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Veröffentlicht am 19.02.2023

Der Mensch ist des Menschen Wolf

Die marmornen Träume
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Der französische Autor Jean-Christophe Grangé ist hierzulande, wenn überhaupt, am ehesten bekannt durch die Verfilmung seines zweiten Thrillers „Die purpurnen Flüsse“. Vielleicht ändert sich das ja mit ...

Der französische Autor Jean-Christophe Grangé ist hierzulande, wenn überhaupt, am ehesten bekannt durch die Verfilmung seines zweiten Thrillers „Die purpurnen Flüsse“. Vielleicht ändert sich das ja mit seinem neuen Buch „Die marmornen Träume“, einem historischen Kriminalroman, dessen Handlung in Deutschland verortet ist.

Berlin, 1939. Der Zweite Weltkrieg steht vor der Tür, und das tägliche Leben hat sich mit der Machtübernahme durch die Nazis verändert. Man duckt sich aus Angst vor Hitlers Schergen. Gestapo und SS üben ihre Macht gnadenlos und mit aller Härte aus. Für alle anderen gilt die Devise „nur nicht auffallen“, es sei denn, man gehört zu denjenigen, die sich im Schatten der Nationalsozialisten gemütlich eingerichtet und/oder Karriere in der Partei gemacht haben. Und man genießt die Annehmlichkeiten, die damit einhergehen, wie den exklusiven Club im Adlon, dem ersten Haus am Platz. Doch dann wird in dessen unmittelbarer Nähe eine aufs Grausamste verstümmelte Dame der oberen Gesellschaft gefunden, ausgeweidet und mit durchschnittener Kehle, und sie wird nicht die einzige bleiben. Aber wer steckt hinter den Morden? Ist es ein kaltblütiger Killer, der Freude am Töten hat oder doch ein Wahnsinniger mit einer Mission? Und wenn ja, welchen Plan verfolgt er?

Drei Menschen mit unterschiedlichstem Hintergrund und Motivation bemühen sich um die Aufklärung der Morde: Frank Beewen, von oberster Stelle mit der Aufklärung der Morde beauftragt. Simon Kraus, Psychiater und Traumforscher, der nicht nur berufliche Verbindungen zu den Opfern hatte und schließlich Baronin von Hassel, ebenfalls Psychiaterin, aber auch Leiterin der Anstalt, in der Beewens Vater untergebracht ist, die selbst mit alkoholvernebeltem Hirn schneller als die beiden Männer die richtigen Schlüsse zieht. Fokussiert darauf, dem Mörder das Handwerk zu legen, gibt es immer wieder Situationen, in denen das Trio nicht die erforderliche Vorsicht walten lässt und tief in den nationalsozialistischen Sumpf gerät, der gefährlich für Leib und Leben ist.

680 Seiten bieten Grangé ausreichende Möglichkeiten, um zum einen die Charakterisierung seiner Protagonisten bis ins Detail stimmig auszuarbeiten und zum anderen die Geschichte, die er erzählen möchte, logisch aufzubauen und zu entwickeln. Wir kennen das aus seinen früheren Büchern. Diese Vorgehensweise generiert zwar Längen zu Beginn, aber Geduld lohnt sich, denn im zweiten Teil zieht die Spannung mächtig an. Hier zeigt er ein realistisches Bild der Verhältnisse, die 1939 in Nazi-Deutschland herrschen und von Willkür, Grausamkeit und Gewalt geprägt sind. Schonungslos hält er uns den Spiegel vor, zeigt eine verrohte Gesellschaft, die nicht nur ihr Mitgefühl sondern auch ihre Moral verloren hat, in der der Mensch des Menschen Wolf ist. Derjenige, der dagegen angeht, um seine Menschlichkeit zu retten, muss zu den gleichen Mitteln wie seine Widersacher greifen, da Gewalt sich in diesem Stadium der Historie nur mit Gewalt bekämpfen lässt. Dabei hat man aber glücklicherweise nie den Eindruck, dass den drastischen Beschreibungen voyeuristische Motive zugrunde liegen, denn wir wissen alle, dass in dieser dunklen Zeit wesentlich schlimmere Dinge als die beschriebenen geschehen sind.

Ein historischer Kriminalroman, verankert in dem dunkelsten Kapitel unserer deutschen Geschichte, der die Natur des Menschen auf den Prüfstand stellt und zum Nachdenken anregt. Lesen!

Veröffentlicht am 11.02.2023

Die Sünden der Väter

Wer ohne Sünde ist
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Es ist so weit. Mit „Wer ohne Sünde ist“ müssen wir Abschied nehmen von Rebecka Martinsson, Åsa Larssons sechsbändiger Reihe, in deren Zentrum die Staatsanwältin aus Kiruna steht. Allerdings finde ich ...

Es ist so weit. Mit „Wer ohne Sünde ist“ müssen wir Abschied nehmen von Rebecka Martinsson, Åsa Larssons sechsbändiger Reihe, in deren Zentrum die Staatsanwältin aus Kiruna steht. Allerdings finde ich die Genre-Zuordnung problematisch, denn die schwedische Autorin hat in ihren Romanen so viel mehr als lediglich einen spannenden Thriller zu bieten. Es sind die großen Fragen, die sie immer wieder thematisiert. Was bist du bereit aus Liebe zu tun? Wie hoch liegt die Messlatte für deine persönliche Moral? Welche Auswirkungen haben Ereignisse aus der Vergangenheit auf deine Gegenwart? Daraus entstehen komplexe und gut komponierte, oft berührende Dramen mit Zwischentönen, die die strikte Trennung zwischen Gut und Böse hinterfragen. Ergänzt wird dies mit außergewöhnlich gelungenen Naturbeschreibungen, ohne dabei die Besonderheiten des Handlungsortes Kiruna, Bergbaustadt im Norden Schwedens, zu vernachlässigen, deren problematische Umsiedlung hier ebenfalls Thema ist.

Zum Inhalt: Ein toter Alkoholiker, ein weiterer Toter in dessen Gefriertruhe, der sich als ein lange vermisster Boxer entpuppt und ein Gerichtsmediziner, der Rebecka Martinsson um Hilfe bittet. Ein simpler Cold Case? Bei weitem nicht. Das organisierte Verbrechen hat Einzug im Norden Schwedens gehalten und nutzt die unübersichtliche Situation, die sich aus dem beschlossenen Abriss und geplanten Wiederaufbau Kirunas ergibt, zum eigenen Vorteil und füllt sich die Taschen. Korruption, Drogenhandel, Zwangsprostitution, Gewaltverbrechen, all das gehört mittlerweile zum Alltag. Vergangenheit und Gegenwart überlappen sich. Auch bei Rebecka, die sich endlich mit ihrer komplizierten Familiengeschichte auseinandersetzen muss.

Viel Stoff? In der Tat, aber nicht zu viel, als dass Åsa Larsson damit überfordert wäre. Routiniert wie immer verbindet sie die verschiedenen Handlungsstränge, so dass zum Ende hin alle Unklarheiten beseitigt und alle Fragen höchst zufriedenstellend geklärt sind. Es bleibt das Bedauern darüber, dass diese großartige Reihe nun ihren Abschluss gefunden hat. Nachdrückliche Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 05.02.2023

Das Dorf im Schatten

Wintersterben
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Valeria Ravelli hat noch nicht wieder zu alter Stärke zurückgefunden, denn noch immer stecken ihr die Ereignisse ihres Einsatzes in Eigerstal in den Knochen, plagen sie Flashbacks. Aber ihr Vorgesetzter ...

Valeria Ravelli hat noch nicht wieder zu alter Stärke zurückgefunden, denn noch immer stecken ihr die Ereignisse ihres Einsatzes in Eigerstal in den Knochen, plagen sie Flashbacks. Aber ihr Vorgesetzter bei Interpol kann auf ihre posttraumatischen Belastungsstörungen keine Rücksicht nehmen. Sie ist seine beste Ermittlerin, und ihre Fähigkeiten werden im Fall eines Leichenfundes in den Walliser Alpen dringend benötigt.

In einer Höhle nahe des Bergdorfs Steinberg ist der barbarisch zugerichtete Leichnam eines Mannes gefunden worden. Seine Identität ist geklärt, es handelt sich um Gress, einen deutschen Staatsbürger mit schillernder Vergangenheit, der nicht nur für das BKA gearbeitet hat, sondern auch für die französische Fremdenlegion im Einsatz war. Was wollte er in diesem Schweizer Bergdorf? Und wer hatte einen Grund, ihn zuerst zu foltern und danach zu ermorden? Fragen, die nur vor Ort geklärt werden können. Und so macht sich Ravelli auf den Weg nach Steinberg, während ihr neuer Partner Colin Bain vor Ort bleibt und versucht, Hintergrundinformationen zu Gress auszugraben.

Bergdörfer sind schon wegen ihrer Lage und der überschaubaren Bewohnerzahl meist ein Kosmos für sich. Die Verbindungen zur Außenwelt sind rar gesät und Neuankömmlinge werden meist misstrauisch beäugt. Das Dunkel, das sich über den abgeschiedenen, von undurchdringlichen Wäldern umgebenen Ort legt, das seltsame Benehmen der Einwohner, kreiert eine Ausgangssituation, die bereits von Haus aus beim Lesen unbehagliche Gefühle weckt. Und genau hier liegt die Stärke von Martin Krügers „Wintersterben“, einem Thriller, den ich in einem Rutsch gelesen habe. Dem Autor gelingt es mit wenigen Pinselstrichen und vagen Andeutungen eine frostige und bedrohliche Atmosphäre zu schaffen, in der man auch als Unbeteiligter ständig auf der Hut ist und um die Unversehrtheit der Protagonistin bangt. Die Spannungskurve ist von Beginn an hoch, entwickelt einen Sog, denn man möchte unbedingt wissen, wie sich die Geschichte entwickelt und ob sich die eigenen Vermutungen bestätigen. So sieht man auch über die eine oder andere Ungereimtheit im Handlungsverlauf gerne hinweg.

Wer einen Thriller lesen möchte, der mit atmosphärischen Beschreibungen punktet, ist hier an der richtigen Adresse. Und ja, auch wenn „Wintersterben“ bereits nach „Waldeskälte“ der zweite Band der Reihe mit Valeria Ravelli ist, kann man diesen ohne Kenntnis des Vorgängers lesen.

Veröffentlicht am 25.01.2023

Der Weg nach Samarkand

Wo vielleicht das Leben wartet
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Die Autorin und Filmemacherin Gusel Jachina nimmt uns in ihrem neuen Roman „Wo vielleicht das Leben wartet“ mit zurück in die russische Geschichte.

Kasan, eine Stadt in der Republik Tartastan am Ufer ...

Die Autorin und Filmemacherin Gusel Jachina nimmt uns in ihrem neuen Roman „Wo vielleicht das Leben wartet“ mit zurück in die russische Geschichte.

Kasan, eine Stadt in der Republik Tartastan am Ufer der Wolga. Wir schreiben das Jahr 1923. Der Bürgerkrieg hat unzählige Opfer gefordert. Viele Kinder haben ihre Eltern verloren. Teils wurden sie getötet, teils haben sie die Kinder ihrem eigenen Schicksal überlassen, weil sie sich nicht mehr imstande sind, sie zu ernähren. Es fehlt an allem, die Lage ist aussichtslos.

Dejew, der ehemalige Rotarmist und jetzt Zugführer bei der Transportabteilung, erhält den Auftrag, 500 bis auf die Knochen abgemagerte Heimkinder im Alter zwischen zwei bis zwölf Jahren in die landwirtschaftlich geprägte Region um Samarkand zu bringen. 4200 Kilometer bis an einen Ort, wo es noch genug zu essen gibt, die Überlebenschancen besser als in der Heimat sind und wo vielleicht das Leben auf sie wartet.

Keine leicht Aufgabe, denn es liegt eine lange und entbehrungsreiche Fahrt durch schwieriges Gelände einem klapprigen Sanitätszug vor ihnen. Es fehlt an Heizmaterial für die Lok, aber auch an Proviant, Medikamenten und Kleidung, selbst Seife ist knapp, aber Not macht erfinderisch und zwischendurch gibt es auch manchmal Hilfe von unerwarteter Seite. Dejew fühlt sich für jedes einzelne Kind verantwortlich und tut alles dafür, dass diese Mission erfolgreich ist. Deshalb handelt er, wenn es die Umstände erfordern, auch gegen die Anweisungen seiner Begleiterin Belaja, einer Moskauer Kommissarin der „Kommission zur Verbesserung des Lebens der Kinder“, die die korrekte Durchführung des Transports überwachen soll und sich ihrem Auftrag und weniger sentimentalen Emotionen verpflichtet fühlt. Aber fünf Wochen sind ein langer Zeitraum, in dem sich viel verändern kann.

Der in Kasan geborenen Autorin ist mit diesem auf historischen Fakten beruhenden Roman ein eindrucksvolles, berührendes Roadmovie gelungen. Sie schreibt gegen das Vergessen an, will die dunklen Kapitel in der Geschichte ihres Heimatlandes aufzeigen. Das ist es, was all ihre Romane kennzeichnet. Dabei wechselt sie gekonnt zwischen an die Nieren gehenden realistischen Beschreibungen und zuversichtlichen, Hoffnung verbreitenden Bildern von tiefer Menschlichkeit. Und ja, man mag es kitschig nennen, aber es sind die empathisch geschilderten Einzelschicksale, die in Erinnerungen bleiben. Die Zuversicht in hoffnungsloser Lage vermitteln und die Bereitschaft zur Verständigung fördern, letzteres die Mission von Gusel Jachina.

Auf den Seiten 572 – 576 sind übrigens die Kosenamen aller Kinder aufgeführt, die nach langer Fahrt wohlbehalten ihr Ziel in Samarkand erreicht haben.

Veröffentlicht am 20.01.2023

Entstaubter Klassiker

Miss Bennet
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Wenn man Jane Austen-Fans nach ihrer Lieblingsfigur in „Stolz und Vorurteil“ fragt, wird wohl in den seltensten Fällen der Name Mary fallen. Nicht überraschend, denn die mittlere Bennet-Schwester wird ...

Wenn man Jane Austen-Fans nach ihrer Lieblingsfigur in „Stolz und Vorurteil“ fragt, wird wohl in den seltensten Fällen der Name Mary fallen. Nicht überraschend, denn die mittlere Bennet-Schwester wird von der Autorin nicht sonderlich beachtet. Ihr fällt im Wesentlichen die Aufgabe zu, die Eigenschaften ihrer vier Schwestern in das entsprechende vorteilhafte Licht zu rücken, während sie dabei im Schatten bleibt.

Auch in „Miss Bennet“ ist Mary zu Beginn unscheinbar, schüchtern, liebt ihre Bücher mehr als gesellschaftliche Verpflichtungen und rauschende Bälle. Ihre Schwestern sind mittlerweile alle verheiratet, nur sie ist übriggeblieben und das lässt sie ihre Mutter tagtäglich spüren. Noch immer ist sie diejenige, die übersehen wird, aber da sie hier als Hauptfigur aus dem Schatten tritt, zieht sie die Aufmerksamkeit der Leser auf sich. Durch Rückblicke in ihr Aufwachsen weckt die Autorin gleichzeitig Verständnis, Mitleid und Sympathie, aber auch Freude über ihr allmähliches Erwachen nach dem Tod des Vaters. Die entscheidende Zäsur in ihrem Leben, die ihr den Boden unter den Füßen wegzieht. Nicht nur, dass sie sich komplett verloren fühlt, sie muss auch ihre Heimat verlassen Aber es ist dieser Schritt ins Unbekannte, der lange verborgene Stärken zutage bringt und letztlich dafür verantwortlich ist, dass Mary ihren Platz in der Welt findet.

Ich habe den Roman sehr gerne gelesen und natürlich währenddessen auch Vergleiche mit der literarischen Vorlage angestellt. Die Autorin behält deren Ton bei, stellt aber in ihrer Neuinterpretation des Klassikers durch die Fokussierung auf Mary und deren Selbstfindung aktuelle Themen in den Mittelpunkt, die der heutigen Zeit angemessen sind. Natürlich empfehle ich den Roman allen Jane Austen-Fans, aber auch all denjenigen, die dem Bridgerton-Hype erlegen sind.