Jenseits vom Lindgren-Idyll
Die ÜberlebendenWenn die Eltern sterben, beginnt womöglich ein erstes tiefes Betrachten der eigenen Kindheit. Erinnerungen sind aber immer gefärbt, weil wir sie im Jetzt abrufen, mit der Sicht auf eine Zeit, die Jahrzehnte ...
Wenn die Eltern sterben, beginnt womöglich ein erstes tiefes Betrachten der eigenen Kindheit. Erinnerungen sind aber immer gefärbt, weil wir sie im Jetzt abrufen, mit der Sicht auf eine Zeit, die Jahrzehnte zurückliegt.
Nachdem Vater ist nun auch die Mutter der drei Brüder Nils, Benjamin und Pierre gestorben. Gemeinsam wollen sie den letzten Wunsch der Mutter erfüllen und ihre Asche im See verstreuen, an dessen Ufer das Ferienhaus der Familie liegt. Hier haben sie ihre Sommer verbracht, mit angeln, schwimmen, faulenzen und Spaziergängen im Wald. Hier waren sie glücklich und hielten zusammen, hier waren sie aber auch traurig und unglücklich und haben trotzdem überlebt.
Geschickt läßt der Autor Schulmann die Geschichte rückwärtslaufen. Die 24 Stunden des Tages, an dem die Männer zum Sommerhaus zurückkehren, beginnt eine Minuten vor Mittnacht und wird dann in Kapiteln erzählt, die jeweils zwei Stunden zuvor gespielt haben. Darüber hinaus immer im Wechsel mit einem Kapitel aus der Kindheit. So erschließt sich langsam das Bild einer Familie, die wir so nicht erwartet haben. Eltern, die sich nur selten für die Kinder interessieren und ihre Aufmerksamkeit und Zuneigung punktuell und ohne erkennbares Schema verteilen, oft unberechenbar agieren. Die Brüder, die sich gegenseitig stützen müssten, dies aber nicht immer schaffen und jeder für sich einen Fluchtweg aus diesem Drama sucht.
Der Roman ist voller Kummer und doch auch kleiner Glücksmomente. Gelegentlich scheint durch, wie es hätte sein können, wie man es sich für die Kinder gewünscht hätte. Mit der Reise zurück in die Kindheit am See versucht vor allem Benjamin, das mittlere Kind, die Vergangenheit und die Beziehung zu den Eltern zu verarbeiten. Er, der immer versucht hat, den Überblick zu behalten, über Geschwister und Eltern, schleppt seit Jahrzehnten eine unglaubliche Last mit sich herum.
Ein sehr eindringlicher Roman, der mich wahnsinnig traurig gemacht hat. Eine große Leseempfehlung völlig jenseits vom Lindgren-Idyll.