Lydia Oorthuys hat beide Elternteile verloren und wird von lieben Freunden in ihrer Trauer begleitet. Als sie in den Unterlagen ihres Vaters Pläne für eine Käsefabrik findet, ist sie sofort begeistert, denn sich einem Ehemann unterzuordnen und Teekränzchen oder Wohltätigkeitsveranstaltungen zu besuchen, wie es im Jahre 1892 üblich war, kommt ihr nicht in den Sinn. Sie besitzt Vermögen, Milchbauer Huib Minnes denkt fortschrittlich und hat als Mann die Möglichkeiten, eine Fabrik zu gründen. Auf Augenhöhe wird ein Vertrag aufgesetzt, sodass die neue Käsefabrik in Noord-Holland beiden zu gleichen Teilen gehört. Im Privaten läuft allerdings nicht alles so glatt und Lydia hütet 18 Jahre lang ein Geheimnis, durch das sie kurz vor dem Ersten Weltkrieg ihre Tochter zu verlieren droht.
Ruhig und bedacht wählt Simone van der Vlugt ihre Worte, um die Situation der jungen Lydia zu beschreiben. Als Adelige wird von ihr erwartet, dass sie sich alsbald vermählt und eine Familie gründet, mit Eduard van Nijenbergh gäbe es auch einen interessierten Kandidaten. Lydia jedoch liebt ihre Freiheit und Selbständigkeit. Fortschritt und moderne Maschinen, wie es sie bereits in der Käsefabrik Freia in der niederländischen Provinz Friesland gibt, wecken ihr Interesse. So ist der Schritt zu einer Kooperation mit Huib Minnes ein kleiner und alsbald nennen die beiden Zentrifugen, Kühlleitungen und eine Dampfmaschine ihr Eigen. Durch die bildhaften Ausführungen über die handelnden Figuren und die Wohnsitze in Amsterdam, aber besonders in Purmerend, fühlt man sich als Leser rasch mitten im Geschehen, besonders, wenn man selber schon einmal dagewesen ist. Die Duft von frischer Milch und der würzige Geruch von Käse steigen einem in die Nase und das Schicksal Lydias berührt einen beim Lesen. Handelt sie richtig? Begeht sie einen folgenschweren Fehler? Wer weiß?
Dass nach weniger als der Hälfte des Buches ein Zeitsprung von etwa 18 Jahren stattfindet, ist nicht problematisch, auch das Leben von Tochter Nora in Antwerpen ist nicht uninteressant, dass dann jedoch anstelle der Probleme in der Käsefabrik über etliche Kapitel die Gräuel des Ersten Weltkrieges ausgewälzt werden, enttäuscht mich. Lydia steht lange Zeit nicht mehr im Mittelpunkt, die Handlung schweift völlig ab. Man hat das Gefühl, in einem anderen Buch gelandet zu sein. Statt kriegsbedingt vor Rohstoffengpässen für die Käserei zu stehen, fliegen einem Granaten und Schrapnelle um die Ohren.
Da die Autorin jedoch über einen sehr einnehmenden Schreibstil verfügt, dem Buch ausgezeichnete Recherchen zugrunde liegen und am Ende interessante Hinweise zu den verschiedensten Themen im Roman zu finden sind, möchte ich nur einen Stern bei meiner Bewertung abziehen. Vielleicht sollte der Klappentext hier mehr Klarheit schaffen, dass jene Leser nicht ernüchtert sind, welche gerade keine Lust auf blutige Schützengräben in Ypern haben?
Fazit: ein überaus lesenswertes Buch, wenn man weiß, worauf man sich einlässt: ein Teil Käsefabrik in den Niederlanden mit Lydia, ein Teil Großer Krieg in Belgien mit Tochter Nora. Autorin Simone van der Vlugt überzeugt durch Authentizität und eine angenehme Schreibweise, sodass ich sehr gerne noch mehr von ihr lesen möchte.
Titel Die Unternehmerin in Amsterdam
Autor Simone van der Vlugt
ASIN B09VQ7LCQR
Sprache Deutsch
Ausgabe ebook
ebenfalls erhältlich als Taschenbuch (352 Seiten)
Erscheinungsdatum 27. Dezember 2022
Verlag HarperCollins
Originaltitel De Kaasfabriek
Übersetzer Barbara Heller