Heidi Furres eindringlicher Roman über die Auswirkungen einer Vergewaltigung
MachtMan möchte es sich eigentlich gar nicht vorstellen müssen, was eine Vergewaltigung mit dem eigenen Leben macht, wie eine fremdbestimmte Tat plötzlich das ganze Leben prägt und beeinflusst und doch ist ...
Man möchte es sich eigentlich gar nicht vorstellen müssen, was eine Vergewaltigung mit dem eigenen Leben macht, wie eine fremdbestimmte Tat plötzlich das ganze Leben prägt und beeinflusst und doch ist es ein Fakt, dass allein in Norwegen jede 10. Frau Opfer einer Vergewaltigung ist/wird. Jede Zehnte. Und wenn man das hochrechnet, auf andere Länder überträgt, in denen es vielleicht sogar noch schlimmer ist und die Dunkelziffer immens, bleiben einem fast schon die Worte im Hals stecken. Schon der Gedanke daran betrübt und lähmt mich, und gefühlt könnte ich dazu wirklich nichts sinnvolles beitragen, noch schlaues sagen. Umso glücklicher bin ich, dass es dann so Bücher wie "Macht" von Heidi Furre [aus dem Norwegischen von Karoline Hippe] gibt. In ihm erfahren die Leserinnen sehr eindrucksvoll und intensiv, wie es ist mit diesem Trauma zu leben, gar zu überleben und mit welchen Gedanken und Triggern sich Betroffene ständig auseinandersetzen müssen.
“Meine Mauer besteht nicht nur aus Tabletten. Sie besteht aus Ritualen und Regeln. Meine Klamotten sind ein Panzer. Wie bei Kindern, die sich als Piraten, Prinzessinnen und Feuerwehrleute verkleiden. Sie verkleiden sich um keine Kinder mehr zu sein, so wie ich mich verkleide, um keine Vergewaltigte mehr zu sein. Ich bügle meine Blusen und reinige meine Haut. Das ist mein Überlebensmodus. Der Körper weiß, was passiert ist, und kann es nicht verbergen. Man kann es mir ansehen. Und ich sehe es anderen an.”
Auf den ersten Blick scheint Liv ein gutes Leben zu führen. Sie lebt gemeinsam mit ihrem Mann Terje und ihren Kindern Rosa und Johannes in einem Einfamilienhaus in Oslo, wirkt gut situiert, achtet auf sich und ihr Erscheinungsbild. Sie arbeitet in einem Pflegeheim und kümmert sich dort hauptsächlich um die jüngeren, kranken Patienten. Und das scheint sie wirklich gut im Griff zu haben, aber eben nur äußerlich. Innerlich ist nichts mehr wie es einmal war. Seit dieser einen Nacht versucht sie den Schein aufrecht zu halten und doch bricht es immer wieder aus ihr heraus. Sie hat versucht die Erinnerungen wegzusperren, sich zu betäuben, auszuweichen, gar mit Rachegedanken gespielt und doch egal was sie tut, muss sie es nach wie vor aushalten in der Hoffnung irgendwann einen Weg zu finden damit umzugehen. Vielleicht würde sie es sogar schaffen, doch als der Bruder einer Patientin, der vor Jahren wegen einer Vergewaltigung angeklagt wurde, ihr über den Weg läuft, steht sie plötzlich noch einmal vor einer ganz anderen Herausforderung... "Macht" zeigt sehr eindrucksvoll ihren Weg oder besser gesagt ihren Versuch der Ermächtigung, ihren Kampf mit ihrem neuen, alten Leben und legt eine ungeahnte Stärke frei, die doch viel zu häufig von Außenstehenden als Schwäche abgetan wird.
"Er ist so unbedeutend. Er ist nur diese eine Nacht. So, wie auch ich für ihn unbedeutend war. Das ist die einzige Rache, die mir bleibt. Er hat mich zum Objekt gemacht, also mache ich ihn zum Objekt. Zu einem Verbrecher und einem Kriminellen. Er ist entmenschlicht. Wenn ich an diese Nacht denke, dann meistens, ohne an ihn zu denken. Er ist ein graues Loch, das jemand in meine Erinnerung geschnitten hat."
Dieses Buch finde ich so wahnsinnig beeindruckend. Ich könnte beinahe das ganze Buch zitieren und würde noch immer weitere Gedanken darin finden. Heidi Furre hat teilweise sehr poetisch, aber auch sehr eindringlich beschrieben, wie das Leben sich durch eine Vergewaltigung, auch wenn man selbst an Einzelheiten zweifelt, verändert, wie Gegenden, Gegenstände und Gerüche... plötzlich einen viel größeren, bedeutsameren und betäubenderen Einfluss erhalten. Und obwohl ich recht häufig Romane mit Traumatabezug lese, so fand ich diesen Roman nochmal viel intensiver, umfangreicher und um einiges Augen öffnender. Zwar konnte ich mir bereits vorstellen, wie einem Menschen durch so eine Tat plötzlich die Sicherheit geraubt wird, wie ersie versucht sich zu schützen und in ein großes Loch stürzt, gar verschwinden möchte, doch gerade so Aussagen wie: "Du glaubst vielleicht, ich sei ein kaputter Mensch. Dass ich hier einfach rumliege und eine Vergewaltigte bin. Aber das bin ich nicht. Ich bin alles andere. Das Leben bleibt für Vergewaltigte nicht stehen." oder "Wenn du sagst, du bist vergewaltigt worden, dann bist du das in den Augen der anderen auch. Und wenn du es nicht sagst, dann stehst du ganz alleine da. Es ist eine Falle." enthalten so Gedanken, die viel größeres bedeuten (wollen). Für Liv ist es ein ständiger Kampf der Opferrolle zu entkommen, sich selbst wieder zu ermächtigen und sich als starke Frau sehen und fühlen zu können. Doch seit dieser Nacht fühlt sie sich wie ein Kind, das ständig eine Rolle spielen muss, unsicher durchs Leben geht und selbst an einfachen Situationen, wie einem Zahnarztbesuch fast scheitert. Und gerade diese ganzen Ausprägungen sind einem als Außenstehenden nie wirklich präsent. Ein Stück Wald, ein unbeleuchteter Tunnel, ein plötzlich auftauchender Duft, eine unbedachte Handlung eines anderen... alles kann das mühevoll zugeschüttete Loch wieder aufreißen und das beinahe tagtäglich, wenn nicht sogar noch viel häufiger.
Dieses Buch sensibilisiert und macht verständlich wie es ist mit einem Trauma leben zu müssen, für das eigene Leben zu kämpfen, während es für andere unbedeutend erscheint. Und eine jeder sucht sich andere Ausflüchte, wird anders getroffen, muss sich anderen Dämonen stellen. Es ist ein wichtiges Buch um vielleicht auch toleranter und verständnisvoller mit und für Menschen zu werden. Sicherlich kein Allerheilmittel und dennoch macht dieser Roman was mit einem, ich glaube zumindest, ich habe zum ersten Mal ein (fremdes/anderes) Trauma so wirklich gefühlt und verstanden.
“Manchmal ist es schlimmer zu sagen, ich bin vergewaltigt worden, als tatsächlich vergewaltigt zu werden. Als würde man eine Todesnachricht überbringen. Man muss dabei zusehen, wie die anderen mit Abscheu reagieren. Für sie ist die Abscheu nur ein vorübergehendes Gefühl, etwas das sie ablegen können. Aber in mir hat sie einen festen Platz, wie ein inneres Organ.”