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Veröffentlicht am 12.03.2023

Ein traugig schönes Debüt

Der Inselmann
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»Es ist so kalt, dass selbst der Wind fror.« S. 7

Ich mag es, wenn erste Sätze ein Versprechen abgeben, das sie bis zur letzten Seite einhalten, sich übertreffen, sich hinterfragen, mich einhüllen, mich ...

»Es ist so kalt, dass selbst der Wind fror.« S. 7

Ich mag es, wenn erste Sätze ein Versprechen abgeben, das sie bis zur letzten Seite einhalten, sich übertreffen, sich hinterfragen, mich einhüllen, mich leiten, mich entschleunigen und berühren.

Hans ist ein stiller Junge, frierend und geduldig harrt er am Ufer aus, wartet mit seinen Eltern auf den Kahn, der sie auf eine einsame Insel bringen soll. Mit ihren wenigen Habseligkeiten wollen sie weg aus der Stadt. Eine Art Flucht vor dem Leben, den Menschen und der Wirklichkeit, eine Flucht nach innen. Und Hans weiß, dass nun alles besser wird. Das neue Leben ist hart und entbehrungsreich, doch Hans ist glücklich. Er fühlt sich als König der Insel, über die er oft stundenlang streift. Zapfen, Scherben und Blätter sind seine Schätze. Hier kann er sein, der er ist.
Doch das unbekümmerte Leben endet, als die Schulbehörde ihn von der Insel holen lässt. Kurz darauf landet er auf der »Burg«, einem Heim für schwererziehbare Kinder.

Von seinem Direktor heißt es:
»Er sprach mit hoher, rauer Stimme, es klang wie ein Draht, der gegen einen Balken schnarrt. Seine Augen waren ausgeschnitten aus einer Zeitung voller schlechter Nachrichten.« S. 111

Was ihn durchhalten lässt, ist sein Wunsch, auf seine Insel zurückkehren zu können. Doch seine Odyssee hat gerade erst begonnen.

Was für ein Buch!
Reduziert auf das Wesentliche und doch emotional so tiefgehend und aufwühlend. Hans’ Geschichte ist von Beginn an drückend, sagt er doch, dass er seine Eltern mehr liebe als sie ihn. Als Leser möchte man ihn in den Arm nehmen, wenn seine Mitschüler ihn mobben, seine Eltern in Sprachlosigkeit versinken.

Hans zeigt immer wieder Stärke, Empathie und trotzt schon fast dem Leben, das es nicht immer gut mit ihm meint. Aber nicht nur Hans’ Schicksal hat mich berührt, sondern auch Gieselmanns Worte – poetisch, bildhaft, leise, zärtlich und voller Melancholie, bisweilen philosophisch. Immer wieder habe ich Pausen eingelegt, um einen Satz oder einen Abschnitt ein zweites Mal zu lesen, oder ein drittes, ein viertes Mal. Auf der letzten Seite hatte ich das Bedürfnis, das Buch nochmals von vorn zu beginnen.

»Auch diese Geschichte breitet sich aus in konzentrischen Kreisen, im Verschwinden begriffen, in ihrer Mitte ein versunkener Stein. Ist sie traurig? Ist sie schön? Ist sie beides?« S. 23

Zeitlich wird das Buch Ende der 60er Jahre zugeordnet, örtlich aber nur »in einem entlegenen Ort Deutschlands«. Darüber lässt sich insofern spekulieren, dass das Individuum und die Freiheit des Einzelnen sich einer Gesellschaftskonformität unterzuordnen haben. Auf jeden Fall schafft die intensive Atmosphäre viel Raum für eigene Gedanken. Mit seinem Debüt hat Gieselmann einen literarischen Fußabdruck hinterlassen.

Am Ende blieb ein Moment der Stille, der Nachdenklichkeit. Haben wir nicht alle manchmal den Wunsch nach Einsamkeit, nach einer Flucht aus der Realität?

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Veröffentlicht am 12.03.2023

Thriller -Kriegepos - Liebesgeschichte

Fünf Winter
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Wäre Joe McGrady an dem Tag Ende November 1941 nicht ans Telefon gegangen, wäre sicher alles ganz anders gekommen. Diese Überlegung wird McGrady noch viele Jahre durch den Kopf gehen.
Als Detectiv beim ...

Wäre Joe McGrady an dem Tag Ende November 1941 nicht ans Telefon gegangen, wäre sicher alles ganz anders gekommen. Diese Überlegung wird McGrady noch viele Jahre durch den Kopf gehen.
Als Detectiv beim Honolulu PD muss bei seinem ersten Mordfall den Tod zweier junger Menschen aufklären. McGrady ist ein Militärveteran, kein Einheimischer und somit der Außenseiter im Department und muss sich seine Anerkennung erst verdienen. Doch der Fall wird zum Politikum, da es sich bei dem Toten um den Neffen des Oberbefehlshabers der Pazifikflotte Kimmel handelt. Wer jedoch die tote Japanerin ist, die ebenfalls schwer misshandelt wurde, weiß niemand.
Schnell ist man einem gewissen John Smith auf der Spur, der auf seiner Flucht nach Hongkong weiter Leichen zurücklässt. Der Fall soll eingestellt werden, doch Kimmel macht Druck, sodass McGrady Smith nach reist. McGrady hofft, bis Weihnachten wieder bei seiner Freundin Molly zu sein, die er aufrichtig liebt. Doch der Eingriff Japans in den 2. Weltkrieg mit dem Angriff auf Pearl Harbor macht seine Pläne zunichte. In Hongkong wird er zunächst wegen einer angeblichen Vergewaltigung verhaftet. Während er in seiner Zelle schmort, übernehmen die Japaner Hongkong. Als angeblicher Spion wird er nach Japan gebracht. Takahashi Kansei, ein Diplomat, der gegen die Kriegspolitik Japans arbeitet, verhilft ihm zur Flucht. Ihm und seiner Tochter Suchi hat er es zu verdanken, dass er überlebt und nach Honolulu zurückkehren kann. Allerdings muss er dort die Suche nach dem Mörder als Privatdetektiv fortsetzen.

Fünf Winter ist ein klassischer Roman noir mit einem prototypischen hartgesottenen Helden. McGrady ist zynisch, aber prinzipientreu und ehrgeizig genug, um einen Fall fünf Jahre lang zu verfolgen. Es ist schwer, Joe McGrady nicht zu mögen.

MacGradys Suche nach dem Mörder wird sich, wie der Titel schon sagt, über den gesamten Verlauf des Krieges hinziehen. Der Krimis entwickelt sich somit zu einem Kriegsepos.
Trotz vieler detaillierter Beschreibungen langweilt Kestrel uns nicht mit historischen Fakten, sondern stellt die einzelnen Figuren, deren Motivation zum Handeln und Schicksale in den Vordergrund verbunden mit der traumatischen Auswirkungen des Krieges. Er zeichnet kein Schwarz-Weiß-Bild, sondern zeigt, dass alle Seiten schwere Schicksalsschläge hinnehmen müssen. Auch seine Charaktere sind tiefgezeichnet und sorgen für einige Überraschungen.

Etwas skeptisch war ich, dass sich hier verschiedene Genre verbinden sollten – ein Thriller, Kriegsporträt und Liebesgeschichte. Im Nachhinein muss ich sagen, dass ihm das meisterlich gelungen ist, ein komplexes, niveauvolles Hard-boiled-Epos zu kreieren, dem selbst Stephen King und Dennis Lehan Respekt zollen.
Die eingewobene melancholische, bittersüße Lovestory, die wir bis zum Ende verfolgen, gleitet nie ins Kitschige ab.

Es ist eine Geschichte von Mut und Einsamkeit, von Liebe und den dramatischen Auswirkungen eines Krieges. »Five Decembers« wurde 2022 mit dem Edgar Award für den besten Krimi des Jahres ausgezeichnet.

Einen kleinen Kritikpunkt habe ich allerdings. Die Übersetzung hält sich in manchen Teilen sehr an den englischen Satzaufbau, was das Leseerlebnis etwas störte. Das ist aber sicher mein persönliches Empfinden.

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Veröffentlicht am 23.08.2023

Eine verbotene Liebe in Belfast 1975

Übertretung
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1975 vergeht kein Tag in Belfast und Umgebung, an dem es keine Verletzten oder Toten gibt. Es zählt nicht, wer du bist, sondern was – katholisch oder protestantisch.
Cushla Lavery, 24, ist katholisch und ...

1975 vergeht kein Tag in Belfast und Umgebung, an dem es keine Verletzten oder Toten gibt. Es zählt nicht, wer du bist, sondern was – katholisch oder protestantisch.
Cushla Lavery, 24, ist katholisch und bedient im Pub ihres Bruders Eamonn überwiegend protestantische Gäste. Zu Hause muss sie sich um ihre Mutter kümmern, die seit dem Tod ihres Mannes trinkt.
Vormittags arbeitet Cushla an einer Grundschule, wo die Unterrichtsstunde mit den neusten Nachrichten und deren Gräueltaten beginnen. Sprengfallen, Brandsätze, Plastiksprengstoff – gehören zum Wortschatz eines siebenjährigen Kindes.
Den kleinen Davy hat Cushla besonders in Herz geschlossen, da er von den anderen Mitschülern gemobbt wird und aus schwierigen Verhältnissen kommt, denn seine Eltern haben unterschiedliche Konversionen und sind immer wieder Ziel von Anfeindungen. Als wäre ihr Leben nicht schon kompliziert genug, verliebt sie sich in den älteren, protestantischen, verheirateten Anwalt Michael, der auch IRA-Mitglieder verteidigt.
Es ist erschütternd zu lesen, wie Cushla in diesen unsicheren Zeiten versucht, einen normalen Alltag aufrechtzuerhalten, den Kindern in der Schule trotz allem Sicherheit und Mitgefühl zu geben.
Im Vordergrund steht aber Cushlas verbotene Liebe zu Michael. Welche Konsequenzen das für sie haben kann, wird mit dem Fortgang der Geschichte immer deutlicher. Lehrerinnen sind schon für weniger entlassen worden. Doch auch ihre Hilfsbereitschaft für Davys Familie ist anderen ein Dorn im Auge und wird ihr, aber vor allem Davy, schneller zum Verhängnis, als gedacht.
Ich kenne diese Phase des Nordirlandkonfliks nur noch als Kind, aber es haben sich einige Bilder bei mir eingebrannt, die durch diese Geschichte wieder lebendig wurden.

Kennedy schafft eine zunehmend bedrückende Atmosphäre, denn die tägliche Gewalt zieht sich fast beiläufig und nüchtern durch den Roman. Wir erleben, wie der Alltag mitten im Nordirlandkonflikt aussieht, wie gewöhnliche Menschen sich nicht einschüchtern lassen und versuchen eine gewisse Normalität beizubehalten, ihr Leben trotz allem zu genießen, eine Hochzeit zu feiern, auch wenn diese verlegt werden muss, weil auf das gebuchte Hotel am Vortag ein Brandanschlag verübt wurde. Die Angst lauert hinter jeder Ecke, schaut man mit bangem Blick doch laut Verhaltensregeln morgens erst unter sein Autor, bevor man zur Arbeit fährt. Selbst auf dem Weg zur Party muss man mit den Schikanen britischer Soldaten rechnen.
Trotz ständig gegenwärtiger Gewalt pflanzt Kennedy immer wieder kleine Momente der Hoffnung ein, oder humorvolle, herzerwärmende Szenen, ohne kitschig zu werden. Doch alles weist von Beginn an darauf hin, dass die Geschichte nicht gutausgehen kann. Ständig zieht die Spannungsschraube an, aber auf die Wendung, die Kennedy am Ende einbaut, war ich nicht gefasst, auch wenn die Anzeichen die ganze Zeit da waren.
Ihr Schreibstil ist betont nüchtern und sachlich, auch die Liebesgeschichte wird wenig romantisch erzählt. Trotzdem schafft es Kennedy, uns die Charaktere, insbesondere Cushla und Davy, sehr nahezubringen und uns an sie zu binden. Und das war auch der Grund, weshalb mir das Ende sehr naheging.
Ich hatte zwar das Gefühl, dass Kennedy hier einiges an Geschichtswissen voraussetzt, das mir fehlte und mir dadurch vielleicht ein paar Kleinigkeiten entgangen sind, aber es bleiben trotzdem alle Zusammenhänge verständlich. Hilfreich sind auch die Anmerkungen im Anhang, die einige politische Details erklären.
Ein aufwühlender und intensiver Roman voller scharfsinniger Beobachtungen und brillanten Details, der absolut lesenswert ist und mich noch eine ganze Weile beschäftigen wird.
»Übertretung« ist der erste Roman der irischen Autorin Louise Kennedy und stand auf der Shortlist des Women‘s Prize for Fiction.

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Veröffentlicht am 20.08.2023

Ein Sommernachtstraum aus Österreich

Nincshof
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Jahrhundertelang liegt Nincshof versteckt von der Außenwelt zwischen den Sümpfen an der ungarisch-österreichischen Grenze – bis diese trockengelegt werden. Sehr zum Ärger der Nincshofer und Nincshoferinnen. ...

Jahrhundertelang liegt Nincshof versteckt von der Außenwelt zwischen den Sümpfen an der ungarisch-österreichischen Grenze – bis diese trockengelegt werden. Sehr zum Ärger der Nincshofer und Nincshoferinnen. Denn die sind ein recht sonderbares Völkchen, das gern seine Ruhe vor der Außenwelt hat.

Ach wo soll ich nur anfangen bei dieser wunderbaren Geschichte? Am besten mit Erna Rohdiebl, die mit ihren fast 80 Jahren und zwei Plastikhüften nachts bei der verreisten Nachbarin über die Hecke steigt und im Pool baden geht. Wie in jedem Dorf üblich, wissen morgens alle davon. Auch der Bürgermeister, denn genau so eine freiheitsliebende und mutige Mitstreiterin hat ihm noch gefehlt. Zu dritt überzeugen sie Erna bei Pusztafeigenschnaps und Speckbroten, den Oblivisten beizutreten. Seit Monaten entfernen sie Ortsschilder, löschen Wikipediaeinträge, manipulieren sogar Navis und besprühen auswärtige Radfahrer mit Jauche, damit um Himmelswillen keiner den Weg nach Nincshof findet. Denn sie wollen am liebsten von allen vergessen (lat. oblivisci) werden und zurück in ihr heimeliges, eigenbrötlerisches Dorfleben – so, wie es früher laut einer Legende einmal war. Wären da nicht die Zuagrasten mit ihren leuchtenden Irrziegen, die daraus am liebsten eine Touristenattraktion machen wollen.

Man sollte hier keine oberflächliche nur auf Humor abzielende Dorfgeschichte erwarten. Ja, ich hatte ein Dauergrinsen im Gesicht, denn das kauzige Personal hat das Herz am rechten Fleck und die Autorin ist nie drüber mit ihren skurrilen Schilderungen. Außerdem lehnt sie sich an den österreichischen Sprachgebrauch an, was ich wirklich gern lese. Hinter ihrer fast märchenhaften Geschichte verbirgt sich einiges. Wünschen wir uns nicht alle gern mal in dieser medial aufmerksamgeilen Welt ein ruhiges Plätzchen? So ganz ohne Verpflichtungen, Steuern, Oberhäuptern und Religion?

Was das Buch aber so liebenswert macht, sind die herzigen und aberwitzigen Details. Hier vererben die Frauen ihren Nachnamen und zetteln die kleinste Revolution der Welt an, hier gibst ein Jesusschwein im Krippenspiel, Pusztafeigen, mit denen man zwar monatelang überleben kann, aber auch schnell Gespenster sieht. Bisschen Asterixfeeling hat man schon beim Lesen, das gebe ich zu. Und wer sich jetzt an die Leky erinnert fühlt – ja, mir ist es auch ein bisschen so gegangen.
Hin und wieder sind ein paar Passagen zu langatmig geworden, wie zum Beispiel die Erörterung des Oblivismus. Auch Selma hätte es nicht in der Ausführlichkeit gebraucht, da es sehr von der Geschichte ablenkte. Aber das ist Meckern auf hohem Niveau.
Es ist einfach herrlich schräg, ich kann es nur jedem als DAS SOMMERBUCH ans Herz legen. Und wenn es abends bisschen kühler ist, lässt sich auch über das eine oder andere nachdenken. Erna Rohdiebl hat jetzt einen festen Platz in meinem Herzen. Ich hoffe, wir bekommen noch mehr von der jungen Autorin zu lesen.

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Veröffentlicht am 15.08.2023

Unheimlich bewegend und mitreißend

Kontur eines Lebens
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Kurz nach dem Tod ihres Mannes Louis zieht Frieda Tendeloo ins Pflegeheim. Plötzlich ist sie allein, alles um sie herum ist fremd, von dem, was sie besaß, ist ihr nicht viel geblieben und der Rest wird ...

Kurz nach dem Tod ihres Mannes Louis zieht Frieda Tendeloo ins Pflegeheim. Plötzlich ist sie allein, alles um sie herum ist fremd, von dem, was sie besaß, ist ihr nicht viel geblieben und der Rest wird derweil von ihrem Sohn und seiner schwangen Frau auf dem Sperrmüll entsorgt. In den einsamen Stunden drängen nach und nach alte Erinnerungen ans Licht.
Damals in den 60ern lebte sie mit Anfang 20 noch bei ihren Eltern. Eingeengt von deren autoritären Erziehung und konservativen Wertvorstellungen blieb kaum Freiraum für ihre persönliche Entwicklung, geschweige denn für ihre Träume und Wünsche. Dann verliebte sie sich in den verheirateten Otto und wurde trotz aller Vorsicht schwanger – ein absoluter Skandal, vor allem für ihre Eltern.

»Du bist eine ordinäre Schlampe!« … die Worte ihrer Mutter.

»Du musst es zur Welt bringen und danach vergessen.« … die Worte ihres Vaters.

Diese Worte blieben mir beim Lesen fast im Hals stecken. Für mich unvorstellbar, aber in der damaligen Zeit wohl keine Seltenheit.
Jetzt mit über achtzig Jahren kehren alle Erinnerungen zurück, die sie verdrängt und nie jemandem erzählt hat. Auch nicht ihrem Louis, den sie später geheiratet hat und mit dem sie sehr glücklich war. Doch sie spürt, dass das Erlebte heraus muss, dass sie sich endlich aussprechen muss.

Was für eine emotionale Achterbahnfahrt. Schon bei Friedas erster Nacht im Heim hatte der Autor mich emotional voll am Wickel. Vielleicht liegt es an meinem Alter und dass mich vielleicht nicht mehr allzu viele Jahre von dem Thema Pflege trennen. Es war fast fühlbar, wie unsicher Frieda war in der neuen, fremden Umgebung, wie sie unwirsch wird, ihr alles zu viel wird. Ihre Scham, auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen zu sein. Die Spannungen zwischen ihr und ihrem Sohn, das Unverständnis füreinander. Langsam reift in ihr der Vorsatz, ihre Vergangenheit zu verarbeiten und nicht mehr zu schweigen.

Auch die junge Frieda mit ihrer Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben, nach Freiheit, Liebe und Verständnis, konnte Robben sehr authentisch einfangen. Doch ab dem Moment, als sie ihre Schwangerschaft nicht mehr verheimlichen konnte, hat es mich innerlich zerrissen. Ich war schockiert, weil es sich trotz Fiktion so real angefühlt hat. Robben hat einen sehr einfühlsamen Schreibstil, sehr lebendig und schafft eine Atmosphäre, der man sich nicht entziehen kann. Die abwechselnden Zeitebenen in jedem Kapitel treiben die Geschichte in einer Geschwindigkeit voran, dass mancher Krimi daneben verblassen würde. Verschnaufpausen sind kaum drin.

Ich denke, die meisten von uns kennen die 60er Jahre nur aus Erzählungen, zumindest geht es mir so. Dennoch ist uns das Rollenbild der Frau aus der Zeit bekannt. Sittsamkeit, Jungfräulichkeit, Unterordnung werden von der Kanzel gepredigt. Und »ist es doch mal passiert«, schweigt man es tot, löst man es ungesehen vor der Nachbarschaft, ja sogar vor dem Rest der Familie. Und die Lösung hieß in den meisten Fällen, dass die Mutter das Kind wegzugeben hatte. Und die Kirche hatte dabei keinen unerheblichen Anteil.
Mit Frieda hat Robben hier stellvertretend eine Frauenfigur geschaffen, die dieses Schicksal duldsam, schweigsam hinnahm, die ohnmächtig gegenüber der damaligen Moralvorstellungen war. Die aber beeindruckende Stärke zeigte, sich nicht dem Schicksal untergeordnet hat und mit Louis eine zweite Chance auf eine glückliche Beziehung bekam und Mutter wurde.

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