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Veröffentlicht am 06.04.2023

Der Kanon als Gewohnheitstier

Muss ich das gelesen haben?
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Alles fing mit YouTube-Videos über Literatur an – verständlich, witzig und so für alle zugänglich. Warum ist der Kanon eigentlich so männlich, weiß, hetero, christlich und able-bodied? Und weshalb soll ...

Alles fing mit YouTube-Videos über Literatur an – verständlich, witzig und so für alle zugänglich. Warum ist der Kanon eigentlich so männlich, weiß, hetero, christlich und able-bodied? Und weshalb soll ich überhaupt (Klassiker) lesen? Diese und viele andere Fragen beantwortet Kabarettistin und Autorin Teresa Reichl nun in ihrem Buch „Muss ich das gelesen haben?“ Dabei berichtet sie auch von den eigenen Erfahrungen im Germanistikstudium, wenn sie Lehrende mit einer von diesen Fragen konfrontierte und spricht so sicherlich vielen Jugendlichen aus der Seele, die mit der Auswahl der Literatur in der Schule hadern.

Nach einem Vorwort gibt es zunächst eine kurze Einführung in den Literaturbegriff. Anschließend beantwortet die Autorin die Frage, warum wir überhaupt lesen sollten; neben den positiven Auswirkungen auf unser Gehirn, steht hier die Entwicklung von Empathie für andere Perspektiven im Vordergrund. Zudem zeigt, so Reichl, klassische Literatur uns auf, wo wir als Gesellschaft herkommen und wie bestimmte -ismen (Rassismus, Sexismus, Klassismus etc.) immer weitertransportiert werden.

Das zweite Kapitel ist dann eine konsequente Fortsetzung, in dem sich Teresa Reichl damit beschäftigt, warum wir lesen, was wir lesen, warum bspw. Goethe und Schiller dabei so im Fokus stehen und warum der Kanon ein „Gewohnheitstier“ ist. Im letzten Abschnitt folgt schließlich der interessanteste Teil: Was sollen wir stattdessen lesen? Hier schlägt die Autorin Komödien, Literatur marginalisierter Autor*innen und neue Literaturformen vor.

„Muss ich das gelesen haben?“ ist in sehr lockerem Ton verfasst. Die Autorin, und eben auch Kabarettistin, schreibt, wie sie spricht und ergänzt ihren Text mit zahlreichen witzigen Fußnoten, die ich persönlich nicht gebraucht hätte. Zudem ist die Frage, welche Zielgruppe sich hier angesprochen fühlen soll. Jugendliche, die nicht lesen, erwartet hier eine wahre Textwand, die kaum Abschnitte und nur eine einzige Grafik hat. Geübte Leser und Lehrkräfte schreckt möglicherweise der Stil des Buches ab. Dennoch: ein wichtiges Thema, kurz und knackig präsentiert.

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Veröffentlicht am 29.03.2023

Reihenauftakt mit sympathischen Charakteren

Die Hausboot-Detektei - Tödlicher Genuss
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Als Arie seinen Job als Polizist verliert, weil er seine Waffe auf seinen Kollegen – und Liebhaber seiner Frau – richtet, gründet er eine Detektei. Arbeiten soll dort, wer im Leben wie er Unterstützung ...

Als Arie seinen Job als Polizist verliert, weil er seine Waffe auf seinen Kollegen – und Liebhaber seiner Frau – richtet, gründet er eine Detektei. Arbeiten soll dort, wer im Leben wie er Unterstützung brauchen kann: Maddie, die sich um ihre behinderte Schwester kümmert und nun ebenfalls vorbestraft ist, weil sie diese schlagkräftig verteidigt hat. Jan hat den Kontakt zu seiner Familie verloren, weil die nicht mit seinem Leben als trans Mann einverstanden sind. Elin erholt sich nur langsam von einer harten Trennung und Jack weiß neben seinen Gaunereien nichts mit seinem Leben anzufangen. Auf Aries Hausboot richten sie ihr Hauptquartier ein und bald wartet der erste Fall.

„Tödlicher Genuss“ ist der Auftakt der Reihe rund um die Hausboot-Detektei der Autorin Heidi van Elderen unter dem Pseudonym Amy Achterop, das im Verlauf des Romans noch einen weiteren Sinn offenbaren wird. Die Handlung folgt im Wechsel allen Hauptfiguren, aber auch weiteren Personen, die in den Fall verwickelt sind. So wird das Geschehen von allen Seiten beleuchtet und wirkt durch die Verwendung der Gegenwartsform sehr unmittelbar.

Inhaltlich kommt die Geschichte zunächst schwerfällig in Gang, was wohl daran liegt, dass die Autorin erst einmal all ihre Figuren und deren Situation ausgiebig einführen will. So wirkt der erste Teil wie eine Anhäufung unterschiedlichster gesellschaftlicher Themen, was in den kommenden Bänden hoffentlich etwas organischer erscheinen wird. Amsterdam mit seinen Grachten, alten Gebäuden und engen Gassen gibt hingegen einen sehr guten Schauplatz ab.

Der eigentliche Kriminalfall ist spannend und spielt in der Welt der Gourmet-Gastronomie. Zwei konkurrierende Küchenchefs gehen bei der Jagd nach einem lukrativen Auftrag mehr als einen Schritt zu weit. Gut gefallen hat mir dabei, dass unsere Amateurdetektive sich genau als solche verhalten und erst gemeinsam herausfinden müssen, wie sie wohl am besten an ihre Fälle herangehen. Dafür lebt die Geschichte vom Zusammenspiel ihrer sympathischen Charaktere (darunter ein Eichhörnchenbaby und ein Hund) – ich freue mich auf Band 2!

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Veröffentlicht am 20.02.2023

Beunruhigendes Psychogramm

Das Museum der Stille
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Ein junger Mann reist in ein kleines Dorf in der Provinz. Dort soll er für eine alte Dame ein ganz besonderes Museum einrichten. Schon seit Jahren stiehlt sie Gegenstände von verstorbenen Dorfbewohnern, ...

Ein junger Mann reist in ein kleines Dorf in der Provinz. Dort soll er für eine alte Dame ein ganz besonderes Museum einrichten. Schon seit Jahren stiehlt sie Gegenstände von verstorbenen Dorfbewohnern, um die Erinnerung an sie aufrecht zu erhalten und ihre Geschichte zu erzählen. Diese Aufgabe geht nun auf den Protagonisten über. Mit Unterstützung der Adoptivtochter der Alten macht er sich an die Arbeit und gerät bald in einen Strudel von Ereignissen.

„Das Museum der Stille“ der mehrfach ausgezeichneten Autorin Yoko Ogawa erschien bereits im Jahr 2005 zum ersten Mal auf Deutsch. Nun liegt im Liebeskind Verlag eine gebundene Neuausgabe vor. Erzählt wird aus Sicht des jungen Kurators in der Ich- und Vergangenheitsform. Somit wissen wir als Leser*innen immer nur so viel, wie er selbst und teilen seinen - im Verlauf der Handlung immer weiter zunehmenden – Widerwillen gegen den Diebstahl der Erinnerungsstücke. Als sich im Dorf düstere Geschehnisse ereignen, schlägt dieser in blanke Angst um.

Im Zentrum der Geschichte steht sicherlich die Erschaffung des seltsamen Museums und die Beziehung des Protagonisten zu der Alten und ihrer Tochter. Je mehr Stücke er auf illegale Weise beschafft und katalogisiert, umso tiefer wird er in den Bann des Museums gezogen – und auf einmal überschlagen sich die Ereignisse: die Briefe an seinen Bruder bleiben immer länger unbeantwortet, ein Sprengstoffanschlag wird im Dorf verübt und ein Serienmörder tötet und verstümmelt junge Frauen. Der bis zu diesem Zeitpunkt eher behäbig daherkommende Roman entwickelt sich zu einem beunruhigenden Psychogramm – wem können wir noch vertrauen? Oder hat am Ende der Protagonist selbst die Finger im Spiel?

Zur besonderen Atmosphäre des Buches trägt auch die Anonymisierung der Figuren bei. Keine von ihnen hat einen Namen, sondern wird nur nach ihrem Alter („die Alte“, „der junge Mann“) oder der Funktion („der Gärtner“, „der Mönch“) beschrieben. Somit entsteht das unangenehme Gefühl, einen Augenzeugenbericht über einen Kriminalfall zu lesen, der unbemerkt irgendwo in Japan geschehen ist und niemals aufgeklärt wurde.

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Veröffentlicht am 10.02.2023

Emotionale Neuerzählung

STONE BLIND – Der Blick der Medusa
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Medusa ist noch ein Säugling, als sie vor der Höhle ihrer Schwestern, der Gorgonen Euryale und Stheno abgelegt wird. Liebevoll ziehen die beiden als Monster verschrienen Frauen die Kleine auf, obwohl sie ...

Medusa ist noch ein Säugling, als sie vor der Höhle ihrer Schwestern, der Gorgonen Euryale und Stheno abgelegt wird. Liebevoll ziehen die beiden als Monster verschrienen Frauen die Kleine auf, obwohl sie doch ganz anders ist; schwächer, mit Flügeln und vor allem eines: sterblich. Viele Jahre später macht sich der junge Perseus auf eine gefährliche Reise, um seine Mutter Danaë vor einer Zwangsehe zu bewahren, doch König Polydektes will nur auf ihre Hand verzichten, wenn Perseus ihm den Kopf einer Gorgone bringt.

„Stone Blind. Der Blick der Medusa“ ist bereits der vierte Roman für Erwachsene aus der Feder der Schriftstellerin und Comediennne Natalie Haynes. In ihrem Podcast „Natalie Haynes stands up for the Classics“ widmet sie sich mythologischen Figuren und Werken aus dem alten Rom und Griechenland. Ihre Neuerzählung des Medusa-Mythos wird aus den unterschiedlichsten Perspektiven geschildert, was das Geschehen von allen Seiten beleuchtet. Es sei dabei auch verraten, dass nicht nur Menschen zu Wort kommen und trotz Alter und Schwere des Stoffes durchaus gelacht werden darf.

Die Handlung rund um Medusa, ihre verhängnisvolle Begegnung mit Poseidon und Athene und die Gemeinschaft mit ihren beiden Schwestern steht im Zentrum des Romans. Vor allem die Beziehung zwischen den drei Gorgonen geht dabei sehr zu Herzen. Euryale und Stheno sehen sich denselben Problemen und Ängsten gegenüber, wie menschliche Eltern. Jeden Schritt und jede Veränderung an Medusa beäugen sie kritisch und fragen sich, ob sie als Mütter eigentlich gut genug sind. Witzig hingegen ist die Interaktion zwischen dem doch sehr hilflosen Perseus auf der einen und Athene und Hermes auf der anderen Seite, die ihm als einem der vielen Söhne des Zeus göttlichen Beistand leisten sollen.

Der ständige Perspektivwechsel, der die Geschichte einerseits sehr spannend und dynamisch macht, führt andererseits dazu, dass wir einen großen Teil des Buches nicht mit der Protagonistin verbringen. Ich verstehe, dass die Autorin hier die Zusammenhänge aufzeigen wollte, hätte aber gerne noch mehr von Medusa und ihrem Schicksal gelesen.

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Veröffentlicht am 05.02.2023

Eine wichtige Sammlung

Global Female Future
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1982 – ein turbulentes Jahr mit dem Krieg um die Falklandinseln, dem Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt und Massenprotesten für die atomare Abrüstung. An vorderster Front bei all diesen Protesten: Frauen. ...

1982 – ein turbulentes Jahr mit dem Krieg um die Falklandinseln, dem Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt und Massenprotesten für die atomare Abrüstung. An vorderster Front bei all diesen Protesten: Frauen. Mitten in dieser Umbruchstimmung gründen einige Aktivistinnen in Wien die Frauen*solidarität (damals noch ohne Sternchen), eine feministische Organisation mit gleichnamigen Magazin, welche zunächst auf die Frauenfeindlichkeit in der Entwicklungshilfe hinweisen soll.

Zu deren 40-jährigem Bestehen erschien nun der vorliegende Band „Global Female Future“, herausgegeben von zwei der Gründerinnen – Andrea Ernst und Gerda Neyer – zusammen mit Ulrike Lunacek, Rosa Zechner und Andreea Zelinka. Er umfasst sechs große Themengebiete: (Anti-)Rassismus und Postkolonialismus, Gewalt, Reproduktion, Politik, Arbeit sowie Umwelt und Klima, deren Grenzen jedoch fließend sind.

Die Sammlung besteht aus diversen Beitragsformen; es finden sich Artikel, Interviews, Gedichte, Liedtexte, Prosa und vieles mehr darin. Infokästen ergänzen das Gelesene und bieten zu bestimmten Themen einen tieferen Einblick. Es wird sowohl auf erfolgreiche feministische Aktionen und Projekte aus den unterschiedlichsten Ländern und Kontinenten zurückgeblickt, als auch in die Zukunft. So entsteht ein breiter Einblick, der aber nicht thematisch zusammenhängend oder logisch aufeinander aufbauend ist. Es wird zum Nachdenken angeregt, aber vieles muss sicherlich noch durch eigene Lektüre vertieft werden.

„Global Female Future“ spricht viele aktuelle Themen an, zum Beispiel anti-asiatischen Rassismus, Postkolonialismus oder Care-Arbeit. Dabei wird durchaus Bekanntes aufgegriffen, wie die Ethik von Leihmutterschaften oder den Einsatz ausländischer Kräfte in der häuslichen Pflege. Andere Themen, etwa das der Zwangssterilisationen in den 90er Jahren in Peru oder die Herausforderungen, die weibliche Guerrillas in Lateinamerika bei der Rückkehr in ein „normales Leben“ bewältigen müssen, waren mir vorher unbekannt.

Eine wichtige Sammlung.

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