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Veröffentlicht am 15.03.2023

Eine Seefahrt

Unter Deck
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Zu Beginn des Romans lernt Olivia Mac kennen, einen Bootsbesitzer, der sie ihren Rausch auf seinem Segelboot hat ausschlafen lassen. Er bietet ihr an, mit ihm und einer Freundin in den nächsten Wochen ...

Zu Beginn des Romans lernt Olivia Mac kennen, einen Bootsbesitzer, der sie ihren Rausch auf seinem Segelboot hat ausschlafen lassen. Er bietet ihr an, mit ihm und einer Freundin in den nächsten Wochen zu segeln. Der Segeltörn mit Mac und Maggie bringt Olivia dem Meer nahe und veranlasst sie dazu, die nächsten vier Jahre auf Segelschiffen zu arbeiten. Bis zu einem Törn, bei dem sie sich als einzige Frau mit einer Gruppe von Männern auf einer Yacht wiederfindet. Der Törn wird für sie zum Trauma. Eine Vergewaltigung und Demütigungen reihen sich aneinander und führen dazu, dass sich Olivia vom Leben auf dem Wasser verabschiedet. Sie zieht nach London, arbeitet fortan in einer Galerie und kuratiert Ausstellungen für Künstlerinnen. Doch die Erlebnisse der Vergangenheit lassen sie nicht los und sie merkt, dass sie sich ihnen stellen muss.

“Unter Deck” ist ein Roman über den Umgang von Männern mit Frauen in der heutigen Gesellschaft. Oli wird von den Männern auf der Yacht nicht als vollwertig genommen. Sie trauen ihr nicht zu, dass sie das Boot alleine segeln kann, trotz ihrer vierjährigen Erfahrung. Stattdessen sehen sie in ihr an erster Stelle ein Objekt der Begierde und höchstens noch eine Köchin. Ähnlich geht es vielen Künstlerinnen. Auch sie werden mit ihrer Arbeit nicht wahr- und ernstgenommen.
Der Roman erzählt davon, wie es ist, mit den eigenen Talenten, Wünschen, Zielen und Anliegen nicht in der Mitte stehen zu dürfen, sondern ständig an den Rand gedrängt zu werden. So wird auch der Zugang für POC zur höheren Bildung angesprochen oder der Umgang des sozialen Umfelds von Homosexuellen mit deren sexueller Identität.
Dass all diese Themen erwähnt werden ist theoretisch lobenswert. Allerdings sorgt es im Falle dieses Romans dafür, dass er teilweise zu konstruiert und überladen wirkt. Es entsteht das Gefühl, dass die Autorin alle nur erdenklichen Themen und Probleme der Gegenwart in ein Buch fassen wollte: #metoo, Klimawandel, die Verbrechen der Kolonialisierung, institutioneller Rassismus, usw. Das führt dazu, dass der Roman an Glaubwürdigkeit verliert und dass auch das Trauma, das seinen Mittelpunkt bilden soll, in den Hintergrund gerückt wird.

Sprachlich ist der Roman hingegen intensiv und wirkt oft poetisch, was auch mit der Synästhesie der Protagonistin zu tun hat, die sie Gefühle, Menschen, Szenen und Gegenstände in Farbe wahrnehmen lässt. Es sind vor allem die traumatischen Erlebnisse auf dem Boot, die sprachlich am meisten herausstechen. Der Autorin ist es gelungen, die Gefühlswelt der Protagonistin während dieser Zeit auf sehr eindrückliche und authentische Weise zu beschreiben, was schwierig ist und daher umso bemerkenswerter.

Ein Roman also, der nicht vollständig zu überzeugen vermag, aber sprachlich und hauptthematisch durchaus stark ist.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Gelungene Gesellschaftskritik

Drei Kameradinnen
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Shida Bazyars Roman beginnt mit einem Zeitungsartikel, aus dem hervorgeht, dass Saya, eine der drei Protagonistinnen, einen Brand gelegt hat, bei dem mehrere Menschen ums Leben gekommen sind. Dass die ...

Shida Bazyars Roman beginnt mit einem Zeitungsartikel, aus dem hervorgeht, dass Saya, eine der drei Protagonistinnen, einen Brand gelegt hat, bei dem mehrere Menschen ums Leben gekommen sind. Dass die Perspektive des Artikels sehr einseitig ist, fällt auf, obwohl man den Rest der Geschichte noch nicht kennt.
Diese wird rückblickend von Kasih erzählt. Sie gehört zu einem Trio von Freundinnen, die sich seit ihrer Kindheit kennen und zusammen in einer Siedlung am Rande der Stadt aufgewachsen sind, nachdem die Familien nach Deutschland geflohen sind. Im Laufe des Romans beschreibt Kasih den Alltag dieser drei Frauen, der von Unterdrückung, Ungerechtigkeit, Vorurteilen und von Rassismus geprägt ist. Sie erfahren eine doppelte Marginalisierung, da sie als Mädchen bzw. als Frauen täglich Sexismus ausgesetzt sind, sich mehr anstrengen müssen als die Männer und weil ihr Migrationshintergrund ihnen ein ums andere Mal Türen verschließt, die für andere offen stehen.

Ihnen wird ein Platz in der Mitte der Gesellschaft verwehrt. Das drückt sich beispielsweise darin aus, dass in der Schule die Bestnoten den Kindern ohne Migrationshintergrund vorbehalten sind oder dass Kasih trotz eines sehr guten Studienabschlusses keinen Job findet. Kasih fasst es folgendermaßen zusammen: “Dass man sie nach Maßstäben bewertet hatte, die sich von den allgemeinen Maßstäben zu unterscheiden schienen”. Das wohl stärkste Symbol dieser Marginalisierung ist die Buslinie, die die Siedlung, in der die Mädchen aufwachsen, mit der Stadt verbindet. Eines Tages wird diese einfach gestrichen. Die Verdrängung hat ihren Höhepunkt erreicht. Rassismus, und das zeigt der Roman, ist ein institutionelles, ein gesamtgesellschaftliches Problem.

Die Sprache und der Stil des Romans wirken fließend, authentisch und direkt. Kasihs Stimme lenkt die Wahrnehmung des Lesers. Sie spricht ihn direkt an und ist teilweise provozierend, vielleicht sogar anmaßend, aber gerade dadurch gewinnt das Erzählte an Eindringlichkeit. Denn dem Leser wird vor Augen geführt, dass er Teil der Gesellschaft ist, in der die beschriebenen Probleme so tief verankert sind. Er kann sich von der Geschichte nicht loslösen, sich nicht getrennt von ihr betrachten, sondern wird in sie hineingezogen. Dadurch entsteht ein engerer und stärkerer Bezug zur Wirklichkeit.

Man könnte vielleicht behaupten, dass der Roman manchmal zu viele Themen gleichzeitig anzusprechen versucht, doch ich hatte nie das Gefühl, dass dabei der Fokus verloren geht und deshalb hat es mich nicht gestört. Der Roman ist meiner Meinung nach eine gelungene Gesellschaftskritik, der mit seiner Erzählerin eine Stimme gefunden hat, die es verdient hat, gehört zu werden.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Mahler wird greifbar...

Der letzte Satz
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“Ich hätte noch so viel mehr komponieren können. Es fühlt sich an, als hätte ich gerade erst angefangen, dabei ist es schon wieder zu Ende.”

Robert Seethaler läßt in diesem kurzen Roman Gustav Mahler ...

“Ich hätte noch so viel mehr komponieren können. Es fühlt sich an, als hätte ich gerade erst angefangen, dabei ist es schon wieder zu Ende.”

Robert Seethaler läßt in diesem kurzen Roman Gustav Mahler auf dessen eigenes Leben zurückblicken. Fließend geht die Gegenwart, in der sich der kranke Mahler auf einem Schiff von New York nach Europa befindet, in Erinnerungen über. Es sind Episoden seines Lebens, die in jetzt beschäftigen: Der Tod seiner Tochter Maria, das Kenennlernen mit Alma, seine Arbeit in Wien, die Reisen, Almas Affäre mit Gropius und schließlich seine Krankheiten, sein schwacher Körper, der den bevorstehenden Tod ankündigt.

Robert Seethaler bedarf nie großer Worte und Gesten, um eine Geschichte so zu erzählen, dass sie ihre volle Wirkung entfalten kann. Er verliert sich nicht in Ausschweifungen und auch mit Der letzte Satz gelingt es ihm, den Worten und Sätzen Leben einzuhauchen. Er wird Mahler gerecht und fast scheint es, als wäre da keine unüberbrückbare zeitliche Distanz mehr, die den großen Komponisten vom Leser trennt. Mahler wird greifbar, indem seine Geschichte introspektiv und nachdenklich erzählt wird. Ein empfehlenswertes Buch!

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Veröffentlicht am 12.03.2023

Eine besondere Empfehlung für alle musikalischen Leser*innen

Straßenmusik
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Auf dem Weg nach Amsterdam begegnen sie sich zum ersten Mal für einen kurzen Augenblick im Zug: Jonas und Chiara. Jonas wurde gerade von seinen eigenen Bandkollegen aus der Band rausgeworfen. Jetzt, wo ...

Auf dem Weg nach Amsterdam begegnen sie sich zum ersten Mal für einen kurzen Augenblick im Zug: Jonas und Chiara. Jonas wurde gerade von seinen eigenen Bandkollegen aus der Band rausgeworfen. Jetzt, wo “Wunderwerk” einen Plattenvertrag hat und die Aussicht auf Erfolg besteht, wollen sie lieber einen anderen Bassisten. Chiara wartet derweil auf eine Antwort von der Uni in Graz. Sie hat sich für ein Psychologiestudium beworben.

In einer Bar in Amsterdam lässt Chiara dann ihre Gitarre liegen. Jonas findet sie und will sie am nächsten Tag wieder zur Bar bringen. Doch dann überkommt ihn die Lust, selbst zu spielen. Zufällig sieht ihn Chiara.

Im Folgenden verschränken sich Chiaras und Jonas Wege. Sie fangen an, gemeinsam auf den Straßen von Amsterdam Musik zu machen. Und auch, als sie beide wieder Zuhause sind, hält ihre Freundschaft an.

Der Roman beschreibt einen Moment im Leben seiner Protagonisten, in dem beide an einem Wendepunkt in ihrem Leben stehen. Sie müssen Entscheidungen treffen, sich ihrer eigenen Vorstellungen und Wünsche bewusst werden. Es ist eine Art Selbstfindung, die durch die Musik begleitet wird.

Dieses Verlorensein spiegelt sich sehr in dem Verhalten der Charaktere wider. Besonders bei Chiara. Deshalb fand ich es auch schwer, als Leserin einen Bezug zu ihr aufzubauen und ihre Stimmungsschwankungen, Wutausbrüche, etc. nachzuvollziehen. Jonas habe ich reflektierter empfunden und deshalb tritt er auch als nahbarere Figur in Erscheinung.

“Straßenmusik” liest sich flott. Nur manchmal hakt es ein wenig, nämlich immer dann, wenn die Dialoge etwas plump sind oder die Handlung etwas konstruiert und gelenkt wirkt.

Trotz dieser Mängel lauscht man dem Sound des Romans ganz gerne. Besonders im ersten Teil. Deshalb: Eine Empfehlung, besonders für alle musikalischen Leser*innen.

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Veröffentlicht am 03.03.2023

Ausschweifender als andere Romane des Autors

Harlem Shuffle
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Der neue Roman des zweifachen Pulitzerpreisträgers Colson Whitehead spielt in Harlem in den Sechzigerjahren. Der Protagonist Ray Carney ist im Möbelankauf und -verkauf tätig. Sein Weg zum eigenen Geschäft ...

Der neue Roman des zweifachen Pulitzerpreisträgers Colson Whitehead spielt in Harlem in den Sechzigerjahren. Der Protagonist Ray Carney ist im Möbelankauf und -verkauf tätig. Sein Weg zum eigenen Geschäft war steinig. Er musste sich hochkämpfen und eine Kindheit hinter sich lassen, die vom Alkoholismus und der Abwesenheit seiner Eltern geprägt war. Nun ist er selbst Vater einer Tochter und erwartet mit seiner Frau ein weiteres Kind. Er träumt davon, seiner Familie ein noch besseres Leben bieten zu können, insbesondere eine schönere Wohnung.

Als Ray durch seinen Cousin Freddie in einen Raubüberfall auf ein Hotel verstrickt wird, bekommt Rays so mühselig aufgebaute Fassade Risse und er rutscht immer tiefer in die kriminelle Welt Harlems hinein, in der Drogen, Gangs, korrupte Polizisten, Schutzgelder, Drohungen und Rache an der Tagesordnung sind.

Vor dem Hintergrund der Rassenunruhen entfaltet Whitehead eine Geschichte, die Soziographie und Zeitgeschichte in einem ist. Er stellt Harlem als einen abgeschotteten Raum dar, der seine Bewohner in ganz bestimmten Strukturen festhält. Ein sozialer Aufstieg scheint fast unmöglich und deshalb ist die Kriminalität allgegenwärtig. Ray Carney steht stellvertretend für den Versuch des Aufstiegs, für den Willen, den ihm zugewiesenen Platz in der Gesellschaft nicht zu akzeptieren und für das Unvermögen, sich vollständig von der Kriminalität abzugrenzen. Denn ein Aufstieg mit legalen Mitteln ist nicht vorgesehen.

“Wie die meisten Bewohner von Harlem war Carney mit Glasscherben auf dem Spielplatz, der allgegenwärtigen Straßenbrutalität bei jedem Gang vor die Tür und dem Krachen von Schüssen groß geworden.”

Whitehead fängt das Leben der Menschen, die Atmosphäre Harlems in den Sechzigerjahren und die Veränderungen, die innerhalb der Gesellschaft stattfinden, ein. Es ist die Vielschichtigkeit der Geschichte und die Glaubwürdigkeit der Charaktere, die den Roman auszeichnen.

Im Vergleich zu seinen beiden berühmten Romanen “Underground Railroad” und “Die Nickel Boys” nimmt sich Whitehead in “Harlem Shuffle” mehr Zeit. Er geht auf die Hintergründe von Figuren ein, die teilweise nur ein Mal auftauchen, hat keine Angst vor langen Szenen und erzählt auf eine Weise, die weniger klar und zielgerichtet ist, als man es von seinen beiden Bestsellern gewöhnt ist.
“Harlem Shuffle” ist anders, ist ausschweifender. Aber wenn man sich dem langsamen Erzähltempo öffnet und wenn man bereit ist, sich in einem Geflecht an Figuren zurechtzufinden, dann ist auch dieser Roman lesenswert.

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