Gelungener Mix von Fakten und Fiktion
Während des Zweiten Weltkriegs hatte speziell das dichtbesiedelte Londoner East End unter den wiederholten Bombenangriffen der deutschen Luftwaffe zu leiden. Tausende Menschen kamen ums Leben, und die, ...
Während des Zweiten Weltkriegs hatte speziell das dichtbesiedelte Londoner East End unter den wiederholten Bombenangriffen der deutschen Luftwaffe zu leiden. Tausende Menschen kamen ums Leben, und die, die überlebten, verloren durch die Bombardierungen, bei denen unzählige Häuser dem Erdboden gleich gemacht wurden, das Dach über dem Kopf. Unter dem Druck der Bevölkerung beschloss die Regierung, U-Bahnstationen zu Luftschutzbunkern umzufunktionieren, und so suchten zwischen 1940 und 1945 ca. 63.000.000 Menschen Schutz in den Londoner U-Bahnhöfen. So auch in der noch im Bau befindlichen Station Bethnal Green, in deren Tunneln und Bunkern nach und nach eine Stadt unter der Stadt entstand, wo es neben 5000 Schlafplätzen und warmen Mahlzeiten auch ärztliche Versorgung, ein Theater, Kinderbetreuung und eine Bibliothek gab.
Soweit die historisch belegten Tatsachen, die den Hintergrund für Kate Thompsons 1944/45 zeitlich verorteten, warmherzigen und dennoch nie kitschigen Roman „Die Bibliothek der Hoffnung“ bieten.
Das Herz dieser Bücherei sind die Bibliothekarin Clare, eine junge Witwe, und ihre Assistentin Ruby, die seit dem Tod ihrer Schwester (bei der Massenpanik 1943, ebenfalls historisch verbürgt) mit Schuldgefühlen und Panikattacken kämpft. Diese beiden halten den Laden am Laufen, auch wenn ihnen ihr Vorgesetzter immer wieder Knüppel zwischen die Beine wirft. Die beiden Frauen verleihen nicht nur Bücher, sie sind nicht nur für die meist weiblichen Bewohner des Shelters mittlerweile ein unverzichtbarer Bestandteil ihres Alltags geworden und unterstützen sie bei ihren Problemen. Manches geschieht offiziell, wie beispielsweise die abendlichen Vorlesestunden für die Kinder und deren Betreuung unter Tag, oder der Lesekreis für die Erwachsenen, der Abwechslung in das triste Leben zwischen Fabrikarbeit und täglichen Pflichten bringt. Anderes läuft unter der Hand, wie beispielweise die Verteilung der Broschüren über Empfängnisverhütung oder die Ermunterung und Hilfe für die Frauen, die ihre prügelnden Männer verlassen wollen. Aber Clare hat auch ein Auge auf Kinder, die ihr Potential ohne Förderung nicht entwickeln können oder ohne elterliche Fürsorge auskommen müssen. Ihnen bietet sie Unterstützung im Alltag und kümmert sich rührend um sie. So weit, so gut. Aber natürlich kommt neben diversen dramatischen Ereignissen auch die Liebe nicht zu kurz, schiebt sich aber weder in den Vordergrund noch überlagert sie das eigentliche Thema.
Kate Thompson hat eingehend für diesen Roman recherchiert, was das Nachwort und die ausführliche Literaturliste am Ende des Romans belegt. Sie verbindet gekonnt Fakten und Fiktion und lässt uns in abwechselnden Kapiteln aus der Sicht von Clare und Ruby am täglichen Leben in dem vom Krieg gebeutelten East End teilhaben. Aber vor allem ruft sie uns die Bedeutung von Bibliotheken und Büchern in schweren Zeiten ins Gedächtnis, die Hoffnung und die Zuversicht, die sie verbreiten, ihre helfende und heilende Wirkung, wenn Verlust und Zerstörung den Alltag bestimmen.
Nachtrag: Vor vielen Jahren habe ich die Kanalinseln besucht, weshalb ich die Beschreibungen über das Leben auf Jersey nach der Invasion der deutschen Truppen sehr berührend fand. Von Churchill und dessen Regierung wurden sie im Stich gelassen, weil ihnen kein strategischer Wert zugemessen und sie deshalb nicht verteidigt und zur leichten Beute der Nationalsozialisten wurden. Was folgte waren fünf Jahre Leid, Bespitzelung, Terror, Konzentrationslager und Tod für viele Menschen.