Immer noch nachhaltig berührend
REZENSION – Nach Lektüre des bereits 1931 erstveröffentlichten Romans „Die Mietskaserne“ von Ernst Erich Noth (1909-1983) muss man dem Glotzi Verlag für die Neuausgabe als Taschenbuch im Jahr 2021 ausdrücklich ...
REZENSION – Nach Lektüre des bereits 1931 erstveröffentlichten Romans „Die Mietskaserne“ von Ernst Erich Noth (1909-1983) muss man dem Glotzi Verlag für die Neuausgabe als Taschenbuch im Jahr 2021 ausdrücklich danken: Dieser Roman des damals erst 22-jährigen Berliner Schriftstellers ist ein einzigartiges, trotz seines Alters noch unverändert beeindruckendes Zeitdokument über die ärmliche und erbärmliche Lebenssituation des einstigen Großstadt-Proletariats in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, zusammengepfercht in maroden Hochhäusern ohne jeglichen Komfort. Der junge Autor schildert in seiner eindrucksvollen Erzählung, die im Mai 1933 als „undeutsch und schädlich“ den Bücherverbrennungen der Nazis zum Opfer fiel, den „Überlebenskampf seiner Kindheits- und Jugendjahre mit seinen Gefährdungen und Verwirrungen“ (Nachwort). Es ist zugleich der Kampf eines in der Mietskaserne zwischen engen Mauern, streitenden Eltern und niederem Milieu „eingesperrten“ Oberschülers auf der verzweifelten Suche nach einem besseren Leben in Freiheit.
Der 22-jährige Autor hatte zur Veröffentlichung seines bald nach Erscheinen in sechs Sprachen übersetzten Bestsellers statt seines bürgerlichen Namens Paul Albert Krantz das Pseudonym Ernst Erich Noth gewählt, war er doch drei Jahre zuvor als Angeklagter im Steglitzer Schülermordprozess in die Schlagzeilen geraten: Im Juni 1927 hatte der Oberschüler Paul Krantz mit zwei Freunden verabredet, sich wegen unglücklicher Liebesgeschichten gegenseitig zu erschießen. Die beiden Freunde starben, nur Krantz, der die Pistole besorgt hatte, führte die Tat dann doch nicht aus. Als Gutachter stufte der berühmte Sexualforscher Magnus Hirschfeld den damals 18-Jährigen als „sexuell unterentwickelt und geistig überentwickelt“ ein. Dies scheint zutreffend gewesen zu sein, charakterisiert doch Noth im Roman seinen Protagonisten Albert ebenso. Dieser Selbstmord aus Liebeskummer und Verzweiflung ist im Roman nur verschlüsselt zu finden, weshalb die Kenntnis davon wichtig ist.
Die beiden in der Mietskaserne befreundeten Volks- und späteren Oberschüler Albert und Walter stehen gleichsam für das gespaltene Alter Ego des Autors Noth. Beide fühlen sich als Gymnasiasten nicht mehr dem proletarischen Milieu der Mietskaserne zugehörig, aber ebenso wenig zum Kreis der wohlhabenden Mitschüler aus dem Villen-Viertel. Sie fühlen sich allein gelassen, denn auch im Elternhaus spüren sie statt Liebe nur Gewalt und psychischen Druck („Du sollst es doch mal besser haben.“). Beide wollen ausbrechen: „In die Welt. Dahin, wo es schön ist – wo dieser Dreck nicht ist, diese Menschen.“ Auf ihrer verzweifelten Suche nach einem richtigen Lebensweg finden sie keine Hilfe, da auch die Eltern-Generation nach dem verlorenen Krieg ein hoffnungsloses Dasein fristet, wie der Beamte im Jugendamt gesteht: „Da sitzt man. Schuftet bis zum Weißbluten. Wofür im Grunde? Man hat viel verloren, Albert Krause – sehr viel.“ Auch Alberts Vater gibt seinem Sohn spät – viel zu spät – seine eigene Verzweiflung zu erkennen: „Rauf. Ja, wir wollen alle rauf. … Du darfst uns nicht verachten, Albert, uns alle nicht. Sieh mal, dieses Haus, lauter arme Menschen. Arme Menschen! Wir leben alle hier.“ Und dann fordert er seinen an Literatur begeisterten Sohn auf: „Schreib mal hiervon, von dem Haus.“
Ist der Roman „Die Mietskaserne“ aus dem Jahr 1931 also nur ein historisches Zeitdokument? Keineswegs! Die äußere Kulisse mag verschwunden sein, aber die geschilderten Probleme nicht: Die Kluft zwischen Arm und Reich wird aktuell wieder größer und die Zahl in Armut aufwachsender Kinder wächst. Auch die Probleme Pubertierender werden, gemessen an der Zahl therapeutischer Behandlungen, auffälliger. Im Roman lässt sich Walter von seinen Gefühlen leiten und gibt auf, doch Albert folgt seinem Verstand und macht weiter. Er zeigt uns, dass man den Ausbruch und neuen Aufbruch schaffen kann. So macht der Roman trotz aller damals im Stil der Neuen Sachlichkeit authentisch und in knappen Sätzen eindringlich geschilderten Probleme uns am Ende doch Mut. „Die Mietskaserne“ ist ein beeindruckender, ein berührender, am Ende aber tröstlicher Roman, der nicht nur Erwachsenen, sondern auch Heranwachsenden zur Lektüre empfohlen werden kann – nein, empfohlen werden muss.