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Veröffentlicht am 03.03.2023

Highlight

So reich wie der König
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Es sind die 90er Jahre in Casablanca. Sarah, eine sechszehnjährige Französin, wächst am Rande der Stadt und an der Grenze zum Barackenviertel auf. Vor ihren Freunden verheimlicht sie ihr schäbiges Zuhause ...

Es sind die 90er Jahre in Casablanca. Sarah, eine sechszehnjährige Französin, wächst am Rande der Stadt und an der Grenze zum Barackenviertel auf. Vor ihren Freunden verheimlicht sie ihr schäbiges Zuhause und findet Zugang zur reichen Elite der Stadt. Von den Jungs, mit denen sie ausgeht, lässt sie sich Kleidung und Essen kaufen, aber ihr eigentlicher Traum ist es, eines Tages genug Geld zu haben, um sich eine Villa, einen Gärtner und Rubine leisten zu können. Sie will Königin sein.
Als sie von einem Freund erfährt, dass Driss „der Reichste der Reichen [ist]. Reicher als wir alle zusammen. Vielleicht so reich wie der König“, weiß Sarah, wie sie dem für sie vorbestimmten Leben entfliehen und ihren Traum Wirklichkeit werden lassen kann. Doch Driss ist zurückhaltend, feinfühlig und unansehnlich. Er scheint sich nicht für Sarah zu interessieren und erst allmählich nähern sich die beiden einander an.

Abigail Assor hat einen kraftvollen und bildgewaltigen Roman geschrieben, der sich einer Gesellschaft widmet, die aufgeteilt ist in arm und reich, westlich und östlich, französisch und arabisch, modern und archaisch. Überschneidungen gibt es nicht, denn die gesellschaftlichen Hierarchien sind undurchlässig. Träume von einem besseren Leben zerschellen an der Realität.
Letzteres ist für Frauen doppelt wahr. Ihre Hoffnungen haben keinen Platz in einer Welt, in der alle Männer ihre Frauen schlagen. Die Gewalt ist klassenunabhängig und allgemeingültig. Sie drückt sich auch darin aus, dass Frauen ein Verfallsdatum haben, wenn sie nicht (mehr) fruchtbar sind und dass Mädchen auf offener Straße vergewaltigt werden, deshalb ins Gefängnis müssen oder mit dem Täter verheiratet werden.

Assor beschreibt eine dichotome Gesellschaft mit Sittenpolizei und Anstandsregeln auf der einen, westlichem Lebensstil auf der anderen Seite, aber vor allem eine Gesellschaft ohne einen Raum für Überschneidungen. In dieser Welt finden zwei Jugendliche zueinander, die für sich selbst solch einen Raum zu erfinden versuchen, die träumen und hoffen, den Mut haben, dagegenzuhalten.

Assors Debütroman lässt den Leser vergessen, dass er liest. Hinter den Buchdeckeln erstreckt sich eine ganze Welt, die mit dem ersten Satz zum Leben erwacht, die Zeit- und Kulturreise zugleich ist.
Dass dieser Eindruck entstehen kann, liegt auch an Assors Sprache, die konzentriert ist und gleichzeitig mühelos, fließend. Alles ist stimmig an dieser Geschichte, die an keiner Stelle ausartet, sich nie verliert, trotz der Komplexität der porträtierten Gesellschaft. Sie geht tief ohne sich Schwere aufzubürden.

„So reich wie der König“ ist eine der großen Neuerscheinungen dieses Frühjahrs.

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Veröffentlicht am 10.02.2023

Authentisch und reflektiert

Eine Sprache der Liebe
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Kurz vor dem Brexit-Referendum kommt Xialou Guo in London an, um zu promovieren. Ihre „monokulturelle chinesische Bildung“ sorgt für Kulturschocks, führt aber gleichzeitig zu einem für den Leser erfrischenden ...

Kurz vor dem Brexit-Referendum kommt Xialou Guo in London an, um zu promovieren. Ihre „monokulturelle chinesische Bildung“ sorgt für Kulturschocks, führt aber gleichzeitig zu einem für den Leser erfrischenden und gänzlich neuen Blick auf die englische bzw. westliche Kultur, Sprache und Lebensalltag.

Bald lernt sie ihren Freund kennen, der einen deutschen und einen britischen Elternteil hat, aber in Australien aufgewachsen ist. Das Multikulturelle verankert sich so immer fester in Guos Leben und ist eines der Themen ihres Buches. Gleichzeitig - und vielleicht auch gerade wegen dieser Multikulturalität - empfindet sie häufig ein Gefühl der Entwurzelung und der Heimatlosigkeit. Sie fühlt sich fremd in London und auch zur englischen Sprache bleibt eine Distanz. Als sie und ihr Freund sich ein Hausboot kaufen, kann sie sich nicht richtig mit dem neuen Zuhause anfreunden und vermisst immerzu das Gefühl von Angekommensein.

Guo beschreibt ihre Erfahrungen lebendig in kurzen Kapiteln, die sich bestimmten Szenen, Beobachtungen, Gedanken oder Wendungen in ihrem Leben widmen. Diese Kapitel gleichen kurzen Aufsätzen, die den Leser mitnehmen in die Konflikte ihrer Beziehung, in Gespräche über Architektur, Kunst und Landschaft, in die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Außenwelt und der Kultur, in Bürokratie und später auch in Elternschaft. Guos Sprache trägt dazu bei, dass man die Kapitel gerne liest. Sie ist klar, schnörkellos und lässt Gedanken und Erfahrungen in den Vordergrund treten.

Ich habe Guos Überlegungen gerne gelauscht und finde, dass es ihr gelungen ist, ihr Leben auf eine authentische und reflektierte Weise wiederzugeben.

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Veröffentlicht am 10.02.2023

Besondere Lyrik

Nachthimmel mit Austrittswunden
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Um über Ocean Vuongs Gedichte schreiben zu können, muss ich zunächst kurz auf meine Beziehung zu seinem Roman "Auf Erden sind wir kurz grandios" eingehen. Dieses Debüt hat einen bleibenden Eindruck bei ...

Um über Ocean Vuongs Gedichte schreiben zu können, muss ich zunächst kurz auf meine Beziehung zu seinem Roman "Auf Erden sind wir kurz grandios" eingehen. Dieses Debüt hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen, steht für mich stilistisch völlig für sich und hat einen unvergleichlichen Wiedererkennungswert. Da ich in Bezug auf den Roman stets von "poetisch" gesprochen habe, war ich neugierig darauf, wie die eigentliche Poesie Vuongs auf mich wirken würde.

Mit Vuongs Gedichten hatte ich noch mehr das Gefühl, in die Sprache des Autors eintauchen zu dürfen. Seine Gedanken, Eindrücke, Erinnerungen, Bilder, Bildfragmente und Ideen werden durch ein Konstrukt von Assoziationen und Leitmotiven zusammengehalten. Die Vaterfigur, Krieg, Flucht, Sexualität, Verlust, Einsamkeit, Wunden... all diese Elemente ziehen sich durch die Gedichte. Der Schmerz ist dabei omnipräsent und spricht aus fast jedem Gedicht (wie auch schon der Titel suggeriert).

„& remember,/loneliness is still time spent/with the world.“

Ocean Vuong verleiht dem Ausdruck, was ihn in seinem Innersten bewegt. Seine Gedichte sind persönlich und eindringlich, verarbeiten die eigene Lebensgeschichte und die seiner Familie. Manchmal sind sie vielleicht weniger zugänglich, weniger leicht zu fassen als sein Debütroman, aber dadurch nicht minder beeindruckend. Sie entwickeln einen Sog. Vor allem im Original. Deshalb empfehle ich sie allen Fans von besonderer Lyrik.

„& how/could I have known, that by pressing this pen to paper, I was touching us/back from extinction?“

Übersetzt aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag.

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Veröffentlicht am 10.02.2023

Bereichernde Einblicke

Gespräch über Kunst und Politik
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Inzwischen ist es sicher kein Geheimnis mehr, oder? An einem neuen Buch von Edouard Louis führt für mich kein Weg vorbei. Für sein neuestes Buch zählt das gleich doppelt, da es ein Gespräch mit dem englischen ...

Inzwischen ist es sicher kein Geheimnis mehr, oder? An einem neuen Buch von Edouard Louis führt für mich kein Weg vorbei. Für sein neuestes Buch zählt das gleich doppelt, da es ein Gespräch mit dem englischen Regisseur Ken Loach ist, dessen Schaffen mich sehr interessiert.

In ihrem Gespräch widmen sich Louis und Loach Themen, die unsere Gesellschaft bewegen. Das Buch ist in mehrere Teile aufgeteilt. Dialoge zwischen den beiden wechseln sich mit Publikumsfragen ab (das Gespräch hat live vor einem Publikum stattgefunden und wurde aufgezeichnet).

Das Buch beginnt mit einem Teil über den Aufstieg der extremen Rechten in Europa und den Fragen danach, wie es dazu kommen konnte und wie die Linke darauf reagieren sollte. Im Folgenden geht es darum, wie sich unsere Gesellschaft verändern muss. Welche Verbesserungen braucht es? Und welche Rolle spielen dabei die Medien? Einen besonderen Schwerpunkt legen die beiden außerdem auf die Rolle der Kunst und fragen danach, wonach Kunst streben muss, aber auch, wo ihre Grenzen liegen.

"Gespräch über Kunst und Politik" liefert Denkanstöße und macht die Lesenden mit den Ansichten von zwei scharfsinnigen und mutigen Künstlern unserer Zeit bekannt.

Zugegebenermaßen haben die beiden nicht genügend Zeit, um sehr in die Tiefe zu gehen. Das erlaubt ihnen der Rahmen dieses relativ kurzen und in unterschiedliche Themen eingeteilten Gesprächs nicht. Aber dennoch vereinfachen und idealisieren sie nicht. Es entsteht deshalb nie der Eindruck von Plakativität. Stattdessen wird im Lesenden der Wunsch danach geweckt, sich ausgiebiger mit den Werken von Louis und Loach zu beschäftigen.

Übersetzt aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel.

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Veröffentlicht am 14.01.2023

Große Erzählkunst

Frankie
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Was passiert mit dem Leben eines Vierzehnjährigen, wenn der Opa nach 18-jähriger Gefängnishaft plötzlich darin auftaucht?

Frankie lebt zusammen mit seiner Mutter in Wien. Die Mutter arbeitet als Schneiderin ...

Was passiert mit dem Leben eines Vierzehnjährigen, wenn der Opa nach 18-jähriger Gefängnishaft plötzlich darin auftaucht?

Frankie lebt zusammen mit seiner Mutter in Wien. Die Mutter arbeitet als Schneiderin an der Volksoper. Frankie geht aufs Gymnasium in seinem Viertel. Zu seinem Vater hat er keinen Kontakt mehr.

Es ist ein Mikrokosmos, den sich Mutter und Sohn geschaffen haben. Gemeinsam schauen sie sich abends Tierdokus an, haben bestimmte Tage ausgemacht, an denen der eine für den anderen kocht. Ihr Leben ist beschaulich, verläuft in geregelten Bahnen. Bis zu dem Tag, an dem sie den Großvater aus dem Gefängnis abholen.

Frankie kennt den Großvater nicht, weiß nicht, wie er heißt oder was er verbrochen hat. Aber er übt eine Faszination auf ihn aus und allmählich kommt es zu einer zögerlichen Annäherung zwischen den beiden. Der Großvater bringt ihm das Schachspielen bei und das Rasieren. Frankie vermacht ihm sein Buch über das Weltall. Doch dann läuft in einer Nacht alles aus dem Ruder und ein Roadtrip wird zum dem Punkt, an dem sich alles wendet.

Michael Köhlmeier erzählt aus Frankies Perspektive davon, wie ein Fremdkörper in ein Alltags- und Familienkonstrukt einbricht und das Leben eines Jugendlichen aus der Bahn wirft.

Es ist Köhlmeier gelungen, einen Roman zu schreiben, an dem jedes Wort an seinem Platz sitzt, jeder Satz stimmt. Alles fügt sich ineinander, ergibt ein erzählerisches Kunstwerk. Auf knappen zweihundert Seiten erlaubt es einem Köhlmeier tief in die Geschichte einzutauchen, Teil von Frankies Welt zu werden. Das ist deshalb bemerkenswert, weil sowohl die Perspektive eines Vierzehnjährigen als auch das Aufeinandertreffen von Großvater und Enkel als Elemente einer Geschichte das Potential in sich tragen, ins Unglaubwürdige oder Kitschige abzurutschen. Bei Köhlmeier passiert das jedoch an keiner Stelle. Er bewahrt die Balance, lässt einen Erzählfluss entstehen, dem man sich nicht entziehen möchte.

So sollte gute Literatur sein.

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