Ekel, Scham, Angst & Stolz
Man kann Müttern nicht trauenAls pragmatische, kinderlose Mittdreißigerin hätte ich mir das Buch aufgrund des Klappentextes wohl nicht ausgesucht. Ich mag jedoch Abwechslung beim Lesen und habe mich bewusst auf meine erste Monografie ...
Als pragmatische, kinderlose Mittdreißigerin hätte ich mir das Buch aufgrund des Klappentextes wohl nicht ausgesucht. Ich mag jedoch Abwechslung beim Lesen und habe mich bewusst auf meine erste Monografie eingelassen. Diese Romanform definiert sich als eine umfassende, in sich vollständige Abhandlung eines bestimmten Themas, Problems bzw. einer Person. Im Nachhinein würde ich den Debütroman von Andrea Roedig als eine Art Retrospektive einordnen, einen Versuch zu verstehen...
Der Einstieg in die Geschichte ist mir nicht leicht gefallen. Trotz des emotionalen Auftaktkapitels hatte ich Schwierigkeiten mit dem Stil von Andrea Roedig. In überwiegend chronologischen Episoden werden die Lebenswege fremder Frauen nachgezeichnet: von Oma Gertrud, Mutter Lilo bis hin zur Autorin selbst. Die distanzierten Verhältnisse spiegeln sich auch sprachlich wider: es braucht etwas Zeit sich an die Erzählperspektive zu gewöhnen. Zitate aus Tagebüchern beeinträchtigen den Lesefluss ebenso wie gezielte häufige Wortwiederholungen. Durch längere Aufzählungen und Schachtelsätze mit vielen Einschüben wirkt der Text abgehackt. Hier ein Beispiel: „In den einzeilig auf Rechenpapier beschriebenen Zeilen meines Tagebuchs, in den unendlichen Fluten der Buchstaben, ganz am Ende eines langen Eintrags, in dem ich mich darüber auslasse, wie eingefangen ich mich fühle und dass ich so sehr hoffe, mit der Freundin Simone zum Düsseldorfer Rosenmontagszug gehen zu können, wenn sie doch nur anriefe, steht dieser Satz: »Gestern sagte Oma mir, dass Mami angerufen hatte.«
In einem Interview fasst die Autorin ihr Werk treffend zusammen: "Das Buch erzählt in autofiktionaler Weise die Geschichte meiner Mutter, die die Familie verließ, als ich 12 Jahre alt war. Es ist eine persönliche Auseinandersetzung mit der Frage, wer diese Frau war, die mir zeitlebens fremd geblieben ist, und zugleich erzählt das Buch über ein Frauenleben in den 60er- und 70er-Jahren, über Wünsche, Hoffnungen und Befreiungsversuche."
Ich habe mich letztendlich für eine neutrale Bewertung mit drei Sternen entschieden. Es fällt mir schwer ein solch persönliches Werk zu beurteilen, zumal die Handlung überwiegend einseitig geschildert wird. Teilweise fließen Vermutungen in die Verhaltensanalyse ein. In wie weit erfolgt eine Differenzierung von Selbst- & Fremdwahrnehmung der ambivalenten familiären Beziehungen? Entscheiden Sie selbst!