von Kriminalromanen ist. Das Buch stellt für mich ein unglaublich bewegendes, sehr informatives und, soweit ich das beurteilen kann, authentisches Stück Zeitgeschichte dar, das die Stimmung jener mir unvergesslichen Tage im November 1989 und ebenso der Monate danach, ziemlich genau trifft: den anfänglichen Enthusiasmus, aber auch all die Unsicherheit, Ratlosigkeit, das Erstaunen, die Vorsicht auf der einen Seite, das Fallen aller zuvor aufgelegten Schweigegebote auf der anderen. So vieles, das unter Verschluss gehalten wurde und von dem die als Jugendwerkhöfe getarnten Umerziehungslager sicher nur eine Facette waren, und von dem nicht einmal die eigenen Bürger Kenntnis hatten, kam ganz langsam an die Öffentlichkeit – und war hüben wie drüben ein Schock. Auch das vermittelt der Roman, genauso wie das schwierige Annähern an die Freiheit nach den Jahren der Unterdrückung, der Übergang zur Demokratie, die selbstredend gelernt sein möchte.
Kurz und gut: Grit Poppe hat mit ihren 'Rabenkindern', deren Titel sich im Laufe der Lektüre übrigens klärt, einen außergewöhnlichen Roman in beinahe makelloser Sprache und mit sehr überzeugenden, echten Charakteren geschrieben, an dem ich rein gar nichts auszusetzen habe. Dazu noch erscheinen Informationsgehalt und Spannungsaufbau wie aus einem Guss, ergänzen sich gegenseitig, passen wunderbar zusammen. So, genau so, stelle ich mir einen richtig guten Kriminalroman vor!