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Veröffentlicht am 29.03.2023

Erschreckend realistische Dystopie

Institut für gute Mütter
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Nur 2 Stunden hat Frida ihre Tochter Harriet allein gelassen, doch die Nachbarn melden sie der Kinderschutzbehörde. Harriet wird ihr entzogen, lebt von nun an beim Vater und seiner neuen Frau und Frida ...

Nur 2 Stunden hat Frida ihre Tochter Harriet allein gelassen, doch die Nachbarn melden sie der Kinderschutzbehörde. Harriet wird ihr entzogen, lebt von nun an beim Vater und seiner neuen Frau und Frida wird verurteilt. Nur, wenn sie sich bereit erklärt, an einem 1-jährigen Trainingsprogramm teilzunehmen, bekommt sie möglicherweise ihr Kind zurück. Und so zieht sie mit anderen Frauen in ein altes College, wo Demütigungen und Schuldzuweisungen von nun an ihre täglichen Begleiter sein sollen.

„Institut für gute Mütter“ ist der Debütroman der Autorin Jessamine Chan und wurde von Friederike Hofert aus dem Englischen übersetzt. Erzählt wird, zumeist chronologisch, aus der Sicht der Protagonistin Frida in der dritten Person und der Gegenwartsform. Hin und wieder springt die Handlung aber auch in die Vergangenheit zurück und beleuchtet wichtige Wendepunkte in Fridas Leben. Wo wäre sie heute ohne die Scheidung? Wäre sie eine bessere Mutter geworden, wenn ihre eigene etwas mehr Zuneigung zu ihr gezeigt hätte? Hätte sie bessere Chancen, wenn sie nicht die Tochter chinesischer Einwanderer wäre?

Obwohl es sich um eine Dystopie handelt, erscheint alles sehr realitätsnah und im Bereich des Möglichen. Im Trainingszentrum entwickeln sich zwischen den Frauen schnell Allianzen, aber auch Feindschaften. Manche haben sich nur Kleinigkeiten zu schulden kommen lassen, andere ihre Kinder misshandelt und eingesperrt. So oder so ist der Umgang mit den Frauen erschreckend, sie sollen umerzogen werden, wie Maschinen funktionieren und sich mit Sätzen wie „Ich bin eine schlechte Mutter, aber ich lerne, eine gute zu sein“ selbst erniedrigen.

Bleibt der Erfolg aus, werden die Frauen bestraft – was umso wütender macht, wenn wir im erfahren, wie vergleichsweise locker es im Camp für die Väter zugeht. Geübt wird stets an erschreckend echt wirkenden Roboterkindern, die im Aussehen und Alter dem eigenen Kind gleichen. Sie können Schmerzen fühlen und echte Emotionen empfinden – eine Tatsache, die noch eine neue thematische Dimension hinzufügen: Dürfen wir so mit Maschinen umgehen, nur weil sie nicht, wie wir, menschlich sind?

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Veröffentlicht am 06.03.2023

Mehr als nur ein Roman über Videospiele

Morgen, morgen und wieder morgen
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Mitte der 90er an der Ostküste der USA. Durch Zufall trifft Harvard-Student Sam seine Kindheitsfreundin Sadie auf der Straße wieder. Die beiden hatten sich in einem Krankenhaus kennengelernt, wo Sam gerade ...

Mitte der 90er an der Ostküste der USA. Durch Zufall trifft Harvard-Student Sam seine Kindheitsfreundin Sadie auf der Straße wieder. Die beiden hatten sich in einem Krankenhaus kennengelernt, wo Sam gerade behandelt wurde und Sadie ihre Schwester Alice besuchte. Inzwischen studiert die junge Frau am MIT und bastelt an ihrem ersten eigenen Videospiel. Gemeinsam mit Marx, Sams bestem Freund wagen die drei den Sprung ins kalte Wasser, gründen ihre eigene Firma und entwickeln ihr erstes Spiel „Ichigo“.

„Morgen, morgen und wieder morgen“ ist bereits der 9. Roman von Gabrielle Zevin, für den sogar eine Verfilmung in Hollywood geplant ist. Die Handlung wird sowohl aus Sadies als auch Sams Perspektive in der 3. Person und der Vergangenheitsform erzählt. Die Autorin geht dabei immer ausführlich auf das Innenleben der beiden ein – sie selbst schaffen es jedoch nicht, diese Gefühle und Gedanken offen miteinander zu teilen. Schon bald vergiften Missverständnisse die Beziehung zwischen ihnen und auch der berufliche Erfolg hinterlässt Spuren. So hat man als Leser/-in ständig das beklemmende Gefühl, auf eine große Katastrophe zuzusteuern.

Vordergründig geht es im Roman um die Tücken der Spieleindustrie, vor allem für Frauen, und die komplizierte Freundschaft zwischen Sadie und Sam. Im Verlauf werden jedoch immer mehr Themen sichtbar und machen deutlich, dass es sich hier um mehr handelt, als eine Geschichte über Videospiele. Sam hat koreanische Wurzeln und fühlt sich oft als Außenseiter. Zudem hat er seiner Kindheit ein kaputtes Bein, weigert sich aber standhaft, sich als behindert anzusehen. Sadie hingegen hatte sehr unter der Krankheit ihrer Schwester zu leiden und lässt sich in der Gegenwart auf eine toxische Beziehung ein. Dazwischen steht der treue Marx, der als einziger keine Spiele programmieren kann und eigentlich Theaterschauspieler werden wollte.

Für Leser*innen wie mich, die in den 90ern aufgewachsen sind, ist dieses Buch eine wahre Fundgrube an Erinnerungen, zum Beispiel an „Das magische Auge“ oder Spiele wie „Super Mario Brothers“ oder „Frogger“. Seine Botschaft geht jedoch weit über Nostalgie hinaus.

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Veröffentlicht am 02.03.2023

Emotionale Reise

Atlas unserer spektakulären Körper
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Lia ist glücklich verheiratet, hat eine Tochter im Teenageralter und illustriert ihre eigenen Kinderbücher. Mit ihrer entfremdeten Mutter nähert sie sich gerade wieder an und auch die Schatten der Vergangenheit ...

Lia ist glücklich verheiratet, hat eine Tochter im Teenageralter und illustriert ihre eigenen Kinderbücher. Mit ihrer entfremdeten Mutter nähert sie sich gerade wieder an und auch die Schatten der Vergangenheit hat sie hinter sich gelassen. Alles könnte also perfekt sein, wenn da nicht dieses seltsame Wesen in ihrem Körper wäre…

Maddie Mortimers erster Roman „Atlas unserer spektakulären Körper“ nimmt Bezug auf ihr eigenes Leben und bezeichnet das Buch als eine Elegie auf ihre Mutter und die Beziehung zueinander. Emotional erzählt sie die Geschichte von Lia und dem Anfang vom Ende ihres Lebens. Dabei verwendet die Autorin im Text den Flattersatz, so dass alles wie ein einziges lange Gedicht wirkt. Besonders sind aber vor allem die Kapitel, in denen aus Lias Innerem erzählt wird. Ein Wesen bewegt sich dort durch die Körperteile und Gewebeschichten und hat sogar eigene Spitznamen für Menschen und Dinge aus ihrem Leben entwickelt – so etwas habe ich zuvor noch nie gelesen!

Im Handlungsstrang, der sich außerhalb des Körpers abspielt, erfahren wir nach und nach alles Wichtige über Lia, ihren Mann Harry, Tochter Iris und die Beziehung zu den eigenen Eltern. Aufgewachsen in einem Pfarrhaus, interessierte sie sich schon als junges Mädchen mehr für die Kunst, als für Gott und spätestens im jungen Erwachsenenalter ging die Verbindung zu dem letzten Rest ihres Glaubens verloren. Was folgt, ist der Versuch, sich aus der schädlichen Beziehung zu ihren Eltern und ihrer ersten Liebe zu lösen, einen neuen Partner fürs Leben zu finden und ein Kind aufzuziehen – aber auch der Beginn einer Krankheit, die Lias Körper kontinuierlich zerstören wird.

„Atlas unserer spektakulären Körper“ ist genau das: spektakulär. Eine emotionale Reise durch ein Leben voller Schuldgefühle und Bedauern, Verdrängung und Akzeptanz. Mehrfach im Roman entschuldigt sich Lia bei Mann und Tochter dafür, dass sie sterben wird. Sie hat das Gefühl, die Krankheit in ihr Leben eingeladen zu haben und kämpft immer wieder mit diesem belastenden Gedanken. Wer auf bestimmte Themen sensibel reagiert, recherchiert vorher dem Lesen besser den genauen Inhalt.

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Veröffentlicht am 18.02.2023

Düsteres Familienporträt

Männer sterben bei uns nicht
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Ein Anwesen am See und 8 Frauen, die dort leben. Über allem thront die namenlose Großmutter, eine elegante, aber manchmal auch grausame Frau, um deren Zuneigung alle buhlen: die Töchter Ingrid und Marianna, ...

Ein Anwesen am See und 8 Frauen, die dort leben. Über allem thront die namenlose Großmutter, eine elegante, aber manchmal auch grausame Frau, um deren Zuneigung alle buhlen: die Töchter Ingrid und Marianna, die Enkelinnen Leni, Luuise und Olga und – etwas abseits – Hausangestellte Justyna. Und die Männer? „Männer starben bei uns nie, Männer kamen und gingen.“ (S. 1) Nach dem Tod der Großmutter, fällt das ganze familiäre Konstrukt in sich zusammen.

„Männer sterben bei uns nicht“, aus der Feder von Schriftstellerin und Aktivistin Annika Reich, wird aus der Sicht der Protagonistin Luise in der Ich- und Vergangenheitsform erzählt. Ausgehend von der Beerdigung der Großmutter in der Gegenwart, blickt sie immer wieder in die Vergangenheit zurück, indem sie assoziativ Verbindungen herstellt, zum Beispiel durch ein getragenes Schmuckstück oder einen umher flatternden Schmetterling.

Im Zentrum steht die Großmutter; wer nach ihren Vorstellungen lebt, den überschüttet sie mit Geschenken und Lob. Zum Liebling hat sie sich Luise auserkoren, die so zur Außenseiterin wird. Generell gelingt es der alten Dame, Schwestern und Cousinen gegeneinander auszuspielen und somit alle Beziehungen zu vergiften. Als Luises Schwester Leni als Teenager „rebelliert“, wird sie ins Internat geschickt. Lenis andere Großmutter Vera darf zwar auf dem Anwesen leben, ist dafür aber täglichen Demütigungen ausgesetzt.

Männer gibt es in der gesamten Geschichte keine. Der Großvater lebte von der Familie getrennt, dennoch musste die Illusion der Ehe erhalten werden. Luises und Lenis Vater machte sich nach Australien davon, mehr wissen wir nicht. Überhaupt wird im Roman vieles angedeutet, so zum Beispiel die Rolle der Familie im Dritten Reich. Die Großmutter verkörpert das, was als männlich verstanden wird: Macht, Reichtum, Gefühllosigkeit, doch auch sie ist in diesem Spiel aus vererbten Traumata und Schuld gefangen und hält alle anderen mit sich im Unglück fest.

Während ihre Mutter sofort nach dem Tod der Großmutter aus dem Anwesen auszieht, fällt es Luise schwer, loszulassen. Im Gegensatz zu allen anderen verbindet sie auch positive Erinnerungen mit dieser schwierigen Frau. Vieles will sie sagen, tut es dann aber doch nicht und das immer wieder im Verlauf des Romans. Doch am Ende muss sie sich positionieren, eine Haltung einnehmen und entscheiden, ob sie das Erbe ihrer Großmutter annehmen will.

Ein düsterer, aber auch allzu wahrer Roman über das, was Frauen einander antun, anstatt solidarisch zu sein.

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Veröffentlicht am 23.01.2023

Sehr persönliche Sammlung

Nachthimmel mit Austrittswunden
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Ocean Vuong begeisterte schon mit seinem 2019 erschienenen Debütroman „Auf Erden sind wir kurz grandios“. In seiner ersten Gedichtsammlung „Nachthimmel mit Austrittswunden“ knüpft er sowohl thematisch ...

Ocean Vuong begeisterte schon mit seinem 2019 erschienenen Debütroman „Auf Erden sind wir kurz grandios“. In seiner ersten Gedichtsammlung „Nachthimmel mit Austrittswunden“ knüpft er sowohl thematisch als auch emotional an seinen Erstling an. Die Sammlung von insgesamt 35 Gedichten ist zweisprachig: auf der linken Seite finden wir den englischen Originaltext, auf der rechten die deutsche Übersetzung von Anne-Kristin Mittag. Wie schon bei seinem Roman leistet sie großartige Arbeit, in dem sie die englischen Sätze mit teils mehrdeutigen Bezügen gekonnt ins Deutsche überträgt.

Vuong sprengt die Grenzen zwischen Prosa und Lyrik, probierte verschiedene Formen aus, so zum Beispiel das japanische Haibun, die Briefform oder ein Gedicht, das nur aus Fußnoten besteht. Er nimmt Bezug auf reale Ereignisse: 1975 spielte der Rundfunk der Streitkräfte „White Christmas“ als Startsignal der Operation „Frequent Wind“, welche die Evakuierung Saigons in der Endphase des Vietnamskriegs einleitete. Vuong kontrapunktiert Zeilen des Liedes mit Beschreibungen der realen Ereignisse. In einem anderen Gedicht nimmt er Bezug auf einen im Jahr 2011 verübten Doppelmord an einem schwulen Ehepaar in Texas.

Ocean Vuong verarbeitet auch Autobiografisches. 1988 im damaligen Saigon geboren, kam er mit 2 Jahren in die USA. Auf dem Cover der Sammlung sehen wir ihn, zwischen Mutter und Tante, in einem philippinischen Flüchtlingslager. Der Vater, der wegen häuslicher Gewalt im Gefängnis saß, verließ die Familie – eine Abwesenheit, die den Autor zeit seines Lebens beschäftigt. In seinem Gedichten erdenkt er sich das, was vom Vater fehlt, hält Zwiesprache mit ihm oder nimmt seine Position ein. Einmal vergleicht er sich selbst mit Telemach, dem Sohn des Odysseus, der ebenfalls von diesem als Kind verlassen wurde.

Im Gegensatz zum Vater ist seine Mutter in Vuongs Texten präsent. Als Analphabetin brachte sie den Sohn mit ihrer Arbeit in einem Nagelstudio durch, was nicht immer einfach war. Und auch nach der Einwanderung bleiben Ocean und seine Familie in den USA oft einsam, gehören nicht dazu. Besonders der Autor fragt sich, wo er als junger, homosexueller Vietnamese seinen Platz im „American Dream“ finden soll. Im emotionalen Gedicht „Someday I‘ll love Ocean Vuong“ richtet er das Wort an sich selbst:

„Don‘t be afraid, the gunfire
is only the sound of people
trying to live a little longer
& failing. Ocean. Ocean -
get up. The most beautiful part of your body
is where it‘s headed. & remember
loneliness is still time spent
with the world.“ (Seite 158/160)

Was für eine wundervolle Sammlung!

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