Vielleicht ist das Krieg: wenn man nichts versteht.
Kleines LandDer Rapper und Autor Gaël Faye schreibt in seinem ersten Roman über die eigene Kindheit und beginnende Jugend in Burundi, einem kleinen Nachbarstaat von Ruanda, auf den sich der Konflikt und später Völkermord ...
Der Rapper und Autor Gaël Faye schreibt in seinem ersten Roman über die eigene Kindheit und beginnende Jugend in Burundi, einem kleinen Nachbarstaat von Ruanda, auf den sich der Konflikt und später Völkermord zwischen Hutu und Tutsi ebenso katastrophal auswirkte, wie auf den bekannteren Nachbarn Ruanda.
Wir begleiten den Ich-Erzähler Gabriel, kurz Gaby, der das Alter Ego von Gaël Faye darstellt, in seine Kindheit, die zunächst von sehr alltäglichen Beobachtungen geprägt ist. Seine Mutter ist als Tutsi vor vielen Jahren mit ihrer Familie aus Ruanda geflohen, der Vater ist Franzose, der als weltoffener junger Hippie in das kleine afrikanische Land Burundi reiste, sich in Gabys zukünftige Mutter verliebte und blieb. Schritt für Schritt drängt sich in den unbeschwerten Alltag des Jungen der Konflikt zwischen den Bevölkerungsgruppen, immer stärker radikalisieren sich Personen im sozialen Umfeld Gabys. Mit unserem heutigen Wissen sehen wir die politisch-gesellschaftliche Katastrophe herannahen und müssen miterleben wie Gaby und seine Familie davon überrollt wird, bis er dann zusammen mit der Schwester ins französische „Mutterland“ ausgeflogen wird.
Äußerst eindrücklich erzählt Faye in seinem autobiografisch inspirierten Roman wie eine unbeschwerte Kindheit mit der Weltpolitik kippen kann und Kinder durch äußere Einwirkungen viel zu schnell erwachsen werden müssen, um in der gewalttätigen Welt um sich herum überleben zu können. Sprachlich ist der Roman jedoch mitunter eine Hängepartie. So gibt der Autor dem Jungen zu Beginn eine sehr naiv-kindliche Sprache, obwohl durch ein einleitendes Kapitel klar wird, dass der Ich-Erzähler als Mitte 30jähriger Mann auf sein Leben zurückblickt. Die Ausdrucksformen erscheinen dadurch zunächst nicht konsistent. So sind die Schilderungen aus der Ich-Perspektive heraus so kindlich, Gespräche zwischen den Erwachsenen mit politischem Inhalt werden jedoch haargenau in eloquenter, informierter Erwachsenensprache wiedergegeben. Das stößt stilistisch beim Lesen auf, erscheint es doch so, dass Faye die Gespräche zwischen den Erwachsenen eher ungeschickt einbaut, um die Lesenden davon in Kenntnis zu setzen, worum sich der Konflikt damals drehte. Auch haben die Erwachsenen sehr viel Wissen, was zu diesem Zeitpunkt politisch hinter den Kulissen geschieht und sehen in ihren Gesprächen politische Entscheidungen und Abläufe voraus, die wir zwar aus der heutigen Sicht kennen, aber sehr wahrscheinlich nicht den Menschen im Land vor der Eskalation bekannt waren. Es wird der Eindruck vermittelt, die Menschen hätten bereits zwei Jahre vor dem Völkermord genau gewusst, dass Frankreich indirekt Partei ergreifen wird, dass die Blauhelme mit Beginn eines bewaffneten Konflikts abgezogen und nicht eingreifen werden, dass ausländische Regierungen ihre Mitarbeiter abziehen werden und dass der Großteil der Tutsi von den Hutu flächendeckend abgeschlachtet werden wird. Hier hat sich Faye scheinbar dazu hinreißen lassen, seine Protagonist:innen mehr wissen zu lassen, als sie hätten wissen können. Aber vielleicht irre ich mich und für die Bevölkerung war ihr Schicksal damals tatsächlich so genau vorhersehbar. Um auf die Sprache zurückzukommen, so ist noch anzumerken, dass trotz der zunächst sehr kindlichen Wortwahl Gabys, er in Briefen an seine französische Brieffreundin übermäßig eloquent und poetisch schreiben kann. Das verwirrt und schafft eine noch größere Kluft zwischen den erzählten Passagen. Im Verlauf des Buches wird dann auch die Wortwahl Gabys reifer, was sicherlich seiner vorgezogenen Reifung durch die konfliktreiche Lage des Landes entsprechen soll. Dass er dann wiederum als 11Jähriger recht knifflige psychologische Überlegungen anstellt, wirkt schon wieder too much. Es hätte demnach schlüssiger gewirkt, wenn sich Faye dazu entschieden hätte, durchgängig die Erinnerungen als Erzählung eines erwachsenen Gabys anzulegen. Auch erscheint die Übersetzung von Brigitte Große und Andrea Alvermann in der ersten Hälfte des Romans noch ein wenig holprig. Idiome aus dem französischen Sprachraum werden mitunter direkt Wort für Wort ins Deutsche übersetzt und wirken dadurch störend.
Nichtsdestotrotz habe ich mit großer Sympathie die Geschichte von Gaby/Gaël verfolgt und wurde gerade in der zweiten Hälfte des Romans tief berührt und dadurch auf stark erschüttert durch die Beschreibung der Gräueltaten der Hutu an den Tutsi (und auch umgekehrt aus Rachegefühlen heraus, etwas, was Faye nicht unter den Teppich kehrt). Vieles erklärt Faye mithilfe der Worte Gabys, vieles kann aber auch nicht erklärt werden.
So sagt Gaby an einer Stelle: „Ich hatte keine Antwort auf die Frage meiner kleinen Schwester. Ich hatte keine Erklärung für den Tod der einen und den Hass der anderen. Vielleicht ist das Krieg: wenn man nichts versteht.“
Ein eindrucksvolles Buch, welches ich trotz sprachlicher Schwächen definitiv für eine Lektüre empfehlen kann, um sich durch einen hautnahen, zutiefst menschlichen Einblick in den verheerenden Konflikt zwischen Hutu und Tutsi und dem daraus hervorgegangenem Völkermord anzunähern.
4/5 Sterne