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Lust_auf_literatur

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 24.02.2023

Atmosphärisch!

Rosa Schleim
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⚫️ Ein seltsamer, merkwürdiger Roman.

Die erzählte Geschichte ist schwer greifbar und sehr atmosphärisch.
Der rosa Schleim zieht sich als Motiv immer wieder durch den Roman. Die Menschen bestehen aus ...

⚫️ Ein seltsamer, merkwürdiger Roman.

Die erzählte Geschichte ist schwer greifbar und sehr atmosphärisch.
Der rosa Schleim zieht sich als Motiv immer wieder durch den Roman. Die Menschen bestehen aus ihm, er ernährt sie, er bedroht sie, er ist natürlich und wiedernatürlich gleichermaßen.

⚫️ Eine Frau irrt durch eine dystopische Welt an einer unbekannt Küste. Es dauert ein paar Seiten bis ich mir aus den Andeutungen ein Szenario erwächst. Giftige, ätzende, alles abtötende Algen haben die Meere vergiftet. Wenn Wind aufkommt wird das Gift an die Küste geweht und infiziert die Menschen. Es beginnt mit Juckreiz, dann fällt die Haut in Schuppen ab, bis die Infizierten sich buchstäblich häuten.
Die Menschen ziehen sich ins Landesinnere zurück, die Gesellschaft steht kurz vor dem Kollaps. Die ökologische Apokalypse hat längst die Landwirtschaft und Nahrrungsketten zusammenbrechen lassen.
Die Ich-Erzählerin kümmert sich gegen Bezahlung um einen kleinen Jungen, der einen nicht genannten Gen-Defekt hat, der ihm permanenten Hunger verursacht (ich habe eine starke Vermutung um welchen es sich handelt). Zudem kümmert sie sich um ihre Mutter, die sich weigert ins Landesinnere zu ziehen und um ihren chronisch infizierten Ehemann im Krankenhaus, bei dem die Krankheit mysteriöserweise nicht fortschreitet. Mit ihm verbindet sie eine seit Kindertagen komplizierte Beziehung, die in Rückblenden immer wieder aufblitzt. Ebenso denkt die Erzählerin viel über die Beziehung zu ihrer Mutter und zu ihrem Mutterersatz nach.
⚫️ Das Kümmern um andere mit und ohne Bezahlung und die damit verbundenen Abhängigkeiten stehen im Mittelpunkt dieses Romans. Können wir unsere eigenen Wünsche frei erkennen? Doch was sind und wollen wir ohne Verantwortung für andere?

⚫️ Für mich macht nicht dieses Thema den Reiz des Romans aus, dazu ist mir das alles zu abstrakt und zu vage ausformuliert. Was mir gut gefallen hat, ist die greifbare Atmosphäre, die Trías mit ihrer lyrischen Sprache erschafft. Eine Atmosphäre von Verlorenheit, Einsamkeit und Zerfall. Ich lasse mich haltlos ohne Anker durch den Roman treiben genauso wie die Erzählerin durch eine zerstörte Welt.

Mir hat es durchaus gefallen mich ganz auf diese Atmosphäre einzulassen, und denke der Roman kann Leser:innen ansprechen, die sehr spezielle und sprachlich abstrakte Romane mögen. Lasst euch überraschen!

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Veröffentlicht am 02.02.2023

Lesenswert!

Die Perfektionen
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Ich las diesen schmalen Roman in einem Rutsch durch. Dieses subtile Porträt zweier Leben faszinierte mich unter anderem auch deshalb, weil es, oberflächlich gesehen, mit meinem Leben und sozialen ...

Ich las diesen schmalen Roman in einem Rutsch durch. Dieses subtile Porträt zweier Leben faszinierte mich unter anderem auch deshalb, weil es, oberflächlich gesehen, mit meinem Leben und sozialen Umfeld nicht viel gemein hat.
Theresia Enzenberger nennt diesen Roman auf dem Klappentext einen Berlinroman, lakonisch, satirisch, glänzend.

Damit ist klar, wo der Roman spielt: in Berlin, diesem pulsierenden, facettenreichen melting pot.
Latronico beginnt seinen Roman mit einer ausufernden detailreichen Beschreibung einer Wohnung, besser gesagt mit dem Bild einer Wohnung. Die Wohnung ist hip wie in hipster, voller shabby chic, gewollt unangestrengt lässig und mit den unvermeidlichen Monstera Pflanzen. Mein inneres Auge weiß genau wie diese Wohnung aussieht, auf hunderten Instagram Fotos und Lifestyle Magazinen sah es sie schon.
Es ist die Wohnung des nach Berlin gezogenen Pärchens Anna und Tom. Beide arbeiten selbständig als Graphik Designer, sie sind jung und das Leben ist unkompliziert und schön.
Diese Unkompliziertheit bringt schon in diesen ersten Berliner Jahren eine gewisse Unverbindlichkeit und Beliebigkeit mit sich, die sich auf Freundschaften, Arbeitsleben und Sexleben gleichermaßen ausdehnt. In Anna und Tom keimt eine Unzufriedenheit, die beide aber nicht greifen oder benennen können.

„Sie fürchteten zufrieden zu sein, weil sie sich zufriedengegeben hatten.“

Die perfekten Bilder, denen sich beide ohne Unterlass auf Social Media aussetzten, verstärkt das Gefühl von innerer Leere und Sinnlosigkeit, ohne dass sie es merken oder gar ändern könnten.

Als sich mit den Jahren Berlin verändert, gentrifizierter wird, und ihre Freunde in ihre jeweiligen Heimatländer zurückkehren oder eine Familie gründen, wächst in Anna und Tom die Sehnsucht nach einem neuen Aufbruch.

Ich habe den Begriff „Generationenporträt“ zu diesem Roman gelesen. Anna und Tom werden nicht als Individuen beschrieben, sondern sind Stellvertreterinnen für ein sehr kosmopolitisches urbanes Umfeld, in dem sicher nicht ihre ganze Generation zu Hause ist. Doch dieses innere Bild von dem perfekten Leben, das immer nur oberflächlich perfekt aussieht, sich aber nie perfekt anfühlt, steht universell für die Suche nach einem Leben mit Bedeutung und Sinnhaftigkeit, nach dem wir alle streben.

Mir hat Latronicos vielschichtiger und interpretationsoffene Roman sehr gut gefallen. Ich las ihn eher als beschreibend, denn als wertend. Latronico überlässt es mir als Leser
in ein persönliches Fazit zu ziehen oder aber auch nicht. Zu überlegen, ob ich selbst in den „Gefängnissen des Überflusses“ stecke.

Für mehr Buchvorstellungen besucht mich auf Instagram (@lustaufliteratur)!

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Veröffentlicht am 03.08.2024

Vielschichtiger Roman über Suchende

Taumeln
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Das ist mein erster Roman von Sina Scherzant. Ihr Debüt „Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne“ hatte ich 2023 trotz des vielversprechenden Titels wegen akuter Leseüberlastung ausgelassen. ...

Das ist mein erster Roman von Sina Scherzant. Ihr Debüt „Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne“ hatte ich 2023 trotz des vielversprechenden Titels wegen akuter Leseüberlastung ausgelassen. Dafür habe ich jetzt bei ihrem zweiten Roman, verführt durch die interessante Kurzbeschreibung und die vielversprechende Leseprobe, zugegriffen.

Luisas Schwester Hannah ist seit mehr als zwei Jahren verschwunden. Niemand weiß, wo die junge Frau ist und Luisa vermutet, dass ihrer Schwester etwas zugestoßen ist. Doch als die polizeilichen Ermittlungen keinerlei Spuren ergeben, verlaufen die groß angelegten privaten Suchaktionen irgendwann im Sand. Nur ein kleiner, harter Kern von acht Menschen rund um Luisa trifft sich regelmäßig am Wochenende, um weitere Teilabschnitte des Waldes zu durchsuchen.
Nicht der rätselhafte Fall der verschwundenen Schwester, sondern diese Gruppe von Menschen und Luisa selbst steht im Zentrum von Scherzants neuem Roman.

Obwohl die meisten von ihnen Hannah nicht mal kannten, hat jede*r von ihnen seine eigene innere Motivation, an den Suchaktionen teilzunehmen.
Beispielsweise der mittelalte Junggeselle Frank. Er ist vereinsamt, fühlt sich im Leben gescheitert und ist auf der Suche nach sozialen Kontakten und nach einem Daseinszweck.

“Ihr Verlust hat ihm eine Art Hobby beschert und einen Grund, am Samstag aufzustehen, zu duschen, sich einen Kaffee zu machen, obwohl das Lämpchen schon blinkt, obwohl die Maschine entkalkt werden müsste, aber dafür hat er an den meisten Samstagen keine Zeit, denn er wird gebraucht, im Wald, da warten sie auf ihn.”

Die Suchenden wachsen zu einer kleinen Schicksalsgemeinschaft zusammen, die man fast Freundschaft nennen könnte. In Luisas eigenem Leben wurde durch das Verschwinden ihrer Schwester die Stoptaste gedrückt und die Familie schwer und nachhaltig erschüttert. Sie führen ein Leben wie in einem Wartezimmer.

Scherzant greift in ihrem Roman viele Themen auf. Manche wie Depressionen und die Konkurrenz unter Schwestern, werden nur angedeutet. Andere, wie das Thema Einsamkeit, werden stärker ausgearbeitet. Das gelingt ihr meiner Meinung nach gut, auch wenn eine klarere Fokussierung auf weniger Inhalte vielleicht noch stärker gewesen wäre.
Auch literarisch variiert Scherzant mit verschiedenen Stilmitteln, Tempi und Erzählformen, was sehr gut ihr schriftstellerisches Können zeigt, aber in meinen Augen vielleicht auch etwas zu beliebig verwendet wird.
Viele der von ihr verwendeten Bilder und die sprachliche Ausgestaltung finde ich richtig gut, wie beispielsweise der starke und interpretationsoffene Schluss.


Besonders gefällt mir, dass Scherzant zeigt, wie im Alltag viel von der Aufmerksamkeit, die wir unseren Mitmenschen und vor allem den Menschen die wir lieben, widmen sollten, verloren geht. Geht ein Mensch verloren, bekommen diese verschenkten Augenblicke neues Gewicht.

„Taumeln“ ist nicht die Geschichte, wie das Rätsel der verschwundenen Hannah gelöst wird. Es ist vielmehr die vielschichtig erzählte Geschichte von Menschen, die nicht nur im Wald, sondern im Leben auf der Suche sind.

Für mich vielleicht kein Highlight, aber ein interessanter und lesenswerter Roman einer vielversprechenden Autorin und Schriftstellerin.

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Veröffentlicht am 19.07.2024

Lesenswert, aber mit ein paar Schwachstellen

Nach uns der Sturm
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Das südostasische Malaysia ist seit 1963 bis heute eine unabhängige, konstitutionelle Wahlmonarchie. Das war nicht immer so, denn die Halbinsel war viele Jahre britische Kronkolonie und stand unter wirtschaftlicher ...

Das südostasische Malaysia ist seit 1963 bis heute eine unabhängige, konstitutionelle Wahlmonarchie. Das war nicht immer so, denn die Halbinsel war viele Jahre britische Kronkolonie und stand unter wirtschaftlicher und politischer Kontrolle des Empires. Während des zweiten Weltkriegs wurde Malaya in den Jahre 1941-45 von Japan besetzt.

Genau diese Zeit thematisiert Chan in ihrem international bereits viel gelobten Roman, inspiriert durch die Geschichte ihrer eigenen Familie.
Chan erzählt mir auf zwei Zeitebenen von der malaiischen Familie Alcantara.
In einem Erzählstrang, Malaya ist britisch besetzt, verfällt die junge Mutter Cecily dem charismatischen Japaner und General Fujiwara und verschiebt ideologisch verblendet ihre moralischen Grenzen.
Die zweite Erzählebene spielt ein paar Jahre später direkt während der Zeit der japanischen Besatzung und zeigt sowohl die Folgen von Cecilys Entscheidungen als auch eine Gesellschaft, die durch eine gewaltsames Supprimat gespalten ist.
Rassismus und Klassismus beeinflussen alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens und richtet sich gegen die Malaien.
Cecily hat mittlerweile drei Kinder: Abel, Jujube und Jasmin, die jeweils ihre eigene Geschichten haben.
Besonders nahe geht mir Abels Geschichte, der in ein japanisches Arbeitslager verschleppt wird und dort schlimme Gewalt erlebt und ausübt.

Die Blickwinkel - und Zeitenwechsel bringen viel Dynamik in den Roman und lasen mich über die Seiten fliegen.
Gerade im letzten Drittel, kurz vor der Kapitulation Japans nimmt die Handlung rasant an Fahrt auf und verwandelt den Roman in einen wahren Pageturner.

Wie bei vielen Familiengeschichten gehen die vielen Perspektiven zu Lasten der psychologischen Tiefe. So bleibt die verstecktere Handlungsmotivation der Figuren manchmal etwas oberflächlich und flach, verstärkt durch die etwas distanzierte auktoriale Erzählweise. Auch literarisch würde ich Chans Stil mehr als eingängig als als ausgefallen beschreiben.

Der Schluss allerdings besticht durch eine Tragik und Dramatik, die wahrscheinlich niemanden kaltlässt. Es war ein gute Entscheidung von Chan, den Roman nur mit wenigen versöhnlichen Elementen enden zu lassen, um so den vielen traurigen und vermeidbaren Leid jener Zeit Rechnung zu tragen.

Entfernt erinnerte mich gerade Abels Geschichte an den Film „Im Reich der Sonne“ und auch wenn ich den Roman vielleicht jetzt nicht zu meinen diesjährigen Highlights zählen würde, habe ich ihn gerne gelesen und ich habe mehr über diese mir unbekannte Region und ihre Geschichte gelernt.

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Veröffentlicht am 24.10.2023

Bittersüße und zarte Liebesgeschichte

Wilde Minze
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»Wilde Minze ist zärtlich und innig, eine umwerfende, sinnliche Erkundung der kostbarsten Momente des Lebens. Ein Lesegenuss!« Charlotte McConaghy

Ein toller Blurb, oder?
Das kann ich nach der Lektüre ...

»Wilde Minze ist zärtlich und innig, eine umwerfende, sinnliche Erkundung der kostbarsten Momente des Lebens. Ein Lesegenuss!« Charlotte McConaghy

Ein toller Blurb, oder?
Das kann ich nach der Lektüre einfach so stehen lassen, denn auch ich mochte das Buch trotz einiger kleinerer Kritikpunkte sehr gerne!

Ja, es ist diesmal eine unkonventionelle Liebesgeschichte, die sich ganz ungewohnt in meine Leseliste geschlichen hat.

Los Angeles: Für Sara und Emilia ist es Elektrizität auf den ersten Blick, als sie sich im Szenelokal Yerba Buena das erste Mal über den Weg laufen.
Beide Frauen haben einen sehr unterschiedlichen Background. Sara ist sehr prekär im provinziellen White Trash Milieu aufgewachsen und aus ihrem toxischen Umfeld als Teenagerin nach LA geflohen. In ihrer Vergangenheit liegt der schwere Verlust ihrer Mutter und ein Verbrechen, das sie noch lange verfolgen wird.
Emelie dagegen stammt aus einer liebevollen, gut situierten kreolischen Familie. Sie hat eine ältere Schwester, doch das Verhältnis ist äußerst schwierig, da sie seit Emelies Kindheit drogensüchtig ist und der Kampf gegen die Sucht die Beziehung stark belastet.

Nina Lacour (@nina_lacour) ist eigentlich eine in den USA sehr bekannte Autorin für Jugendbücher und hat mit „Wilde Minze“ ihren ersten Roman für Erwachsene veröffentlicht. Die Jungendbuchvergangenheit merke ich ihrer Geschichte an, aber in einem positiven Sinn. In ihrem Text schwingt eine wunderbare, fast naiv zu nennende Leichtigkeit mit, die aber durch ernsthaftere Töne wunderbar ausbalanciert wird.

Mir gefallen die zauberhaft sinnlichen Beschreibungen der Restaurants, der Cocktails, der Pflanzen und der Häuser.
Und natürlich der Menschen. Die beiden Protagonistinnen sind liebevoll skizziert, aber nicht idealisiert. Vor allem Sara ist vom Leben gezeichnet, aber nicht gebrochen.

Die Liebesgeschichte zwischen den beiden Frauen ist genauso wie die Cocktails, die in dem Roman so detailreich beschreiben werden: süß, aber mit einem Hauch von Bitterkeit.

Kleinere Abzüge muss ich leider beim Reality Check einiger Plot Lines machen. (Meines Wissens nach reichen ein paar bunte Tapeten und ein paar farbige Fließen - selbst in den USA, nicht aus, um vollständig verfallene Häuser wieder zu renovieren.)
Auch einige der anderen Rahmenbedingungen wirken zu sehr auf die gewünschte Handlung zugeschnitten und zu konstruiert.

Der Schluss versöhnt mich allerdings mit diesen kleineren Mängeln und macht den Roman ingesamt zu einer bittersüßen, sinnlich schönen und zarten Lektüre.

Ein Plädoyer dafür, die Liebe zu wagen!

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