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Veröffentlicht am 12.03.2023

Ein empfehlenswerter Roman

Wovon wir leben
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Nachdem sie auf der Arbeit einen Fehler begangen hat, lässt die Protagonistin in Birgit Birnbachers Roman "Wovon wir leben" ihr Leben in der Stadt notgedrungen hinter sich und kehrt in ihr Heimatdorf zurück. ...

Nachdem sie auf der Arbeit einen Fehler begangen hat, lässt die Protagonistin in Birgit Birnbachers Roman "Wovon wir leben" ihr Leben in der Stadt notgedrungen hinter sich und kehrt in ihr Heimatdorf zurück.
Es ist ein Rückschritt, der ihre Selbstzweifel mehrt und Existenzängste in ihr aufkommen lässt. Dazu trägt auch die Abwesenheit der Mutter bei, die es geschafft hat, den Vater zu verlassen und ihre eigenen Träume zu realisieren. Doch dann trifft sie den Städter, der sich nach einem Herzinfarkt in der Reha aufhält und von einem bedingungslosen Grundeinkommen lebt.

Was bedeutet Verantwortung der Familie gegenüber? Wie und wo kann man Grenzen ziehen? Und wie lassen sich Familie, das eigene Pflichtgefühl und Erwartungen an das Leben miteinander vereinbaren? All das sind Fragen, die der Roman thematisiert.

Daneben kann er auch als eine Exkursion in die engen Strukturen eines Dorfes gelesen werden, das keineswegs bloße Kulisse ist, sondern menschliche Schicksale prägt, in dem es Menschen entweder ausbrechen lässt oder sie ein Leben lang festhält. Was auch nicht erstaunt: das Dorf ist eine Männerwelt, in der Frauen für die Männer zu sorgen haben, in der der Vater der Protagonistin keinerlei Verständnis für die Flucht seiner Ehefrau hat. Es ist außerdem, besonders innerhalb der Familie, eine Welt des Schweigens, in der sich das Ungesagte über die Jahre angestaut hat.

Ich fand den Roman sehr stark. Anfangs nicht, muss ich zugeben. Ich brauchte ein paar Seiten, um in die Welt des Romans hineinzufinden. Und zwischendurch habe ich mich zusätzlich gefragt, ob es nicht zu viel wird, wenn sich plötzlich eine schreiende Ziege, ein beim Kartenspiel gewonnenes Gasthaus, ein totes Pferd, ein kranker Bruder, ein verletzter Vater, usw. ins Zentrum der Geschichte drängen.

Aber im Gesamtbild war es nicht zuviel. Im Gegenteil. Alles hat gestimmt und nicht nur das, es hat mich berührt. Diese Nähe zur Lebensrealität, die Glaubwürdigkeit der Protagonistin, die vor allem durch ihr Zweifeln und Hadern entsteht und durch einen Zustand, in dem man mit sich selbst nicht ganz im Reinen ist… Das war es, was sich ins Bewusstsein gedrängt hat, zum Nachdenken angeregt hat und sich schließlich gedanklich festgesetzt hat.

Ein empfehlenswerter Roman!

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Veröffentlicht am 03.03.2023

Eine Zeitreise

Das Adressbuch der Dora Maar
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Brigitte Benkemouns Ehemann kauft sich eine Lederhülle für sein Adressbuch bei Ebay, doch als Benkemoun die Hülle aufschlägt, ist diese nicht leer, sondern enthält bereits ein kleines, vollgeschriebenes ...


Brigitte Benkemouns Ehemann kauft sich eine Lederhülle für sein Adressbuch bei Ebay, doch als Benkemoun die Hülle aufschlägt, ist diese nicht leer, sondern enthält bereits ein kleines, vollgeschriebenes Adressbuch mit den privaten Adressen der großen Künstler des Surralismus und der modernen Kunst. Von Cocteau, Chagall und Giacometti bis Signac und Braque finden sich auf zwanzig Seiten die Namen berühmter Dichter, Maler, Künstler und Persönlichkeiten der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts.

Doch wem dieses Adressbuch gehört haben könnte, bleibt zunächst ein Geheimnis. Benkemoun setzt sich in den Kopf, es herauszufinden, entziffert mühselig dieses “Who is Who der Nachkriegszeit”, ist sich bald sicher, dass die Besitzerin eine Frau gewesen sein muss und stößt schließlich auf den Eintrag “Architekt Ménerbes”. Ménerbes, ein Ort im Süden Frankreichs, war lange Zeit Wohnort von Dora Maar. Die Besitzerin des Adressbuchs ist damit gefunden.

Ausgehend von den Namen und Adressen im Buch und durch die Hilfe von Zeitzeugen, Biographien, Telefonbüchern und sogar einem Grafologen zeichnet Benkemoun das Leben Dora Maars nach, die der Nachwelt vor allem durch das berühmte Porträt Picassos “Die weinende Frau” und als Geliebte Picassos in Erinnerung geblieben ist. Dabei war sie selbst Fotografin und später auch Malerin. Ihr Werk, das hat sie selbst schon erkannt, wie das folgende Zitat beweist, ist fast vollständig in Vergessenheit geraten: “Man kennt mich noch zu sehr als Picassos Geliebte, um mich als Künstlerin zu achten.”

Für die Autorin ist die Beschäftigung mit Dora Maars Leben jedoch nicht immer leicht: “Ich tue mich schwer mit ihr. Am schwierigsten ist es, sich an eine so andersartige und bisweilen so wenig sympathische Frau zu binden.” Schon früh in ihren Recherchen erfährt sie, dass Maar in ihrer Wohnung eine Ausgabe von “Mein Kampf” stehen hatte. Das Buch geht deshalb auch der Frage nach, wie eine junge Frau, die gegen den Faschismus gekämpft hat und links war, sich dieser Art von Bitterkeit und Misanthropie verschreiben konnte. Es gelingt der Autorin zu zeigen, wie Maar immer mehr in den Wahnsinn abdriftet, unter Psychosen leidet, wie sie beginnt, an Übernatürliches zu glauben, von Jacques Lacan behandelt wird und sich in einer Heilanstalt der brutalen Elektroschocktherapie unterziehen muss.

Das Buch befreit Dora Maar und ihr Werk aus der Vergessenheit und auch wenn es sie nicht von dem Schatten Picassos, der über ihrem Leben hängt, befreien kann, so ist das Bild, das der Leser nach der Lektüre von Dora Maar hat, vielschichtiger und wird ihrer Persönlichkeit gerechter. Benkemoun beschönigt oder verherrlicht ihre Protagonistin dabei nie, sondern zeigt sie mit all ihren Facetten, als Fotografin und Geliebte, aber auch als Wahnsinnige und Verrückte.

“Das Adressbuch der Dora Maar” ist ein Zeitreiseführer in die Welt der Surrealisten und in die Pariser Künstlerszene. Er gewährt tiefe Einblicke in die Beziehungen der Künstler untereinander, zeigt auf, wie sich ihre Wege kreuzen, wie Freundschaften entstehen und wieder auseinanderbrechen, schneidet Biographien an und lässt die Dichter, Maler, Fotografen und Freunde selbst zu Wort kommen. Er wird Dora Maar, ihrem Umfeld und ihrer Zeit in jeder Hinsicht gerecht und ist eine Bereicherung für jeden Leser.

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Veröffentlicht am 03.03.2023

Sehr besonders

Junge mit schwarzem Hahn
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Martin ist ein Waise, dessen treuer Begleiter ein schwarzer Hahn ist. Von den Bewohnern seines Dorfes wird er gemieden. Man glaubt, er sei verflucht und im Hahn sehen die Dörfler den Teufel. Als ein wandernder ...

Martin ist ein Waise, dessen treuer Begleiter ein schwarzer Hahn ist. Von den Bewohnern seines Dorfes wird er gemieden. Man glaubt, er sei verflucht und im Hahn sehen die Dörfler den Teufel. Als ein wandernder Maler in das Dorf kommt, um ein neues Altarbild für die Kirche zu malen, entschließt Martin sich dazu, ihn zu begleiten. Er will ein Verbrechen aufklären, das sich jährlich wiederholt: Ein Junge und ein Mädchen werden von einem schwarzen Reiter entführt und nie wieder gesehen.

Martin ist ein bemerkenswerter Protagonist. Er verkörpert die Moral und das Gute. Auf seiner Reise verliert er nie sein Ziel aus den Augen und bleibt seinen Werten und sich selbst treu. Obwohl er umgeben von Aberglauben und der Leichtgläubigkeit der Dorfbewohner aufwächst, hinterfragt er stets das, was von allen anderen bereits als Wahrheit akzeptiert wurde. Er hat die außergewöhnliche Begabung, logische Verbindung zu erkennen und sie für die Menschen um sich herum verständlich zu machen.

Stefanie vor Schulte hat eine besondere Geschichte geschrieben, die sie in einer einfachen und gleichzeitig kraftvollen Sprache erzählt. Die Geschichte ist bildgewaltig, märchenhaft, zuweilen fantastisch und zeichnet sich durch eine Atmosphäre aus, die dunkel und archaisch ist. Es herrscht Krieg, finstere Gestalten, deren Intentionen zweifelhaft sind, begegnen Martin auf seiner Reise und Zeichen von Gewalt und Gewaltbereitschaft sind allgegenwärtig. In dieser Welt ist Martin die einzige Figur der Hoffnung, die einzige Lichtgestalt.

“Junge mit schwarzem Hahn” ist ein besonderes Leseerlebnis, das lange nachhallt und allen Lesern, die dazu bereit sind, sich auf außergewöhnliche Geschichten einzulassen, empfohlen werden kann!

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Veröffentlicht am 03.03.2023

Horizonterweiternd

Tier werden
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Wo verlaufen eigentlich die Grenzen, die uns vom Tier unterscheiden? Und wie nehmen wir sie wahr? Diesen Fragen widmet sich Teresa Präauer in ihrem hundert Seiten langen Essay "Tier werden".

Sich auf ...

Wo verlaufen eigentlich die Grenzen, die uns vom Tier unterscheiden? Und wie nehmen wir sie wahr? Diesen Fragen widmet sich Teresa Präauer in ihrem hundert Seiten langen Essay "Tier werden".

Sich auf Beispiele aus der Literatur, Kunst, Philosophie, Kultur, Religion und Naturwissenschaft stützend, nähert sich Präauer dem an, was den Blick des Menschen auf das Tier ausmacht. Es sind die Grenzorte, die dabei besonders aussagekräftig sind: Tiermenschen und Opfertiere, mythologische Mensch-Tier-Figuren wie die Harpyien, Wolfskinder, die sprechenden Tiere der Literatur oder vermenschlichte Haustiere.

Das Buch ist eine Spurensuche und Zeitreise von den ersten Höhlenmalereien bis in die Gegenwart. Präauer lässt den Blick schweifen und macht deutlich, dass die vermeintlich klare Trennung von Mensch und Tier bei genauerer Betrachtung und in kultureller Hinsicht fließend oder sogar hinfällig ist. Wir vergleichen uns sprachlich mit Tieren, verkleiden uns als Tiere, um den Winter zu vertreiben, bedrucken unsere Kleidung mit Fellmustern oder lassen uns von Apps Hundeohren aufsetzen und mit Katzenschnuten ausstatten, um nur einige Beispiele zu nennen.

Was am Ende des Essays bleibt, sind Einblicke in unsere Faszination für die Grenzräume und die darin existierenden zahlreichen Vermischungen, Überschreitungen und Hybridisierungen zwischen Mensch und Tier.

Und noch etwas bleibt am Ende, nämlich dass „der Blick auf das Tier, das gezeichnet und beschrieben worden ist, das erfunden worden ist, [...] ein medial vermittelter [ist] – und doch zeigt sich darin etwas so unmittelbar: unser Blick auf uns selbst, unser Blick auf die Welt, und wie er sich formt im Lauf der Zeit, und schließlich die Hoffnung auf die Möglichkeit, dass die Blicke erwidert werden.“

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Veröffentlicht am 03.03.2023

Highlight

So reich wie der König
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Es sind die 90er Jahre in Casablanca. Sarah, eine sechszehnjährige Französin, wächst am Rande der Stadt und an der Grenze zum Barackenviertel auf. Vor ihren Freunden verheimlicht sie ihr schäbiges Zuhause ...

Es sind die 90er Jahre in Casablanca. Sarah, eine sechszehnjährige Französin, wächst am Rande der Stadt und an der Grenze zum Barackenviertel auf. Vor ihren Freunden verheimlicht sie ihr schäbiges Zuhause und findet Zugang zur reichen Elite der Stadt. Von den Jungs, mit denen sie ausgeht, lässt sie sich Kleidung und Essen kaufen, aber ihr eigentlicher Traum ist es, eines Tages genug Geld zu haben, um sich eine Villa, einen Gärtner und Rubine leisten zu können. Sie will Königin sein.
Als sie von einem Freund erfährt, dass Driss „der Reichste der Reichen [ist]. Reicher als wir alle zusammen. Vielleicht so reich wie der König“, weiß Sarah, wie sie dem für sie vorbestimmten Leben entfliehen und ihren Traum Wirklichkeit werden lassen kann. Doch Driss ist zurückhaltend, feinfühlig und unansehnlich. Er scheint sich nicht für Sarah zu interessieren und erst allmählich nähern sich die beiden einander an.

Abigail Assor hat einen kraftvollen und bildgewaltigen Roman geschrieben, der sich einer Gesellschaft widmet, die aufgeteilt ist in arm und reich, westlich und östlich, französisch und arabisch, modern und archaisch. Überschneidungen gibt es nicht, denn die gesellschaftlichen Hierarchien sind undurchlässig. Träume von einem besseren Leben zerschellen an der Realität.
Letzteres ist für Frauen doppelt wahr. Ihre Hoffnungen haben keinen Platz in einer Welt, in der alle Männer ihre Frauen schlagen. Die Gewalt ist klassenunabhängig und allgemeingültig. Sie drückt sich auch darin aus, dass Frauen ein Verfallsdatum haben, wenn sie nicht (mehr) fruchtbar sind und dass Mädchen auf offener Straße vergewaltigt werden, deshalb ins Gefängnis müssen oder mit dem Täter verheiratet werden.

Assor beschreibt eine dichotome Gesellschaft mit Sittenpolizei und Anstandsregeln auf der einen, westlichem Lebensstil auf der anderen Seite, aber vor allem eine Gesellschaft ohne einen Raum für Überschneidungen. In dieser Welt finden zwei Jugendliche zueinander, die für sich selbst solch einen Raum zu erfinden versuchen, die träumen und hoffen, den Mut haben, dagegenzuhalten.

Assors Debütroman lässt den Leser vergessen, dass er liest. Hinter den Buchdeckeln erstreckt sich eine ganze Welt, die mit dem ersten Satz zum Leben erwacht, die Zeit- und Kulturreise zugleich ist.
Dass dieser Eindruck entstehen kann, liegt auch an Assors Sprache, die konzentriert ist und gleichzeitig mühelos, fließend. Alles ist stimmig an dieser Geschichte, die an keiner Stelle ausartet, sich nie verliert, trotz der Komplexität der porträtierten Gesellschaft. Sie geht tief ohne sich Schwere aufzubürden.

„So reich wie der König“ ist eine der großen Neuerscheinungen dieses Frühjahrs.

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