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Veröffentlicht am 13.06.2023

Lesenswerte Kurzgeschichten von Nord- und Ostsee...

Auf Tiefe
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Um es gleich vorneweg zu sagen: ich bin eigentlich kein Fan von Kurzgeschichten (bin ich einmal drin, bin ich auch schon wieder draußen...), aber ich hatte bereits einige Krimis des Autors H. Dieter Neumann ...

Um es gleich vorneweg zu sagen: ich bin eigentlich kein Fan von Kurzgeschichten (bin ich einmal drin, bin ich auch schon wieder draußen...), aber ich hatte bereits einige Krimis des Autors H. Dieter Neumann gelesen (empfehlenswert!) und wollte mich deshalb auf dieses „Wagnis“ einlassen. Hinzu kam, dass ich in Hamburg lebe, einige Jahre in Schleswig-Holstein zur Schule gegangen bin, mir ist also die Umgebung durchaus bekannt, so minimierte sich mein „Abenteuer“ Kurzgeschichte... Und dieses „exotische Experiment“ hat sich vollkommen gelohnt – ich will damit nicht ausdrücken, dass jetzt Kurzgeschichten zu meinem bevorzugten Genre gehören, aber Kurzgeschichten von H. Dieter Neumann: jederzeit und immer wieder gern!
Es sind acht Erzählungen, sie umfassen die Zeit vom Untergang der sagenumwobenen Insel Rungholt bis in die Gegenwart. Sie sind nicht lang – und meine Idee, jeden Tag nur eine zu lesen, hat sich für mich als goldrichtig erwiesen, so hatte ich Zeit, mich mit diesem Blickwinkel auseinanderzusetzen. Denn genau das fand ich nötig: die Geschichten haben Tiefe, eine Schärfe, eine Präzision des geschriebenen Wortes, des Ausdrucks, dass sie alle noch länger nachhallen.
Ich werde hier nicht einzeln auf die verschiedenen Geschichten eingehen, denn ich denke, bei Kurzgeschichten ist die Spoiler-Gefahr noch größer als bei Romanen. Es sind keineswegs „Wohlfühl-Geschichten“, einige empfand ich als wirklich traurig. Bei einer erschreckte mich die Perspektivlosigkeit (die wir allerdings genau so oder ähnlich fast täglich in unseren Nachrichtensendungen hören, aber hier waren es eben keine anonymen Menschen, sondern Menschen mit Namen und Vergangenheit), bei einer habe ich mit-gezittert und mit gebibbert (im wahrsten Sinne des Wortes) ... Aber alle habe sie eines gemeinsam: sie lassen eine Botschaft dahinter erkennen, mit der wir LeserInnen uns auseinandersetzen können (wenn wir wollen!) ... Sogar die einzige humorvolle Geschichte hat mich einen Moment innehalten lassen!
Fasziniert hat mich auch meine Erkenntnis, dass bei Kurzgeschichten jedes Wort, jedes Verb, jedes Adjektiv punktgenau und exakt sitzen muss, in Romanen hat der Autor /die Autorin viel mehr Zeilen zur Verfügung, um z.B. Gefühle auszudrücken.
Ich vermute, das Buch heißt nicht ohne Grund „Auf Tiefe“, es sind zwar „See- und Küstengeschichten“ (Untertitel), aber die Geschichten gehen im positiven Sinn sehr „tief“ - zumindest ist es mir so ergangen... Mich haben sie jedenfalls alle sehr berührt und beeindruckt – ich war schon etwas traurig, als ich sie beendet hatte. Ich glaube, es wird ein Buch werden, was ich immer wieder mal hervorholen werde, um die eine oder andere Geschichte noch einmal zu lesen.
Deshalb: ein absolutes Lesevergnügen (auch – oder gerade – für mich als Kurzgeschichten-Muffel), was ich hier sehr gern und wärmstens weiterempfehlen möchte!

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Veröffentlicht am 30.04.2023

Von Blackouts, Filmrissen und anderen Erinnerungslücken...

Blutnarbe
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„Blutnarbe“ war mein dritter Krimi (Reihenfolge: „Totwasser“, „Nebeljagd“) von Julia Hofelich - und hat mich mal wieder in eine angenehme, wohl dosierte Spannung versetzt... Ich glaube, die Bücher müssen ...

„Blutnarbe“ war mein dritter Krimi (Reihenfolge: „Totwasser“, „Nebeljagd“) von Julia Hofelich - und hat mich mal wieder in eine angenehme, wohl dosierte Spannung versetzt... Ich glaube, die Bücher müssen nicht in Chronologie gelesen werden, da es in sich abgeschlossene Fälle sind – wobei diesmal die Rechtsanwältin Dr. Linn Geller in „eigener Sache“ tätig werden muss.
Wir wussten schon aus den vorhergehenden Bänden, dass Linn vor einigen Jahren durch einen schweren Autounfall ihre bisherigen Lebensträume und -ziele abrupt aufgeben musste (Arbeit in einer Großkanzlei mit internationalen Klienten, hohes Einkommen, hoher Lebensstandard), um mit ihrem Kollegen Götz Nowak mühsam eine kleine „Feld-, Wald- und Wiesen“-Kanzlei aufzubauen, es läuft gerade so einigermaßen... Aber jetzt bricht alles erneut auf, als die mutmaßliche Unfallverursacherin Betty Schneider nach fünf Jahren aus der Haft entlassen wird und bei Linn anruft, um über eine Reduzierung des Schmerzensgeldes zu verhandeln, weil ihr „noch etwas eingefallen“ sei. Am nächsten Tag wird Betty Schneider tot aufgefunden und Linn gerät selbst in Verdacht, sie aus Rache ermordet zu haben...und wir Leser wissen: es sieht wirklich nicht gut für Linn aus...
Aber mehr soll hier von der Krimihandlung nicht verraten werden... Julia Hofelich führt uns gekonnt flott durch die Handlung, navigiert uns auf falsche Spuren, dirigiert uns in Sackgassen. Manchmal war mir Linn etwas zu verbissen und verbiestert in ihre Annahmen und Beweisketten, aber ich da will ich nicht urteilen: ich war noch nie unter Mordverdacht und hatte meine Unschuld zu beweisen... Natürlich stand ich trotzdem fest an Linns Seite und hatte letztendlich jeden in ihrer Umgebung mindestens einmal kurz in Verdacht gehabt, für Linns Unfall und diesen Mordverdacht verantwortlich zu sein... Oder hat Linn doch tatsächlich Betty Schneider ermordet oder hatten die beiden Fälle vielleicht gar nichts miteinander zu tun???
Aber die Autorin schafft es hervorragend, diese (meine) verschiedenen Irrwege immer wieder aufzufangen und mich langsam zu dem fulminanten Show-Down zu führen, bei dem ich nur denken konnte: „ach ja, so war es also“, logisch, begründet, nachvollziehbar – so dass ich das Buch äußerst befriedigt zuklappen konnte.
Aber vorher hatte aber Frau Dr. Linn Geller noch eine wichtige Entscheidung zu treffen (ich gebe zu, ich habe etwas mit ihr gehadert) – sie hat aber die in meinen Augen die richtige Lösung gefunden... und so hoffe ich auf viele weitere Linn-Geller-Thriller
Ich kann hier ganz ruhig eine absolute Leseempfehlung aussprechen, ein Krimi genau nach meinem Geschmack!

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Veröffentlicht am 16.04.2023

Als die Bahnhofsmission noch in den Kinderschuhen steckte...

Die Bahnhofsmission
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„Aller Tage Hoffnung – Die Bahnhofsmission“ war mein erster Roman von Veronika Rusch – aber garantiert nicht mein letzter! Ich habe das Buch förmlich inhaliert, es war spannend bis zur allerletzten Seite...
Die ...

„Aller Tage Hoffnung – Die Bahnhofsmission“ war mein erster Roman von Veronika Rusch – aber garantiert nicht mein letzter! Ich habe das Buch förmlich inhaliert, es war spannend bis zur allerletzten Seite...
Die Autorin nimmt uns gekonnt mit in das quirlige Leben in Berlin 1908. Am Schlesischen Bahnhof ist die erste Bahnhofsmission eingerichtet worden, „um Frauen Schutz und Hilfe zu bieten, die im Zuge der Industrialisierung in die Städte zogen. Die Frauen suchten nach Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt als Arbeiterinnen (…) oder in Anstellungen als Dienstmädchen zu verdienen. Dabei gerieten viele Mädchen und junge Frauen an unseriöse Vermittler mit zweifelhaften Absichten, die ihnen Unterstützung zusicherten, was aber nicht selten in Ausbeutung und / oder Prostitution endete.“ (Wikipedia)
Genau diese „trockene“ Wikipedia-Erklärung füllt Frau Rusch mit „prallem Leben“, sie lässt uns tief eintauchen in das damalige Zeit- und Lokalkolorit, ihre Figuren sind ausgesprochen authentisch geschildert, ihre Handlungsweisen nachvollziehbar (manchmal nicht sofort, aber im Laufe des Romans...). Ich fühlte mich teilweise mitten auf den Bahnhof „gebeamt“.
Zur Geschichte: Pastor Burkhardt (lt. Wikipedia der tatsächliche Initiator der Bahnhofsmission) hat die Bahnhofsmission ins Leben gerufen und deren Leitung Natalie anvertraut, sie hat in ihrem Leben schon diverse tiefe Täler durchschritten, aber das prädestiniert sie, auf die Hilfesuchenden empathisch zuzugehen und alle respektvoll zu behandeln. Alice, eine junge Frau aus „gutem Haus“ (der Vater ist Chefarzt in der Charité, sie ist quasi mit dem „goldenen Löffel“ im Mund geboren) beobachtet durch einen Zufall eine Szene am Schlesischen Bahnhof und wird so auf die Arbeit der Bahnhofsmission aufmerksam. Alice hat einen Traum: sie möchte gern einen Beruf erlernen und ihr Leben selbstbestimmt gestalten – natürlich und selbstverständlich vollkommen undenkbar in den gesellschaftlichen Kreisen ihrer Eltern. So wird sie heimlich eine der ehrenamtlichen Helferinnen der Bahnhofsmission, lernt die Arbeit kennen und kommt durch ihren Pragmatismus schnell in Kontakt zu den Kolleginnen und Hilfesuchenden.
Die beiden (sehr sympathischen) Hauptfiguren lernen wir mit ihrem Denken, Handeln, Gefühlen, Ängsten, Freuden gut kennen, aber auch viele NebendarstellerInnen erleben wir durch die Beschreibungen der Autorin intensiv, z.B. nehmen wir an dem Schicksal von Baba, einer Obdachlosen, die auf dem Bahnhofsgelände in einer verfallenen Hütte „haust“, intensiv Anteil oder sind beeindruckt von der Lebensgeschichte der „Gräfin“, eine der ehrenamtlichen Helferinnen der Bahnhofsmission.
Als Gerda, eine junge Frau aus der Provinz, aus der Obhut der Bahnhofsmission spurlos verschwindet, gerät der Roman immer stärker zum spannenden Krimi, den ich fast nicht mehr aus der Hand legen konnte! Es wird immer mysteriöser und letztendlich gerät sogar die Arbeit der Bahnhofsmission in Misskredit und Verruf! Natalie nutzt ihre früheren Beziehungen in das Berliner Scheunenviertel und Alice und ihre Schwester Constanze (die mich in ihrer Entwicklung vollkommen überrascht hat) nutzen wiederum ihre Begabungen, um die Bahnhofsmission zu retten...
Ein Buch, was mich wirklich gefesselt hat – zum Glück habe ich gelesen, dass ein zweiter Teil im Februar 2024 erscheinen soll, darauf freue ich mich schon heute!
Und selbstverständlich kann ich dieses Buch nur allerwärmstens weiterempfehlen und drücke ganz fest die Daumen, dass diese Geschichte über die Arbeit der Bahnhofsmission möglichst viele LeserInnen erreicht!

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Veröffentlicht am 17.03.2023

Preußens Justitia war auf einem Auge blind...

Schloss Liebenberg. Hinter dem falschen Glanz
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„Schloss Liebenberg. Hinter dem falschen Glanz“ ist der 2. Band einer Trilogie von Hanna Caspian. Im Mittelpunkt stehen zum einen die Bediensteten von Schloss Liebenberg (real existierendes Schloss in ...

„Schloss Liebenberg. Hinter dem falschen Glanz“ ist der 2. Band einer Trilogie von Hanna Caspian. Im Mittelpunkt stehen zum einen die Bediensteten von Schloss Liebenberg (real existierendes Schloss in Brandenburg), zum anderen der Eulenburg-Harden-Skandal (Philipp Fürst zu Eulenburg ist Besitzer von Schloss Liebenberg, Maximilian Harden ist Journalist), Das Buch startet im Juni 1907.
Ich glaube, hier muss ich empfehlen, die Reihenfolge einzuhalten, da der 2. Band sehr auf den Ereignissen des vorhergehenden Jahres aufbaut, ohne die die weitere Entwicklung nur schwer zu verstehen sein könnte...
Adelheid, Hedda und Viktor arbeiten weiterhin als Dienstboten im Schloss, aber anders als im 1. Band finden sie sich zum ersten Mal zu einer gemeinsamen solidarischen Handlung gegen den despotischen, machtbesessenen und erpresserischen Haushofmeister Opitz zusammen – wobei die Wirkung für die drei nicht richtig erkennbar scheint (und deshalb auch bald wieder Vergangenheit ist). Aber Hanna Caspian schafft es scheinbar mühelos, uns LeserInnen in die damalige Zeit zu katapultieren, uns in die Sorgen und Nöte der Beschäftigten eintauchen zu lassen, so dass wir mitleiden, mitfiebern und auch - seltener – Grund zur Freude mit ihnen teilen. Wie schon im 1. Band erfahren wir alles konsequent nur aus der Sicht der Angestellten. Auch die weiteren Entwicklungen im Eulenburg-Harden-Skandal vernehmen wir nur über 3. Personen und deren Dialoge, einzig Maximilian Harden werden einige kleinere „Gastauftritte“ zugestanden…
Mich hat dieses Konzept bereits beim 1. Band fasziniert und in seinen Bann gezogen und war deshalb sehr erfreut, dass dies auch jetzt erneut eingehalten wird. Die Mischung aus Fiktion und tatsächlich realen politischen Ereignissen machen für mich einen großen Reiz dieses Buches aus.
Die Autorin zeichnet ein sehr lebendiges Bild ihrer Protagonisten, wir sind aktive BeobachterInnen, z.B. bei Adelheids erster Zugfahrt (4.Klasse von Löwenberg nach Oranienburg, eine einfache Fahrt 34 Pfennig – und man beachte: die Züge waren pünktlich!) oder ihr erstes Telefonat (sollte man mit der Dame vom Amt erst sprechen oder gleich die die gewünschte Telefonnummer mitteilen?). Hedda begleiten wir zu ihrer ersten „Versammlung des Zentralverbandes der Hausangestellten“, die sich u.a. gegen das Züchtigungsrecht von Bediensteten aussprechen. Viktor bemerkt immer stärker, dass er seinem Vater recht geben muss, „Gesetz und Richter standen auf der Seite der Reichen, der Adeligen, der Wohlbetuchten.“ (S. 126)
Was mich aber ganz besonders an diesem Buch beeindruckt hat, ist die Fähigkeit der Autorin, einen so komplizierten und vielschichtigen Eklat wie den Eulenburg-Harden-Skandal so verständlich zu schildern, dass ich ihn zumindest ansatzweise verstanden habe (Recherchen bei Wikipedia haben mich eher verwirrt, da hier anscheinend sehr viele unterschiedliche Positionen und Interessen „ihr eigenes Süppchen kochten / kochen“ wollten), alles unter dem „Deckmäntelchen“, der Liebenberger Kreis sei eine „homoerotische Tafelrunde politischer Weichlinge, die Wilhelm II (…) vom 'männlichen' Kurs Bismarcks abbringen und stattdessen zu einer dauerhaften Friedenspolitik gegenüber Großbritannien und Frankreich bewegen sollten.“ (Wikipedia) Dieser heute fast unbekannte Skandal ist laut Frau Caspian „deshalb so wichtig, weil diese Hexenjagd, diese Schmutzkampagne, letztendlich eine maßgebliche Stellschraube für die unheilvolle Entwicklung der deutschen Geschichte war.“ (S. 413, Nachwort) Eine Zusammenfassung der verschiedenen Prozesse ergänzen dieses, so dass man den „Überblick“ behält…. Und deshalb gilt der Autorin mein besonderer Dank: perfekt recherchiert, aber mehr noch: uns LeserInnen nachvollziehbar in einer spannenden Handlung und Dialogen perfekt angerichtet – Chapeau, Frau Caspian!
Ich bin jetzt natürlich sehr neugierig auf den 3. und letzten Teil der Trilogie, der hoffentlich für geschichtsinteressierte LeserInnen wieder ein „Leckerbissen“ sein wird!

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Veröffentlicht am 16.02.2023

Sophie, Hauke und ich im historischen Hamburg...

Der Henker von Hamburg
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Lang erwartet und endlich erschienen: Anja Marschalls 5. Band der Krimireihe um Hauke Sötje und seine Frau Sophie „Der Henker von Hamburg“. Gleich vornweg: man kann jedes Buch der Reihe einzeln lesen, ...

Lang erwartet und endlich erschienen: Anja Marschalls 5. Band der Krimireihe um Hauke Sötje und seine Frau Sophie „Der Henker von Hamburg“. Gleich vornweg: man kann jedes Buch der Reihe einzeln lesen, es sind in sich abgeschlossene Fälle. Aber ich persönlich nehme regen Anteil am Privatleben der Familie Sötje – vom Kennenlernen der beiden bis jetzt als Eltern der bald 2-jährigen Henriette – und da hilft natürlich die Reihenfolge!
Hamburg 1899: Sophie und Hauke sind im bürgerlichen und etablierten Leben der Hansestadt angekommen, sie haben eine große Wohnung, ein Kindermädchen und eine Köchin. Aber Sophie fühlt sich als Hausfrau und Mutter unterfordert, ihr fehlen die geistigen Anregungen, die Gespräche mit Hauke über seine Fälle, zu deren Lösung sie häufig beigetragen hat, während Hauke sie zur Zeit nur beschützen möchte. Sophie fühlt sich durch die herrschenden Konventionen eingeengt, „die Karriere ihres Mannes durch repräsentative Einrichtung“ zu fördern, kann doch nicht alles sein? So ist sie anfangs glücklich, dass die berühmte Opernsängerin Carlotta Francini sie als Vertraute wählt und viel Zeit mit ihr verbringen möchte – was wiederum Sophie in Gewissenskonflikte bringt, ob sie nicht Henriette dadurch vernachlässigt – und es deshalb vorsichtshalber Hauke nicht / zu wenig erzählt... Allerdings fallen Sophie (und uns LeserInnen) bald einige Ungereimtheiten in den Geschichten der Frau Francini auf...
Hauke hat drei Morde innerhalb kurzer Zeit aufzuklären, die anscheinend in irgendeiner Form zusammenhängen, aber wie und warum? Da einer der Ermordeten erhängt worden ist, bittet Hauke den preußischen Scharfrichter Friedrich Reindel um eine Expertise. „Mit seinem Zylinder auf dem Kopf, dem schwarzen Gehrock und dem Spazierstock, auf den er sich stützen musste, wirkte er fast wie ein vornehmer Herr aus dem Senat. Niemand, der ihm begegnete, ahnte, dass ein Henker das Haus am Neuen Wall besuchte.“ (S.168). Herr Reindel entpuppt sich als Mann mit hohem Berufsethos: “Wenn Sie mich fragen, spielte jemand Henker, der vielleicht ein wenig Wissen um das Handwerk besitzt, aber weder das Talent noch das Können. Ein Pfuscher.“ (S. 170)
Die Autorin beschreibt abwechselnd die Gefühle und Gedanken von Sophie und Hauke – und da beide miteinander „schmollen“ und sich nicht austauschen, sind wir Leser*innen klar im Vorteil – wir wissen einfach mehr...
Während sich Hauke mit Kriminalassistent Schröder (sympathisch, pfiffig) austauschen kann, steht Sophie mit ihren Gedanken allein da, denn „es war unschicklich, mortale Dinge dieser Art unter Frauen zu diskutieren.“ (S. 180)
Zum Inhalt will ich jetzt hier nichts weiter verraten, aber es bleibt bis zum Schluss hochspannend, denn mit einem dramatischen Show-Down erfahren wir die wahre Identität des Mörders – mit dem ich keineswegs gerechnet hatte...
Und wieder hat mich Frau Marschalls Schreibstil vollständig in seinen Bann gezogen, sie beschreibt Personen, Situationen, Umgebungen so bildhaft und anschaulich, dass ich immer das Gefühl hatte, ich sei Teil des Szenarios, so als hätte ich das Gästezimmer der Sötjes (sie haben bestimmt eines!) bezogen und würde sie auf ihren Wegen begleiten... Der Zeitkolorit wird wieder (wie in allen historischen Romanen der Autorin) vertieft durch kleine Zeitungsinserate / -artikel aus dem Jahr 1899, die den einzelnen Kapiteln vorangestellt sind. Und mich haben als Hamburgerin natürlich die detaillierten Ortsbeschreibungen fasziniert oder z.B. der Bau des Dammtor-Bahnhofes!
Wieder einmal ein wunderbarer und spannender historischer Krimi, der leider nur einen Nachteil hatte: er war viel zu schnell durchgelesen! Und klar: ich kann ihn jedem nur weiterempfehlen und möchte Anja Marschall zurufen: Bitte weiter so!

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