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Veröffentlicht am 23.07.2017

brandheißes Thema

The Hate U Give
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Starr lebt mit ihrer Familie in einer amerikanischen Großstadt in einem Ghetto für Schwarze. Drogenverkauf, Kriminalität und Gewalt sind an der Tagesordnung. Gangs streiten fast täglich um die Herrschaft ...

Starr lebt mit ihrer Familie in einer amerikanischen Großstadt in einem Ghetto für Schwarze. Drogenverkauf, Kriminalität und Gewalt sind an der Tagesordnung. Gangs streiten fast täglich um die Herrschaft im Viertel. Um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu sichern, schicken Starrs Eltern sie auf eine Schule für Weiße in einem besseren Stadtteil. Deshalb fühlt das Mädchen sich oft zerrissen, denn in der Schule und bei ihrem weißen Freund muss sie sich anpassen und ganz anders verhalten als zuhause und mit ihren schwarzen Freunden. Aber sie möchte auch beide Welten nicht missen. Als Khalil, einer ihrer engsten Jugendfreunde, sie nach einer Party heimfahren will, werden sie von der Polizei angehalten. Einer der Polizisten erschießt ihn ohne ersichtlichen Grund.

Dieser Vorfall erschüttert Starrs ohnehin schon sehr zerbrechliche Welt. Die Familie versucht verzweifelt, ihren Namen aus der Presse herauszuhalten. Niemand soll sie mit dem Vorfall in Verbindung bringen aus Angst um ihre Sicherheit. Da dies aber nicht der erste Vorfall dieser Art war und man damit rechnet, dass mal wieder alles von den Behörden unter den Tisch gekehrt und der Polizist nicht bestraft werden wird, geben die Menschen im Viertel keine Ruhe. Sie wollen Klarheit über den Vorfall. Sie wollen Gerechtigkeit und dass Khalil nicht umsonst gestorben ist. Es kommt zu ersten Rassenunruhen in der Stadt.

Das Thema ist vor allem in den USA kein Neues. Schon in den Fünfziger und Sechziger Jahren kam es zu ersten Aufständen der afroamerikanischen Bevölkerung. Eine der bekanntesten Rassenunruhen war im Jahr 1992 wegen der Gewalt von Polizisten an dem Schwarzen Rodney King. Und fast jede Großstadt in Nordamerika hatte bereits so einen Aufstand. Auch die Gewalt der Polizei vor allem gegen die schwarze Bevölkerungsschicht ist ein Fakt, den man nicht wegdiskutieren kann. Fast jede Woche gibt es einen neuen Fall.

Die Geschichte ist also aktuell und brisant. Und sie wird aus Sicht der schwarzen Bevölkerung geschildert. Dies ist auch einer der wenigen wirkliche Kritikpunkt, den ich habe, denn man erfährt leider bis zum Schluss nicht genau, wie der Polizist die Schüsse auf Kahlil persönlich rechtfertigt. Statt dessen wird aber sehr intensiv erzählt wie Starr und ihre Familie sich fühlen, wie sie reagieren und agieren, wie sie teilweise von verschiedenen Gruppen benutzt werden. Nebenbei erfährt man einiges über das Leben der Schwarzen im Ghetto. Über die sozialen Missstände, die Vorurteile der Weißen, die Rivalitäten der Schwarzen untereinander.

Starr und ihre Familie waren mir sehr sympathisch. Ich hatte das Gefühl, sie und ihre Lebensumstände wurden, stellvertretend für tatsächliche Zustände in Großstädten der USA, realistisch geschildert und das Thema von einem aufgeklärten Standpunkt aus gründlich beleuchtet. Die zwei einzigen weißen Jugendlichen in der Geschichte waren mir vielleicht etwas zu eindimensional geschildert aber zumindest war der eine der perfekte Goodboy und die andere dafür eine echte Negativ-Tussi.

Von mir eine dicke Leseempfehlung für einen All-Age-Roman, der ein brandheißes Eisen anfasst und den Leser bewegt.

Veröffentlicht am 17.07.2017

Psychothriller vom Feinsten

Sag kein Wort
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Téo Avelar ist Medizinstudent. Seine Leidenschaft gehört vor allem den Leichen im Seziersaal. Manchen von Ihnen fühlt er sich näher als den lebenden Menschen. Er hat wenig Bekannte, keine wirklichen Freunde. ...

Téo Avelar ist Medizinstudent. Seine Leidenschaft gehört vor allem den Leichen im Seziersaal. Manchen von Ihnen fühlt er sich näher als den lebenden Menschen. Er hat wenig Bekannte, keine wirklichen Freunde. Zuhause wartet seine pflegebedürftige Mutter, die ihn mit ihrer Neugierde und ihrer Dominanz nervt und die er dennoch stillschweigend versorgt. Er ist introvertiert und reserviert gegenüber anderen und weiß, dass er anders ist als alle, die er kennt. Er sehnt sich nach Verständnis und nach etwas, das er Liebe nennt. Dann trifft er auf einer langweiligen Party ein Mädchen und er entbrennt in einer verzehrenden Leidenschaft zu ihr. Clarice aber hat kein Interesse. Vielleicht spürt sie, dass hinter seiner unscheinbaren Fassade etwas Ungeheuerliches lauert. Vielleicht sollte sie mehr Sorge und Angst vor ihm haben. Aber sie ist jung und fühlt sich stark und frei. Sie sieht nicht die Gefahr, die schnell und unaufhaltsam näher kommt. Und eines Tages macht Téo ernst und bringt das Mädchen in seine Gewalt. Er will sie mit allen Mitteln davon überzeugen, dass er der Richtige für sie ist und dass sie jetzt und für immer zu ihm gehören wird.

Von der ersten Seite an spürt man beim Lesen den Horror, der zwischen den Zeilen ganz unmerklich wächst. Téo ist ein hochgradig kranker Mann. Ein Psychopath, der sich nur scheinbar unter Kontrolle hat. Ein Mensch, der keinerlei Empathie für andere empfindet und dessen Universum sich nur um ihn selber dreht. Anfangs hofft man vielleicht noch, dass er seine Gefühle steuern könnte. Das alles nicht so schlimm werden wird. Aber der Wunsch ist trügerisch und man merkt auch schnell, dass dies keine lustige Geschichte wird und keine, bei der man sich wohlfühlen soll. Aber die Sogwirkung ist immens und einmal angefangen, kann man das Buch kaum zur Seite legen, da man wissen möchte wie es weitergeht. Das Grauen wird schnell größer. Téos psychopathische Natur entfaltet sich nach und nach und trifft auf sein Opfer Clarice, die ungeahnte Stärke besitzt und sich ihm hartnäckig widersetzt. Aber wohl gerade dadurch wird sein Wahn noch befeuert und das Unheil nimmt Seite für Seite seinen Lauf. Über das Ende möchte ich nichts verraten. Das sollte jeder Leser für sich selber entdecken und einordnen.

Ich bin jetzt kein unbedingter Horror-Fan. Aber ich mag Stephen King. Und mit dem wird Ralphael Montes durchaus zu Recht verglichen. Ich musste immer wieder an die King-Verfilmung „Misery“ denken, in der eine Frau einen von ihr angehimmelten Schriftsteller einsperrt und quält. Hier gibt es positive Parallelen was Thema und Qualität betreffen. Der Autor schreibt nah dran an seinem Täter. Man taucht tief ab in dessen Psyche und erkennt seine kranken Gehirnwindungen und dennoch wird man vom Plot immer wieder überrascht, denn Téo ist nicht kalkulierbar. Seit langem mal wieder ein Psychopath, der an einen Hannibal Lektor durchaus rankommt mit seinem komplexen aber durchaus auf perfide Weise faszinierenden Wesen.

Ein sehr spannender und sehr gut geschriebener Psychothriller.

Veröffentlicht am 16.06.2017

Ein Lesegenuss

Der englische Botaniker
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1843 reist „Der englische Botaniker“ Robert Fortune im Auftrag der Horticultural Society of London für ein Jahr nach China, welches sich gerade erst westlichen Einflüssen zu öffnen beginnt, um dort „Samen ...

1843 reist „Der englische Botaniker“ Robert Fortune im Auftrag der Horticultural Society of London für ein Jahr nach China, welches sich gerade erst westlichen Einflüssen zu öffnen beginnt, um dort „Samen und Pflanzen dekorativer oder nützlicher Art“ zu sammeln und wenn möglich nach England zu schicken. Zurück lässt er seine Frau Jane und die beiden kleinen Kinder, und noch weiß der pragmatische und etwas menschenscheue Mann nicht, auf welches Abenteuer er sich hier eingelassen hat.

China, seine Menschen und seine Pflanzenwelt, sind von einer überwältigenden Vielfalt und Fremdartigkeit, die aus jeder Pore dieses Buches auf den Leser und auf den anfangs etwas unbeholfenen Engländer einstürmen. Umso mehr er über Land und Leute erfährt, umso näher ihm emotional sein Begleiter Wang kommt und er die überraschende Bekanntschaft mit der Schwertkämpferin Lian vertieft, umso mehr verändert sich Roberts Bild von China. Sein Herz und sein Verstand öffnen sich auf dieser Reise, die viel länger dauern soll, als ursprünglich geplant. Am Ende wird aus dem kühlen, etwas sperrigen Briten ein mutiger weltoffener Abenteurer, der aus den asiatischen Weltanschauungen, dem fernöstlichen Lebensstil und der Herzlichkeit und Wärme der Chinesen viel mehr mitnimmt als nur Samen und Pflanzensetzlinge.

Die Intensität der Geschichte wird dadurch erhöht, dass nicht nur Robert Fortune eine eigene Stimme im Buch erhält, sondern abwechselnd auch die Chinesin Lian und die Engländerin Jane zu Wort kommen. So erfährt man zum einen sehr viel über das exotisch und fremdartig anmutende China, über die politische Situation, Kultur und Lebensweise. Aber auch das Leben der Frauen und ihre Stellung in der männlich dominierten europäischen Welt des 19.ten Jahrhunderts werden beschrieben und durch die Entwicklung der daheim gebliebenen Ehefrau reflektiert. Gerade die Perspektiven der Frauen sind es, die diesem Buch einen eigenen emotionalen Ton verleihen.

Das Buch hat dem Leser so einiges zu bieten. Die Entdeckung eines fremden Landes, mit einem gewaltigen Potpourri an Pflanzen, die einst aus dem fernen China zu uns nach Europa kamen. Und der reale Fortune hat tausende davon beschrieben, bestimmt, benannt und mitgebracht. Schön fand ich hier, dass Nicole Vosseler Auszüge aus Originalbriefen mit in die Geschichte einfließen lässt und im Nachwort kurz beschreibt, was Robert alles geleistet hat. Man bekommt Wissen und Anekdoten davon, was damals auf dieser ersten Reise wirklich passiert ist. Man bekommt mehr als eine Liebesgeschichte – und auch die Liebe, die Robert für seine Arbeit empfindet ist spürbar und nachvollziehbar. Die Hauptdarsteller und auch die Nebendarsteller – allen voran der kongeniale Wang – wachsen einem schnell ans Herz und man verfolgt mit Interesse und ein bisschen Rührung ihrer Entwicklung und Veränderung.

Erwähnt werden muss auch noch der Schreibstil. Das Buch kann man nicht überstürzt und hastig lesen – auch wenn die Spannung manchmal dazu drängt. Die Sprache verlangt nach Zeit und Muße und weckt den Wunsch danach, immer wieder inne zu halten, den Worten nachzuspüren und das Gelesene zu überdenken und wirken zu lassen.

Ein nachhaltiger Lesegenuss den ich nur wärmstens jedem ans Herz legen kann.

Veröffentlicht am 17.05.2017

gelungener Erstling

Die Anatomie des Teufels
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Die Leiche des Mediziners Amat wird verstümmelt von zwei Fischern aus dem Wasser gezogen. Sein Sohn Daniel, der in Oxford gerade eine Professoren-Stelle angenommen hat, kommt zur Beerdigung zurück nach ...


Die Leiche des Mediziners Amat wird verstümmelt von zwei Fischern aus dem Wasser gezogen. Sein Sohn Daniel, der in Oxford gerade eine Professoren-Stelle angenommen hat, kommt zur Beerdigung zurück nach Barcelona. Ein Familienzwist hatte ihn einst vertrieben. Umso mehr möchte er jetzt den Tod seines Vaters aufklären. Er lernt den Journalisten Bernat Fleixa kennen, der mit dem Arzt eine unheimliche Mordserie in der Stadt aufklären wollte. Da es sich vor allem um Prostituierte handelt, konnte die Polizei die Taten bis jetzt vor der Öffentlichkeit weitgehend herunterspielen und geheim halten. Die Verstümmelungen der Opfer deuten anfangs eher auf ein wildes Tier hin und würden die Stadtbevölkerung sicher in Angst und Schrecken versetzen.

„Die Anatomie des Teufels“ ist der Erstling des spanischen Autors Jordi Llobregat. Die damalige Zeit ist aus heutiger Sicht eine, in der der Unterschied zwischen arm und reich, zwischen aufkommender Moderne und rückständiger Vergangenheit groß war. Während die Stadtregierung die letzten Vorkehrungen für die anstehende Weltausstellung trifft, ist nur ein paar Straßen weiter das Elend und der Tod präsent, leiden die Menschen Hunger und sterben an Typhus und Tuberkulose. Diese Gegensätze beschreibt Llobregat ausführlich und in einer lebhaften und sehr angenehm zu lesenden Sprache. Vor allem Daniel wird einem dabei sehr schnell sympathisch. Der kluge, empfindsame junge Mann und der etwas heruntergekommene Reporter sind ein ungleiches aber darum umso interessanteres Ermittlergespann. Auch der Glaube an ein tierisches Monster als Täter und die aufkommende forensische Pathologie sind ein spannender Kontrast in diesem historischen Krimi. Der Plot ist dabei vielleicht nicht besonders trickreich aber logisch aufgebaut und lässt sich auch für die psychologischen Details des Täters angemessene Zeit der Erklärung und Beleuchtung.

Seltsam waren für mich zwei, drei kleine Sequenzen, in denen ich den Eindruck hatte, der Autor wäre etwas ins Phantastische abgeglitten. Aber vielleicht sollte das auch nur metaphorisch sein und ich habe es nur nicht ganz verstanden.
Dass der Autor mit Vergleichen zu Dan Brown und Carlos Ruiz Zafon beworben wird, fand ich nicht ganz passend. Weder der Erzählstil noch der Plot sind für mich vergleichbar.

Ein gelungener Krimi mit einem tollen Setting in einer Zeit des Umbruchs, die ich gerade deswegen sehr in Romanen schätze. Für mich eine gelungene Neuentdeckung. 4,5 Sterne – wohlwollend auf 5 aufgerundet.

Veröffentlicht am 11.05.2017

hartes Inselleben

Die Strandräuberin
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1711 ist das Leben hart auf Sylt. Die Natur ist karstig und widersetzt sich allen Versuchen, dort etwas zum Essen zu kultivieren. Also leben die Menschen vor allem vom Fisch- und Walfang. Und ist der mal ...

1711 ist das Leben hart auf Sylt. Die Natur ist karstig und widersetzt sich allen Versuchen, dort etwas zum Essen zu kultivieren. Also leben die Menschen vor allem vom Fisch- und Walfang. Und ist der mal schlecht gelaufen, dann hungern die Sylter in ihren windschiefen, ärmlichen Hütten und hoffen auf besseres Wetter und bessere Fangausbeute. Besonders schlimm trifft es immer die Frauen, die ohne männliche Versorger überleben müssen. Auch Jördis und ihre Großmutter gehören zu diesen Überlebenskünstlerinnen, die sich vor allem mit dem Sammeln von Strandgut über Wasser halten und hi und da mal ein bisschen Geld für harmlose Runen-Orakel bekommen. Jördis freundet sich mit der Tochter des Pfarrers an, dem das Mädchen und seine Oma schon lange ein Dorn im Auge sind.

Dann verliebt Jördis sich in den Schmied Arjen – für den sich auch ihre Freundin interessiert - und möchte ihn heiraten. Da bricht ein Unwetter über der Insel herein und der Pfarrer sieht seine Chance gekommen das Unglück Menschen in die Schuhe zu schieben, die seiner Meinung nach den Missfallen Gottes heraufbeschworen haben.

Schon der Vorgängerroman von Ines Thorn, „Die Walfängerin“, hatte mich gefesselt. Und obwohl ich aus diesem bereits ein bisschen etwas vom damaligen Leben auf Sylt wusste, war ich doch wieder erschüttert unter welch unwirtlichen, ja meiner Meinung nach fast unmenschlich harten Bedingungen die Leute auf der Insel lebten. Die Vielzahl der Unbillen, die Einsamkeit, die Kälte, der Hunger und in diesem Buch auch der bigotte Pfarrer sind ein düsterer Rahmen für die Jugend zweier Mädchen und die erste Liebe, die sie leider für den selben Mann empfinden. Dieser Kontrast ist sehr ansprechend. Ebenso wie die eingestreuten Details über den alten Glauben an die Götterwelt der Asen und die Rituale und Bedeutungen der Runen. Das Buch ist eher schmal, aber die Geschichte so dicht und klar erzählt, dass sie mir ein ganz eigenes Bild vom Leben auf einer Insel gegeben hat und ich bei Bildern von Sylt jetzt immer an dieses kleine feine Buch denken werde.