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Veröffentlicht am 18.08.2017

Über Kindsmord und Klassengesellschaft

Dann schlaf auch du
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Roman oder Thriller? Die Einordnung des Buches in ein Genre ist nicht eindeutig, weshalb es aber eine breite Leserschaft faszinieren wird. Anfang und Ende deuten auf einen Thriller – eine „Nounou“, wie ...

Roman oder Thriller? Die Einordnung des Buches in ein Genre ist nicht eindeutig, weshalb es aber eine breite Leserschaft faszinieren wird. Anfang und Ende deuten auf einen Thriller – eine „Nounou“, wie die Kinderfrau in französischen Familien genannt wird, ermordet die von ihr gehüteten zwei Kinder ihrer Arbeitgeber, die untersuchende Kommissarin führt akribische Ermittlungen. Die Spannung zu erfahren, wie es zu der furchtbaren Tat Louises gekommen ist, bleibt durchweg aufrechterhalten. Im Fokus und auf einen (tragischen) Roman hindeutend steht aber auch das Thema Klassengesellschaft/-gegensätze. Louise entstammt einer bildungsfernen Schicht, bekam früh ein ungewolltes Kind, führte bis zur Witwenschaft eine lieblose Ehe, hat für die Schulden ihres Mannes aufzukommen, ist nicht in der Lage, sich mit Behörden u.ä. auseinanderzusetzen. Ihre Arbeitgeber hingegen sind erfolgreich als Musikproduzent bzw. Rechtsanwältin. Vor allem Myriam entspricht dem Bild einer typischen französischen Frau – Karriere im Beruf, ermöglicht durch die Stütze einer im Hintergrund wirkenden Tagesmutter. An Louises minderer sozialer Herkunft stören sie sich zusehends, würden sie, die doch eigentlich unentbehrlich für sie ist, sogar gerne wieder loswerden. In chronologischer Folge werden die Monate von Louises Tätigkeit als Nounou geschildert, unterbrochen durch kurze Einschübe dritter Personen, die Kontakt zu ihr hatten und vielleicht ein Puzzleteil bei der Suche nach dem Tatmotiv liefern. Auf jeden Fall wird der Leser in die Lage gesetzt, sich ein umfassendes Bild von der Täterin und ihrem möglichen Motiv zu machen.

Das Buch ist wirklich lesenswert und wurde zu Recht im letzten Jahr mit dem Prix Goncourt, einem renommierten französischen Literaturpreis für das beste erzählerische Werk des Jahres in französischer Sprache, ausgezeichnet.

Veröffentlicht am 01.08.2017

Familiengeschichte umrahmt von deutscher Nachkriegsgeschichte

Altes Land
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Bücher wie das vorliegende lese ich immer wieder gerne – Schilderung familiärer Verhältnisse über mehrere Generationen mit Bezug zur deutschen Geschichte in den Nachkriegstagen.
Vera und ihre Mutter werden ...

Bücher wie das vorliegende lese ich immer wieder gerne – Schilderung familiärer Verhältnisse über mehrere Generationen mit Bezug zur deutschen Geschichte in den Nachkriegstagen.
Vera und ihre Mutter werden nach ihrer Vertreibung aus Ostpreußen auf einem Hof im Alten Land bei Hamburg einquartiert. Dort in der Elbmarschlandschaft bei den alteingesessenen Obstbauern bleibt sie, die den Hof nie verlässt und ein unangepasstes Leben führt, zeitlebens fremd. Jahrzehnte später nimmt sie ihre alleinerziehende Nichte aus Hamburg nach Scheitern ihrer Beziehung bei sich auf.
Im Vordergrund steht die Thematik des Flüchtens und Ankommens, dargestellt anhand der Protagonistinnen Vera und ihrer Nichte. Wo sind die eigenen Wurzeln, die Heimat, das Zuhause? Beide Frauen sind stark geprägt vom Verhältnis zu ihrer jeweiligen Mutter. Beide Stränge finden letztlich ihren Ausgangspunkt in der traumatischen und nie überwundenen Vertreibung von Veras Mutter aus Ostpreußen. Auch um – böse – Erinnerungen geht es, vorrangig die von Vera aus ihrer Kindheit zu Kriegsende, daneben die ihres Stiefvaters und Hoferben Karl, der psychisch traumatisiert aus dem Krieg heimgekehrt ist. Abgesehen von den Schicksalen der beiden Frauen werden noch so manche Werdegänge der Altenländer Bauern geschildert, von denen einige ihre Höfe noch ganz der Tradition folgend in schmucken Reetdach-Bauernhäusern fortführen, Sohn auf Vater folgend, andere hingegen zu Biobauern werden oder gar ihre Höfe an zugezogene Städter verkaufen. Die bildhafte Beschreibung des Alten Landes und ihrer urigen Bewohner ist wirklich gelungen. Bodenständig und gemütlich wirkt alles dadurch, dass die Autorin die Romanfiguren plattdeutsch reden lässt, von dem man sich einfach einige Sätze auf der Zunge zergehen lassen muss: „Schall ik di wat geven, dat du slapen kannst?“, „mookt se mien Huus schier“, „Kiek man nich hen“. Vieles wird offen gelegt in langen Gedankengängen der Figuren, die über ihr Leben und ihre Mitmenschen nachdenken.

Ein wundervoller Roman.

Veröffentlicht am 26.07.2017

Reflexionen über das Leben

Sieh mich an
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Die Geschichte trägt sich an nur einem einzigen Freitag zu und gibt dennoch das vierzigjährige Leben der Protagonistin Katharina wieder. Diese hat Tage zuvor „Etwas“ in ihrer Brust ertastet (das Wort Brustkrebs ...

Die Geschichte trägt sich an nur einem einzigen Freitag zu und gibt dennoch das vierzigjährige Leben der Protagonistin Katharina wieder. Diese hat Tage zuvor „Etwas“ in ihrer Brust ertastet (das Wort Brustkrebs fällt im ganzen Buch nicht) und ist sich angesichts familiärer Vorbelastungen eines tödlichen Ausgangs der als gegeben unterstellten Erkrankung sicher, ohne dass diese schon diagnostiziert ist. Den Freitag und das Wochenende will sie ganz normal verbringen und ihr Geheimnis für sich behalten, ehe sie sich am Montag untersuchen lässt. Doch von Normalität kann keine Rede sein. Dafür sorgen schon ihre an ADHS leidende Tochter mit Ausrastern, ihr mit ihr eine Fernbeziehung führender Ehemann, ein bizarrer häuslicher Unfall ihres transsexuellen Nachbarn und der Besuch eines einst in sie verliebt gewesenen Studienfreundes. Und immer wieder schweifen Katharinas Gedanken zu dem „Etwas“ und lassen sie über ihr Leben Bilanz ziehen – ist ihr Leben eigentlich so geworden, wie sie es sich einmal wünschte?
Zwar steht ein ernstes Thema im Hintergrund. Doch muss sich keiner sorgen, deswegen in trübe Gedanken zu verfallen. Dafür sorgt schon der lakonische, oft komische, auf jeden Fall besondere Schreibstil. Die Autorin erzählt Katharinas Geschichte sachlich, aber mit viel Einfühlungsvermögen. Sehr temporeich folgt man der Protagonistin durch ihr Leben und durch diesen einen cahotischen Tag. Amüsant zu lesen ist, wie Katharina – auch um sich zu beruhigen – versucht, Struktur in ihr Chaos zu bringen, indem sie verschiedene Listen in einem Notizbuch führt, z.B. „Das Etwas-Thema und die Außenwelt (Was ist zu beachten?)“, „Fragen, die ich gerade lieber nicht gestellt bekäme“, „Liste der Musikstücke, die mir zuverlässig eine Gänsehaut bereiten“. Leichte Schwierigkeiten beim Lesen hatte ich, die ich nicht sonderlich musikaffin bin, lediglich an den Stellen, bei denen es um Musik geht, die für Katharina als studierter Musikwissenschaftlerin eine besondere Bedeutung hat.
Diesen Roman kann ich wirklich nur empfehlen.

Veröffentlicht am 24.07.2017

Wie Liebe ein Kindheitstrauma heilen kann

Die wundersame Reise eines verlorenen Gegenstands
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Als seine geliebte Mutter die Familie vor Jahren verlässt und keinen Kontakt zu ihm hält, wird der siebenjährige Michele zum misstrauischen Eremiten. Als Bahnhofsvorsteher fristet er in einer kleinen italienischen ...

Als seine geliebte Mutter die Familie vor Jahren verlässt und keinen Kontakt zu ihm hält, wird der siebenjährige Michele zum misstrauischen Eremiten. Als Bahnhofsvorsteher fristet er in einer kleinen italienischen Bahnstation ein Leben ohne soziale Kontakte. Das ändert sich, als die lebensbejahende Elena auf der Suche nach der Puppe ihrer Schwester in seinen Bahnhof kommt und er in einem Zug sein geheimes Tagebuch findet, das seine Mutter einst mitgenommen hat. Auf Elenas Ermutigung hin versucht Michele seine Mutter zu finden und bereist die Orte entlang der Bahnlinie.
Die Geschichte hat märchenhafte Züge. Der Protagonist Michele erinnert an Märchenfiguren, die sich ebenfalls oft auf Reisen begeben und unterwegs Proben zu bestehen haben. Auch Michele zieht los und muss sich unterwegs Herausforderungen stellen, die ihm bislang in seinem zurückgezogenen Leben fremd waren. Er begegnet unterschiedlichen Menschen, die ihm oft gut gesonnen sind, ihm gelegentlich aber auch Böses wollen. Alles zusammen genommen führt das dazu, dass sich Michele allmählich in seinem Wesen ändert, wenngleich er noch den einen oder anderen Rückschlag erleidet, was ihn manchmal etwas unsympathisch wirken lässt. Ob er bei seinem eigentlichen Ziel Erfolg hat, muss jeder selbst lesen. Die Sprecherin bringt die Geschichte gelungen herüber und macht Personenwechsel deutlich. Ihr lässt sich gut folgen.
Das gute sieben Stunden währende Hörbuch erhält von mir eine uneingeschränkte Hörempfehlung.

Veröffentlicht am 24.07.2017

Geschichtenerzählen als Mittel des Überlebens

Als die Träume in den Himmel stiegen
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Vor dem Hintergrund der zahlreichen Flüchtlinge aus u.a. Syrien, Irak, Afghanistan gewinnt das Buch an besonderer Aktualität und spricht vor allem all diejenigen an, die sich für die Geschichte Afghanistans ...

Vor dem Hintergrund der zahlreichen Flüchtlinge aus u.a. Syrien, Irak, Afghanistan gewinnt das Buch an besonderer Aktualität und spricht vor allem all diejenigen an, die sich für die Geschichte Afghanistans in den 80er/90er Jahren unter dem weichenden Einfluss der Sowjets und den erstarkenden Taliban interessieren.
Das Schicksal ihrer Familie in dieser Zeit bereitet uns die ca. zwölfjährige Ich-Erzählerin Samar auf. Mit ihren Eltern und mehreren Geschwistern verlässt sie fluchtartig ihr Haus in Kabul, um bei den Großeltern in einem Bergdorf im unzugänglichen Hindukusch unterzukommen, wo sie die letzten glücklichen Jahre ihrer Kindheit verbringen darf. Dann wird die Familie nach dem Erstarken der Taliban und einem schlimmen Erdbeben auseinandergerissen und Samar begibt sich auf eine Odyssee in ein pakistanisches Auffanglager, dann nach Kabul und schließlich nach Tadschikistan, wo sie die Transsibirische Eisenbahn als blinder Passagier besteigt. Im Zug beginnt sie die Geschichte ihrer Familie niederzuschreiben, getreu ihrem Vornamen, denn Samar bedeutet Geschichtenerzählerin. Das Niederschreiben ihrer Erinnerungen gibt ihr Hoffnung und Mut durchzuhalten.
Angesiedelt ist die Geschichte auf mehreren zeitlichen Ebenen. Die Fahrt in der Transsibirischen Eisenbahn spielt in der Gegenwart. Von ihr wird auf die Vergangenheit zurückgeblendet. Die Zugfahrt hat eine ganz besondere Bedeutung, was der Leser aber erst nach geraumer Zeit erkennen kann. Nur so viel sei verraten – die Grenzen zwischen Realität und Fantasie werden flüssig. Aus Samars kindlicher Perspektive erzählt, lässt sich die Geschichte unschwer lesen, wenngleich es überhaupt nicht um leicht verdauliche Kost geht (Stichwort Gräueltaten der Taliban wie Steinigung einer vermeintlichen Ehebrecherin oder unmenschliche Zustände im Flüchtlingslager). Die gewählte kindliche Sichtweise lässt einen auch die verworrenen politischen Verhältnisse in Afghanistan mit seinen zahlreichen Gruppierungen verstehen, führt Samar doch schlicht und ihrem Verständnis entsprechend an sie heran. Eine Botschaft vermag das Buch hervorragend zu vermitteln: Alles ist möglich und es gibt Hoffnung, auch wenn alles ausweglos erscheint.
Das Buch bekommt von mir eine klare Leseempfehlung.