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Veröffentlicht am 16.11.2023

Schönheit als Anker - in Zeiten der Dunkelheit, der Vergänglichkeit; in einer rasenden Welt

Der Trost der Schönheit
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"Ich werde hier gewiss nicht versuchen, eine Kulturgeschichte der Schönheit zu schreiben. Das haben berufenere Geister längst getan. Ich will den Weg gehen von >Bloß nichts fühlen< zum lebendigen, couragierten ...

"Ich werde hier gewiss nicht versuchen, eine Kulturgeschichte der Schönheit zu schreiben. Das haben berufenere Geister längst getan. Ich will den Weg gehen von >Bloß nichts fühlen< zum lebendigen, couragierten Empfinden von Schönheit. Den Weg vom Eiskeller in den Trost..." und damit zur "inneren Sicherheit", die Schönheit überall zu sehen, egal wie verzwickt alles scheinen mag, finden. Und ich denke, das ist Garbiele von Arnim mit diesem Buch wirklich gut gelungen. Viele, fast schon altbekannte/-bewährte Gedanken, Anekdoten und Beobachtungen reihen sich hier an Arnims Geschichte und ihr Empfinden. Teilweise fühlt sich das 'Gesagte' wie ein umhüllender Mantel an, liebgemeinte Worte, die Trost spenden und eine Hilfe sein können. Für mich ist dieses Buch auch so eine Art kluges Beispiel, dass Schönheit auch in der vermeintlichen Dunkelheit zu finden ist, sofern wir uns Zeit nehmen, die Augen öffnen und (kleineren) Dingen wieder einen größeren Wert geben. Und so gern ich nun dieses Buch dafür loben mag, so muss ich doch gestehen, dass diese Art der Erzählung recht wenig in mir ausgelöst hat, sei es durch die fast schon allgemeingültigen Gedanken oder die für mich fehlende Entwicklung und Reifung. Generell habe ich bei deutscher Literatur hier häufig ein Problem, denn oftmals wird nur das Ergebnis der Suche nach dem Sinn präsentiert, teilweise gar belehrend runtergebetet, während englischsprachige Romane hier viel weitreichender und nahbarer sind, sowie viel mehr Raum für das Vorher, die Dunkelheit und die Suche selbst lassen. Allerdings, und vielleicht ist das sogar der Grund für meine nur semi-Begeisterung, habe ich den Vorgänger "Das Leben ist ein vorübergehender Zustand" bis dato noch nicht gelesen und vielleicht würden beide Bücher, zusammen betrachtet, jedes einzelne für sich noch viel größer wirken lassen. Meine Neugier, mehr von Gabriele von Arnim lesen zu wollen, hat dieses Buch jedenfalls nicht geschmälert, nur den Trost in der Schönheit... ich suche mal nach meinen eigenen Weg.

"Dinge können uns Halt geben und AtemMut, weil das, was wir schön finden, eine kleine Schneise mäht in die große Kummerwiese, uns für Momente tief und froh Luft holen lässt. Schöne Dinge können uns daran erinnern, dass wir sind."

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Veröffentlicht am 17.04.2023

Der Aufbruch ins eigene, unabhängige Leben... "Ohne mich" von Esther Schüttpelz

Ohne mich
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"Wieso glauben eigentlich immer alle, dass schlechte Entscheidungen nur solche sein können, die man nicht aus freien Stücken getroffen hat?"

Wenn man der Ich-Erzählerin in Esther Schüttpelz Roman "Ohne ...

"Wieso glauben eigentlich immer alle, dass schlechte Entscheidungen nur solche sein können, die man nicht aus freien Stücken getroffen hat?"

Wenn man der Ich-Erzählerin in Esther Schüttpelz Roman "Ohne mich" glaubt, kann man sich auch sehr gut mit eigenen Handlungen ins Unglück stürzen. Erst vor kurzem hat sie geheiratet, sich für ein Jura-Studium entschieden, und sich ausgemalt verwegen und glücklich ins Leben zu stürzen. Sie ist erst Mitte zwanzig und doch fühlt es sich bereits jetzt so an, als hätte sie gehörig verkackt. Ihre Ehe, deren Grund sie kaum noch nachvollziehen kann, ist bereits gescheitert und befindet sich in den Endzügen. Kurz nach ihrer Trennung, schließt sie ihr Studium und Referendariat ab, doch so wirklich überzeugt ist sie nach wie vor nicht davon. Sie möchte weder das lernen müssen, das sie nicht interessiert, noch einem stupiden Schreibtischjob nachgehen und fragt sich wie sie so blöd sein konnte, ausgerechnet Jura zu studieren. "...na gut, eigentlich [ist] schon vieles daran, interessant, doch dass ich die Dinge nur begreifen, sie aber nicht anwenden will. Ich möchte nichts davon sein, nicht mitmachen, nur zusehen, verstehen. Und auch das nicht unbedingt." Und genau das wird ihr eben erst jetzt klar, so kurz vor dem Ende. Aber ist es nicht genau das, was das noch junge Leben prägt? Dinge, in die man sich hineinstürzt, mit der Hoffnung das Richtige gefunden zu haben und dann doch enttäuscht zu sein? Und während sie noch in der Heimat, im beschaulichen Münster geblieben ist und sich nun manchmal etwas einsam fühlt, sind ihre Freunde bereits in andere Städte aufgebrochen. Doch wird es ihnen dort wirklich anders ergehen?

"Da sitzen sie jetzt, meine Freunde, in ihren WGs oder in ihren ersten gemeinsamen Wohnungen, und was uns heute verbindet, ist, neben längst auserzählten Erinnerungen an die Schulzeit, nur noch das Gefühl, im eigenen Leben ersetzbar zu sein. Warum diese Stadt, warum dieser Job, warum dieser Partner. Fragt sich jeder für sich, ganz allein. Es könnte auch alles ganz anders sein, aber wäre das besser?"

Ich kann mich noch genau an meine Zeit nach dem Studium erinnern, gefangen in so einem Gefühl zwischen Euphorie, dem großen Drang endlich etwas bewegen zu können, dem Abschied von Schul- und Studienfreunden und der verzweifelten Suche nach sich selbst und seinen Wünschen und dem Korrigieren von früheren Entscheidungen. Und irgendwie hat Esther Schüttpelz es geschafft genau diese Ungewissheit und den Aufbruch bzw. das Befreien von naiven, fast schon jugendlichen, unüberlegten Impulsen und Gedanken einzufangen. Es ist keine Geschichte, die plotgetrieben auf ein großes Ahhh-Erlebnis zusteuert, für mich ist es mehr so ein Zustandsroman. Eine Suche nach dem Ziel, dem Weg und irgendwie auch dem eigenen Platz in der Gesellschaft. Es ist eine beispielhafte Auseinandersetzung mit dem anfänglichen, eigenständigen Leben und den vorherrschenden Themen des frühen Erwachsenenalters. Was fange ich mit mir an? Wo will ich hin? Ist das alles wirklich so richtig? Und da glaube ich, dass dieser Roman sehr von Esther Schüttpelzs eigenen Gedanken und Erlebnissen geprägt wurde. Die Parallelen im Lebenslauf könnten zumindest auf dies hindeuten.
Und auch wenn ich das schon wieder sehr faszinierend finde, fehlten mir im Roman selbst manchmal so ein bisschen Nähe und Tiefe. Ich konnte die Protagonistin nicht immer greifen bzw. hatte häufig das Gefühl, dass auch sie eher ein austauschbarer Charakter ist... was einerseits natürlich diese Allgemeingültigkeit zusätzlich verstärkt, aber leider auch so ein bisschen Distanz und Kühle aufbaut, wenn nicht sogar Begeisterung für das Gelesene raubt. "Ohne mich" umkreist das Ende der ersten großen Liebe, den Beginn des 'richtigen' Lebens und irgendwie auch das Verlassen von alten Wegen... sehr gewichtige Themen und doch so leicht verpackt. Und auch wenn dieser Roman mich nicht vollends begeistert mitgerissen hat, so bin ich für diesen gedanklichen Rückblick und diese Geschichte, die zeigt, dass niemandem das Leben einfach so in den Schoß fällt, sehr dankbar.

"Ich [...] schließe die Wohnungstür hinter mir, drehe mich nicht noch mal um und gehe. Mit jedem schritt, den ich mich entferne, spüre ich, wie ich leichter werde. Nichts ist weg von dem, was mich unter die Wasseroberfläche zieht, doch verstaut ist es, zurückgelassen und eingesperrt in den vermüllten Zimmern, denen es entsprang."

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Veröffentlicht am 07.03.2023

ein Roman voller Härte, erbitterte Kämpfe und Zärtlichkeit

Young Mungo
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"Ihre Mutter war bestimmt tot. Es war drei Wochen her, dass die Kinder sie gesehen hatten, und Mungo konnte sich nur die schlimmsten Szenarien vorstellen. Mo-Maw Hamilton war vergewaltigt und dann mit ...

"Ihre Mutter war bestimmt tot. Es war drei Wochen her, dass die Kinder sie gesehen hatten, und Mungo konnte sich nur die schlimmsten Szenarien vorstellen. Mo-Maw Hamilton war vergewaltigt und dann mit einem Steakmesser ausgeweidet worden, das irgendein Fernfahrer mit Tankstellencoupons gekauft hatte. Er hatte die nackte Leiche verschnürt und ihr die Finger abgehackt, bevor er sie im kalten brackigen Wasser des Clyde versenkte. Mungo folgte seiner Schwester von Zimmer zu Zimmer und beschwor die blutigsten Bilder herauf."

Doch der Grund warum Mo-Maw mal wieder ihre Kinder vernachlässigte war ganz simpel... sie arbeitete abends in einem kleinen Imbiss, mitten auf einer Verkehrsinsel, die Kundschaft stand Schlange, sie trank und hatte mal wieder einen neuen Typen kennengelernt, dem sie nichts von ihren Kindern erzählen wollte... irgendwie kommen einem diese Szene und diese Gedanken aus Douglas Stuarts neustem Roman "Young Mungo" doch bekannt vor. Zumindest eine ähnliche Ausgangssituation gab es schon bei seinem Debüt "Shuggie Bain", eines meiner liebsten und schmerzhaftesten Romane aus den letzten Jahren. Die (un-)gewollte Parallelität ist hier sehr präsent. Stuart entführt seine Leser*innen erneut nach Glasgow, dieses Mal ins East End der 90er, wo ernste Straßenkämpfe zwischen den Katholiken und Protestanten geführt werden, Minderheiten es nicht gerade leicht haben und auch sonst ein sehr rauer Ton herrscht. Nicht gerade die einfachste Gegend für einen eher verträumten, zu ängstlichen und hibbeligen Fünfzehnjährigen. "Und ich werd das Gefühl nicht los, dass es meine Schuld ist, Mungo. Ich habs nicht geschafft, nen Mann aus dir zu machen. [...] Ich hab das Gefühl, ich hab dich falsch erzogen.", sagte ausgerechnet sein großer Bruder zu ihm. Der, der ihn immer auf die Straße bringen und mit ihm ins wilde Getümmel stürzen wollte. Als Mungo dann auch noch den Taubenzüchter James trifft, sie sich zunächst anfreunden und er seine Liebe zu ihm entdeckt, macht es das alles nicht einfacher. Er verleugnet sich vor seiner eigenen Schwester Jodie, versteckt sich vor seinem großen Bruder Hamish und möchte eigentlich nur noch Zeit mit James verbringen. Als dann noch seine Mutter mit einer Idee um die Ecke kommt, die Mungo zu einem echten Kerl machen soll, steht plötzlich nicht nur seine Beziehung zu James auf dem Spiel, sondern auch etwas, das Mungo sich in seinen kühnsten Träumen niemals zu wagen traute...

"Mo-Maw hatte gedacht, sie würden einen Mann aus ihm machen; sie würden ihm zeigen, wo es langging, ihm Dinge beibringen, die ein Vater ihm hätte beibringen sollen, Dinge, die sie ihm selbst hätte beibringen können, wenn sie gewollt hätte. Dinge, die er nie brauchen würde, wenn er sein ganzes Leben in Glasgow blieb, was er tun würde, weil es alle, die er kannte, taten."

Oder vielleicht auch nicht. Oh, was habe ich diesen Roman ersehnt! Douglas Stuarts Debüt war für mich eins der tollsten Bücher in den letzten Jahren. Ich habe mit dem kleinen Shuggie so gelitten und fand die Geschichte über diese arme Glasgower Familie mit der Alkoholsucht und dem Absturz der Mutter, der innerlichen Zerrissenheit ihres Jungen und die Beziehungen zwischen Shuggie und seinen beiden Geschwistern so herzzerreißend und emotional überwältigend, wie gewaltig... da kommt für mich lange kein anderer Roman heran. Und dieses Bild von diesem einen verflixten, alkoholfreien Jahr, in dem die Beziehung zwischen Agnes und ihren Kindern aufblüht, bevor sie in aller Härte zurück in das tiefe Loch stürzt, werde ich wahrscheinlich für immer in mir tragen. Wahnsinn.
Und genau so etwas mitreißendes und emotional tiefgründiges habe ich auch bei bei seinem zweiten Roman erwartet, aber, wie das dann immer so ist mit großen Erwartungen, ich wurde enttäuscht. Es ist ein toller Roman, keine Frage, aber für mich gab es so einige Ecken und Kanten, die es mir schwer gemacht haben, angefangen beim Cover, das irgendwie eine reifere (Liebes-)Geschichte erwarten ließ. Dann die Ausgangssituation, die fast schon deckungsgleich mit Stuarts Debüt ist. Eine Glasgower Familie, eine trinkende Mutter, drei Kinder, von denen einer die Familie verlässt und einer seine Homosexualität entdeckt und sich damit in eine schwierige, unverstandene Lage bringt, stellte für mich einen noch größeren Bezug zu "Shuggie Bain" her, weshalb ich diese beiden Bücher ständig miteinander vergleiche. Allerdings spielt dieser Roman in 90er Jahren und Mungo ist schon etwas älter als Shuggie. Es hätte somit eine kluge Weiterführung sein können, was ich tatsächlich sehr spannend gefunden hätte, aber es ist dann doch so eine ganz eigene Geschichte geworden, die etwas wirr mit dem kleineren der beiden Handlungsstränge beginnt. Der Ausflug mit den zwei Bekannten von den AAs, die Mungo wieder auf 'rechte Bahnen' bringen sollen, hätte für sich schon eine sehr spannende und erschreckende Geschichte ergeben, so hat sie leider den Hauptplot umspielt, ohne ihm wirklich mehr Kraft zu verleihen, ihm vielleicht sogar Aufmerksamkeit geraubt, denn die eigentliche (Liebes-)Geschichte ist bis auf die Bandenkriege zwischen den Katholiken und den Protestanten dann doch deutlich ruhiger.

Aber ich mag nicht nur nörgelig sein, denn was Stuart kann, ist es sehr bewegend von schiefen Familienbahnen, vorhandenen Spannungen und Zwiespälten zu erzählen. Eher zufällig lernt Mungo James kennen, den Jungen, bei dem er so sein kann, wie er wirklich ist - ohne jemanden zu enttäuschen, ohne von seinen Geschwistern aufgezogen oder zu etwas aufgefordert zu werden und lernt dabei seine Sexualität und sehr viel mehr über sich selbst kennen. Die Umstände sind schwierig, seine Familie erwartet von ihm ein durchsetzungsfähiger, ganzer Mann zu werden, einer, der mit seinem Bruder Hamish in die Bandenkriege zieht, für sich und seine Familie einsteht und Härte zeigen kann. Das Bild des homosexuellen Jungen, der den kleinen Taubenzüchter von gegenüber liebt, passt da so gar nicht. Sehr einfühlsam und nahbar erzählt Stuart von eben dieser 'Entdeckungsreise', diesen Gegensätzen und später auch von der Angst, sowie seinem kraftvollem eigenen Weg, der ihm viel sehr mehr abverlangt als Hamish und Mungos restliche Familie sich überhaupt vorstellen können. Und auch, wenn es nicht an "Shuggie Bain" heranreicht, so ist es doch ein sehr beeindruckendes Buch über die Findungsphase eines Jungen, sowie die Diskrepanzen und Erwartungen der Gesellschaft, der Familie und von einem Selbst im Vergleich zum allgemeinen Weltbild, in das man hineingewachsen ist.

Ich bin gespannt, was da nun noch so folgen wird, ich hoffe allerdings Stuart löst sich vom Setting und offenbart dann noch einmal so ganz andere, zerrissene Gefühle und ein Schicksal, das mich wieder mehr fesseln und begeistern kann.

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Veröffentlicht am 28.02.2023

"Liebewesen" - ein rasanter, mutiger Roman mit Achterbahngefühlen

Liebewesen
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Liebesgeschichten, Gedanken über Schwangerschaften, die Zukunft und Erzählungen von glücklichen Beziehungen gibt es in der Buchwelt wie Sand am Meer. An sich ist Liebe ja auch etwas sehr Schönes, doch ...

Liebesgeschichten, Gedanken über Schwangerschaften, die Zukunft und Erzählungen von glücklichen Beziehungen gibt es in der Buchwelt wie Sand am Meer. An sich ist Liebe ja auch etwas sehr Schönes, doch in Romanen wird dies (für mein Gefühl) meistens so überromantisiert und die Wirrungen des Lebens werden oftmals durch die erträumte Partnerschaft am Ende belohnt... aber so ist es eben nicht immer, schon gar nicht in der Realität. Was ist also, wenn alles nicht so rund läuft, die Beziehung anstrengend wird und jeder noch so die eigenen Probleme mit einbringt, vielleicht auch gar nicht mal so beziehungsfreudig veranlagt ist? In Caroline Schmitts Roman "Liebewesen" lernen die Leserinnen zunächst Lio und Miriam kennen. Zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während Miriam eher locker und leicht auf andere Menschen zugeht, braucht Lio eine Weile, ist eher unentspannt und kämpft stets mit sich und der Welt und doch beschließen sie beide auf einer Party eine gemeinsame WG zu gründen. Das läuft auch ganz gut und irgendwie ergänzen die beiden sich perfekt, nur in Sachen Liebe könnte es für Lio noch besser laufen, findet zumindest Miriam...

">Warum erzähle immer nur ich von Blowjobs und all dem anderen Kram?< [...] Wir kannten uns jetzt seit drei Monaten, in denen ich keine einzige solcher Geschichten beigesteuert hatte. In Miriams Zeitrechnung war das eine unerträglich lange Zeit ohne Sex. In meiner war es die beste meines Lebens."

Und so kümmert sich Miriam darum, dass Lio sehr schnell Max kennen lernt, mit dem sie bereits beim zweiten Date in der Badewanne landet und dann auch intimer wird, gar eine Beziehung eingeht. Doch Lios Körper ist ihr persönlicher Albtraum, sei es durch ihre Erfahrungen in der Vergangenheit, aber auch die Unsicherheit und Nähe stellen für sie oftmals Hindernisse da. Und als sie dann auch noch ungewollt schwanger wird, scheint ihre ganze, mühsam erkämpfte Beziehung und Normalität ins Wanken zu geraten. Sie kann Max nichts von ihrer Schwangerschaft erzählen, eigentlich möchte sie auch gar kein Kind und fühlt sich in ihrer Beziehung gar nicht mal so wohl und doch möchte sie auch... ach, was will sie eigentlich? Gedanken und Erinnerungen beschäftigen sie, Dinge ploppen auf, die sie einfach nur vergessen wollte und doch muss sie sich jetzt damit beschäftigen um endlich ihren eigenen Weg zu gehen.

"Mir wurde kotzübel. Wenn Gott eine Frau war, musste sie doch verstehen, dass Sex der Untergang meiner Welt war, und Gespräche über ihn oder Experimente mit ihm den anderen überlassen. Die meisten Objekte, die in Vulven eingeführt wurden, Penisse, Hände, Dildos, waren noch größer als Tampons. Die Gegenwart dieser Gegenstände nicht nur ohne Panik zur Kenntnis zu nehmen, sondern sogar Gefallen an ihnen zu finden, schien mir unmöglich."

Puh, dieser Roman hat es in sich und das in so ganz unterschiedliche Richtungen. Wäre dieses Buch nicht so dünn gewesen, hätte ich es bereits in der Mitte des ersten Teils abgebrochen, denn Caroline Schmitt legt mit ihrem jungen Roman ein Tempo vor, das es mir wahrlich schwer gemacht hat. So springt sie mit ihren Charakteren ständig von einem Thema zum anderen, ohne wirklich auf etwas einzugehen. Man findet sich irgendwo zwischen Tinder, rasantem Kennenlernen, komischen Dates, Sinnkrisen, Depression, Problemen mit dem eigenen Körper, schwierigen Familienverhältnisse, Sex, Vergewaltigung, Schwangerschaft, Blumenbeeten, Beerdigungen... die Liste ist wirklich lang und gefühlt ploppt mit jedem 3-zeiligen Dialog, der nicht nur aus einzelnen Worten besteht, mindestens ein weiteres Thema auf und bleibt einfach so im Raum stehen. Man muss nicht alles ausführlich erklären, aber zwischen all dem Witz, dem fast schon etwas flapsigen Grundton und der ungewöhnlichen Annäherung zwischen Lio und Max, fühlt man sich als Leser*in zwar irgendwie unterhalten, aber man schrubbelt eben nur an der Oberfläche entlang ohne eine wirkliche Bindung aufzubauen. Aber dann kam der zweite Teil, der zwei Jahre später spielt und doch etwas fokussierter und intensiver, vielleicht sogar etwas ausführlicher ist. Die ungeplante Schwangerschaft, der Abbruch und die kriselnde Beziehung dominieren diese Hälfte, man kann Lios Zweifel und Probleme endlich verstehen, mit ihr mitfühlen und findet sich zeitgleich gedanklich in eigenen Beziehungsproblemen und -geschichten wieder.
Und das fand ich wirklich toll! Im Nachgang verblasst vieles zwar recht schnell wieder, aber "Liebewesen" hat bei mir für den Moment Eindruck hinterlassen. Dieses Buch und meine Lesezeit kann man vielleicht am besten mit einer Achterbahnfahrt beschreiben... zunächst die etwas holprigere, anstrengende Ansteigung, das Fahrt aufnehmen, etwas links und recht anditschen und hin und her geschleudert werden, bevor man rasant dem Abgrund entgegenfährt, nach kurzer Überforderung, Euphorie und einem "Oh, Gott, bloß nie wieder", bleibt nach der Fahrt die Begeisterung und Aufregung noch kurz hängen, aber dann stürzt man sich in ein neues Abenteuer und die Erinnerung verblasst.

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Veröffentlicht am 04.10.2022

"Jahre mit Martha" - die Geschichte einer ungleichen Beziehung.

Jahre mit Martha
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Mit Martin Kordićs neusten Roman "Jahre mit Martha" reisen die Leser:innen zurück in die späten 90er Jahre in den Westen Deutschlands. Hier lernen sich Martha und Željko, alias jimmy, auf dem vierzigsten ...

Mit Martin Kordićs neusten Roman "Jahre mit Martha" reisen die Leser:innen zurück in die späten 90er Jahre in den Westen Deutschlands. Hier lernen sich Martha und Željko, alias jimmy, auf dem vierzigsten Geburtstag seiner Mutter kennen. Es ist eine eher witzige Geschichte, die sich die beiden auch noch Jahre später immer wieder erzählen werden. Jimmys Familie stammt ursprünglich aus Herzegowina. Sein Vater ist in Ludwigshafen Hausmeister und so haben sie dort in einem Vorderhaus eine kleine Wohnung gestellt bekommen. Vater, Mutter, sein Bruder Kruno, seine kleine Schwester Ljuba, Jimmy und der kleine Wellensittich Lothar, angelehnt an den großen Fussballstar Lothar Matthäus, teilen sich die überschaubaren zwei Zimmer, Küche, Bad. Und an dem Geburtstag seiner Mutter, teilt sich gefühlt das ganze Haus ihr Bad, denn die Kellertoilette im Hinterhaus ist kaputt und da Jimmys Vater nicht da ist und Jimmy nicht großartig was daran machen konnte, blieb ihre Wohnungstür für alle geöffnet. Und so lernt er dann Frau Gruber, die Chefin seiner Mutter aus Heidelberg kennen, für die sie aus Angst, sie könnte ihr Essen für minderwertig halten, extra eine Schwarzwälder Kirsch-Torte kauften. Auch Frau Gruber muss einmal auf die Toilette und Jimmy sitzt in diesem Moment in seinem Zimmer. Oder besser gesagt hinter einem Vorhang neben der Badtür. Die Minuten verstreichen und weil sich immer noch nichts tut oder die Spülung betätigt wird, fragt Jimmy nach. "Ich kann nicht, wenn du da vor der Tür in deinem Bett sitzt." klang es aus dem Bad und es entwickelt sich ein kurzes Gespräch. Und damit ist es dann um ihn geschehen. Sie treffen sich ab jetzt häufiger 'zufällig' in der Stadt , Jimmy begleitet irgendwann seine Mutter zur Arbeit und pflegt Frau Grubers Garten. Trotz ihres großen Altersunterschieds entwickelt sich nach und nach ein Art Liebesbeziehung zwischen den beiden, sie unterstützt ihn, liebt ihn und für ihn ist es das größte Glück, denn mit ihr kehren auch Bücher, Bildung und Möglichkeiten in sein Leben.

"Was ich an wohlhabenden Menschen immer schon mochte, das ist ihre Selbstverständlichkeit. Diese unumstößliche Gewissheit, die sie in sich tragen, rechtmäßig sie selbst und also vermögend zu sein. Dass sie sich einen Großteil der Gedanken, die sich die Menschen, unter denen ich aufgewachsen bin, jeden Tag, jede Nacht machen müssen, noch nie in ihrem Leben gemacht haben. Ein Vorwurf ist daraus nicht abzuleiten, die meisten Menschen sind nun mal völlig selbstverständlich sie selbst, egal, ob arm oder reich."

Während des Studiums führen ihn durch einen diebischen Zufall die Wege zu Alex Donelli, einen sehr charismatischen und von den Student:innen sehr bewunderten Professor. Jimmy arbeitet für ihn, unterrichtet, nicht offiziell angestellt und doch schwappt Donellis Ansehen auch auf ihn über, aber das macht es ihm nicht wirklich einfacher. Er arbeitet hart, vielleicht als 'Ausländer' noch härter als viele andere und doch kann ihn das vor dem tiefen Fall nicht bewahren.
Seine Geschichte ist ein Blick auf Deutschland aus der Sicht einer Einwandererfamilie, geprägt durch Unterschiede, verschiedene soziale Herkünfte, Vorurteile und eben auch der Liebe. Oder wie es der Klappentext so schön sagt... >"Jahre mit Martha" erzählt vom Glanz und vom Elend, von Macht und Zärtlichkeit - ein Roman über die Frage nach dem Gleichgewicht der Welt.<

Vor Jahren habe ich Martin Kordićs ersten Roman "Wie ich mir das Glück vorstelle" über Viktor und wie er versucht nach dem Krieg, ohne seine Familie klar zu kommen, durchs Land streift, Freundschaften schließt... gelesen. Ich kann mich nicht mehr an vieles erinnern, aber irgendwie das Gefühl ist das gleiche. Es ist eine Geschichte, der man gerne folgt, bei der man großes erwartet, ein Stück weit mit dem Protagonisten verbunden ist, dann irgendwie doch alles anders wird und schließlich klappt man das Buch kurze Zeit später zu, denkt noch einmal kurz darüber nach und schon verflüchtigt sich alles wieder. Und so erging es mir auch bei "Jahre mit Martha". Gerade den Anfang und die Kennlernphase der beiden habe ich geliebt, auch als es mit Željko weiter geht, das Leben ihm weitere schicksalslenkende Begegnungen schenkt und er sich weiterentwickelt, fand ich die Erzählung noch sehr spannend, aber dann zog sich alles in die Länge, seine Handlungen drifteten ins Fragwürdige ab und ich verlor die Bindung zu ihm und so dann auch zur Geschichte. Da konnte mich dann selbst das berührende Ende nicht mehr wirklich umstimmen.

Aber Martin Kordić erzählt nicht nur von dieser ungewöhnlichen, sowie ungleichen Liebesgeschichte, sondern zeichnet auch ein Bild vom Einwandererland Deutschland. Wie ergeht es Menschen hier, die sich gefühlt ständig beweisen müssen? Wie kommt man voran, wenn man nichts hat? Ist Bildung wirklich alles? Und wie sieht es mit den Vorurteilen aus? Man lernt als Leser*in Deutschland aus einer anderen Perspektive kennen, was wirkllch nett ist. Zwar geht Kordić nicht über die bekannten Klischees hinaus, aber als Nicht-Einwanderkind gibt einem Željkos Geschichte doch so einiges zu bedenken, ohne dass daraus gleich so etwas vorwurfsvolles wird. Und ohne, dass man Vorkenntnisse über die Situation in anderen Ländern braucht oder es in dem Roman zu Gewaltausbrüchen kommt. Es ist eine gut erzählte Geschichte, die thematisch schon einiges zu bieten hat und sich auch für Menschen eignet, die gerne Herzschmerzgeschichten und weniger aktuell kritische Literatur lesen. Für mich hätte es auch ein Lieblingsbuch werden können, aber mir persönlich hat einfach der letzte Funke oder besser gesagt die Möglichkeit die Handlungen des Protagonisten bis zum Schluss nachvollziehen zu können, gefehlt. Ich frage mich noch immer warum er so weitergemacht hat und nicht anders und warum sie sich aus den Augen verlieren mussten... Das Leben ist zwar auch nicht immer logisch, aber das war für mich einfach nicht stimmig.

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