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Veröffentlicht am 15.03.2023

Erweitert den Horizont

Das Geräusch einer Schnecke beim Essen
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Auf einer Reise nach Europa steckte sich die Autorin des Buches mit einem Virus an und war jahrelang an ihr Bett gefesselt. Zur Aufmunterung brachte ihr eine Freundin ein Alpenveilchen, an dessen Topf ...

Auf einer Reise nach Europa steckte sich die Autorin des Buches mit einem Virus an und war jahrelang an ihr Bett gefesselt. Zur Aufmunterung brachte ihr eine Freundin ein Alpenveilchen, an dessen Topf eine Schnecke hing. Fortan wird die Schnecke zum festen Bestandteil des Alltags der kranken Autorin. Sie beobachtet sie, macht sich mit ihren Eigenarten vertraut, baut ihr ein Terrarium, versorgt sie mit der richtigen Nahrung und darf schließlich sogar Zeuge davon werden, wie die Schnecke Eier ablegt und ihr Nachwuchs schlüpft.

Genau wie Bailey selbst, muss die Schnecke sich zunächst mit einer neuen Situation zurechtfinden. Sie wurde ihrem natürlichen Habitat entrissen, findet sich in einem Raum ohne Nahrung wieder und knabbert notgedrungen an Briefen und Papier, um zu überleben. Durch den Überlebenswillen und den Rhythmus der Schnecke ändert sich die Sicht der Autorin auf ihre eigene Situation und auf die Welt. Völlig neue Perspektiven eröffnen sich ihr, zum Beispiel wenn sie darüber nachdenkt, wie es sich anfühlen muss, in und mit einem Schneckenhaus zu leben.

Der neue Mitbewohner bietet Abwechslung, aber er lässt Bailey vor allem achtsamer werden und löst Bewunderung und Respekt für eine Gattung von Tieren in ihr aus, die eine der erfolgreichsten überhaupt ist und bereits seit über einer halbe Milliarde Jahren existiert. Durch die Schnecke entwickelt sie ein neues Verhältnis zur Natur, das gleichzeitig auch dem Leser die Augen für das Leben von Schnecken öffnet. Die Schnecke wird zu einem Individuum mit einem ganz eigenen Charakter. Bailey bezeichnet sie als elegant, mutig und abenteuerlustig. Sie ist überzeugt, dass ihre Schnecke bewusste Entscheidungen trifft, dass sie lernt und sich erinnern kann.

“Das Geräusch einer Schnecke beim Essen” ist eine Bereicherung für jeden Leser, denn wer wusste schon vor der Lektüre, dass eine Landschnecke 2640 Zähne hat und 80 Zahnreihen, die sich erneuern? Oder dass Schnecken sich hauptsächlich auf ihren Geruchs- und Tastsinn verlassen, dass sie taub sind und ihre Sicht nur auf die Wahrnehmung von hell und dunkel beschränkt ist? Bailey verbindet dieses Wissen mit ihren Beobachtungen und mit literarischen Zitaten, die zusammen ein rundes, spannendes und vielschichtiges Bild ergeben. Spätestens mit diesem Buch hat die Schnecke so ihren wohlverdienten Platz in der Literatur gefunden.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Kraftvoll und tiefgründig

Elmet
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Elmet, das erklärt auch ein Ted Hughes-Zitat zu Beginn des Buches, war ein unabhängiges keltisches Königreich zwischen dem 5. und 7. Jahrhundert im Norden Englands. Und es ist diese Gegend, in der die ...

Elmet, das erklärt auch ein Ted Hughes-Zitat zu Beginn des Buches, war ein unabhängiges keltisches Königreich zwischen dem 5. und 7. Jahrhundert im Norden Englands. Und es ist diese Gegend, in der die Autorin ihre Geschichte ansiedelt. Zwar spielt die Geschichte in der Gegenwart, doch der Bezug zu den Kelten und zu vorangegangenen Zeiten, der schon durch den Titel hergestellt wird, ist allgegenwärtig. Die erzählte Welt zeichnet sich durch etwas Archaisches, Rohes und Ursprüngliches aus.
Umso faszinierender ist es, dass es Mozley gelingt, in dieser Welt, die zeitlos scheint, Kritik an unserer Gesellschaft und am Kapitalismus zu üben. Sie schreibt über soziale Ungerechtigkeit, über die ungleiche Aufteilung von Kapital und Besitz, über Armut, die Ausbeutung von Arbeitern und die Gier.

Im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Problemen steht ein bärtiger Riese mit seinem kleinen Sohn und der raubvolgelhaften Tochter. So jedenfalls beschreibt der Roman seine eigenen Protagonisten und zeichnet mit dieser Charakterisierung das Bild einer ungleichen Familie. Daniel und Cathy sind 14 und 15 Jahre alt. Ihre Mutter hat die Familie verlassen und auch der Vater ist während ihrer Kindheit immer wieder abwesend, bis er eines Tages entschließt, auf einem Stück Land in der Heimat seiner Frau ein Haus für sich und die Kinder zu bauen.
Zusammen leben die Drei fortan im Einklang mit sich selbst und mit der Natur. Doch ihr friedliches Zusammenleben findet ein jähes Ende, als Mr Price, einer der wohlhabendsten und einflussreichsten Landbesitzer der Gegend, ihnen verwehrt, weiterhin auf dem Grundstück im Wald zu wohnen.

Fiona Mozleys Debütroman ist kraftvoll, tiefgründig und endet für die meisten Leser sicher nicht mit der letzten Seite. Denn man will der Geschichte noch nachlauschen, will nicht plötzlich, sondern nur ganz allmählich aus ihr heraustreten und ich denke, das ist es, was einen gelungenen Roman auszeichnet.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Leseempfehlung

Die Nickel Boys
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Die Nickel Boys versetzt den Leser ins Florida der 1960er Jahre, also in die Zeit der Jim-Crow-Gesetze, der Rassentrennung und der Bürgerrechtsbewegung. Elwood Curtis wächst bei seiner Großmutter auf, ...

Die Nickel Boys versetzt den Leser ins Florida der 1960er Jahre, also in die Zeit der Jim-Crow-Gesetze, der Rassentrennung und der Bürgerrechtsbewegung. Elwood Curtis wächst bei seiner Großmutter auf, hört sich Reden von Martin Luther King an und liest so ziemlich alles, was ihm unter die Finger kommt. Er hat einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, der über Hautfarbe und Rassenzugehörigkeit hinausgeht und träumt von einer Welt ohne Rassentrennung. Die Chance, an einem College Kurse belegen zu können, lässt ihn voll Tatendrang in die Zukunft blicken. Doch noch bevor er den ersten Kurs überhaupt besuchen kann, wird er für ein Verbrechen bestraft, das er nicht begangen hat und wird zu einem Aufenthalt in der Nickel Academy verurteilt.

Die Nickel Academy, auch Florida Industrial School for Boys genannt, steht im Roman stellvertretend für die Ungerechtigkeit und die Verbrechen an der Menschlichkeit, unter denen die schwarze Bevölkerung Amerikas über Jahrhunderte hinweg zu leiden hatte und immer noch zu leiden hat. Von den Jungen wird Unterwürfigkeit und Fügsamkeit verlangt, sie werden für schwere Arbeiten ausgenutzt, erfahren extreme körperliche Gewalt und werden im schlimmsten Fall ihres Lebens beraubt. Tatsächlich ist die Gefahr durch die Brutalität der Aufseher zu sterben allgegenwärtig. Verstorbene Jungen werden auf einem inoffiziellen Friedhof begraben und ihren Familien wird erklärt, sie seien ausgerissen.

Colson Whitehead erzählt von Chancenlosigkeit, von versperrten Wegen, von extremer Fremdbestimmung und Fremdeinwirkung, von “vergeudeten Genies” und von geraubten Leben. Gleichzeitig entblößt der Roman die Lächerlichkeit der “irrsinnig hohen und breiten Barrikade der Rassentrennung”. Eine Szene bleibt in diesem Zusammenhang besonders im Gedächtnis, denn einer der Nickel Jungs ist Halb-Mexikaner und die Aufseher können sich nicht entscheiden, ob sie ihn den weißen oder den schwarzen Jungs zuordnen sollen. Deshalb muss er alle paar Wochen von einem Wohnheim ins andere wechseln.

Dieser Roman ist eine absolut gelungene und starke Auseinandersetzung mit dem tief in der Gesellschaft verankerten Rassismus und daher eine große Leseempfehlung von mir!

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Denkmal fur eine Familie

Viktor
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In ihrem Roman “Viktor” macht sich die niederländische Autorin Judith Fanto auf die Suche nach ihrer jüdischen Identität, spürt der Geschichte ihrer Familie nach und legt Gefühle von Schuld, Angst und ...

In ihrem Roman “Viktor” macht sich die niederländische Autorin Judith Fanto auf die Suche nach ihrer jüdischen Identität, spürt der Geschichte ihrer Familie nach und legt Gefühle von Schuld, Angst und Verlust frei.

Judith, zu Beginn noch Geertje genannt, wächst in den Niederlanden auf. Ihre Großeltern mussten während des Zweiten Weltkriegs aus ihrer Heimat Wien fliehen und in Belgien untertauchen. Die Beziehung der Familie zum eigenen Judentum ist kompliziert und stark durch Angst, Traumata und Verdrängung geprägt. Daher ist Judith sich lange Zeit der eigenen Familiengeschichte und Identität kaum bewusst.

Mit ihrer Akzeptanz dieser Identität stellt sich Judith der Geschichte entgegen. Als Erste in ihrer Familie erkämpft sie sich einen Platz in der Gegenwart, der sich nicht durch Ängste, Schuldgefühle und Traumata definiert. Sie will sich nicht verstecken, sondern sucht nach der Wahrheit und scheut keine Konfrontation.

Doch damit ist nur eine der zwei Zeitebenen beschrieben, auf denen der Roman spielt. Der Roman macht den Leser auch mit dem Leben Viktors bekannt, dem Bruder des Großvaters von Judith. Judith fühlt sich mit Viktor verbunden, denn ihre eigene rebellische Art erinnert die Großeltern oft an Viktor. Die Faszination für ihren Vorfahren rührt sicherlich auch daher, dass sie immer nur Bruchstücke aus seinem Leben erfährt und nie seine ganze zusammenhängende Lebensgeschichte. Also macht sie sich im Familienarchiv selbst auf die Suche, findet Briefe, Tagebucheintragungen und andere Dokumente, die es ihr ermöglichen, Viktors Geschichte nachzuzeichnen.

Viktor ist eine starke Figur, die sich nichts vorschreiben lässt, die sich weigert, die Umstände zu akzeptieren und sich auflehnt. Dass er anstatt “Heil Hitler” konsequent “Drei Liter” ruft, ist lediglich eine seiner zahlreichen Wiederstandshandlungen.

Diese zweite Handlungsebene verdeutlicht, wie sich der institutionelle Antisemitismus während der Nazi-Herrschaft in Wien allmählich ausbreitete, wie Razzien, Ausschreitungen und Gewalt den Alltag zu bestimmen anfingen. Zunächst begann man, getrennte Schulklassen für jüdische Kinder einzurichten. Doch schon bald kam es zu einer Entfesselung von Hass, der in der Enteignung, Demütigung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung endete und in einem drei Tage und Nächte andauernden Pogrom nur einen ihrer Höhepunkte fand.

Judith Fanto hat mit diesem Roman ihrer eigenen Familie, und ganz besonders Viktor, ein Denkmal gesetzt. Sie hat die verlorenen Stimmen, die der Welt auf grausamste Weise entrissen wurden, wieder zum Leben erweckt und sie ihre Geschichte erzählen lassen. “Viktor” ist ein lesenswerter Roman, der gekonnt geschrieben und oft tiefsinnig ist und zuweilen sehr nahe geht.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Bereichernd

Briefe an den Reichtum
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Carl Amery hat in der Anthologie Briefe an den Reichtum vornehmlich Briefe gesammelt, die an den Kapitalismus gerichtet sind, an den Neoliberalismus und an eine Wirtschaftsweise, die auf Gier und auf der ...

Carl Amery hat in der Anthologie Briefe an den Reichtum vornehmlich Briefe gesammelt, die an den Kapitalismus gerichtet sind, an den Neoliberalismus und an eine Wirtschaftsweise, die auf Gier und auf der endlosen Anhäufung von Kapital beruht, ohne jegliche Rücksicht auf Umwelt und Gesellschaft zu nehmen.

Die Texte scheuen keine Konfrontation. Sie nennen Namen und Fragen und klagen an. Besonders die Manager werden dabei in den Briefen von Harald Schumann und Oskar Negt unter die Lupe genommen. Beide Autoren decken das ungerechte Verhältnis, das zwischen Arbeitsleistung und Gehalt besteht, auf. Sie stellen dar, wie Manager und Vorstände sich durch Prämien in Millionenhöhe bereichern, um im nächsten Moment die Streichung von Tausenden von Arbeitsplätzen zu erklären. Auch nennen sie Beispiele für eine Klassenjustiz, die Steuerhinterziehungen und Finanzkriminalität nicht ahndet. Ihre Briefe zeigen eine Refeudalisierung der Verhältnisse und Zerfallstendenzen der Demokratie und des Sozialstaates auf.

In den anderen Beiträgen setzt sich die Anklage an den Reichtum und die Forderung nach Moral, nach Anstand, nach Verantwortung und einer Pflicht der Reichen dem Gemeinwohl gegenüber fort. Auch mangelt es den Autoren der Anthologie nicht an Ideen für eine bessere, eine gerechtere Gesellschaft. Am einprägsamsten ist dabei wohl Andres Eschenbachs Vorschlag: “Lachen Sie die Plakate Ihrer Banken aus”.

Die Anthologie hat seit ihrem Erscheinungsjahr 2005 an keinerlei Aktualität eingebüßt. In Zeiten von immer skrupelloserer Finanzkriminalität, die durch Skandale wie Cum-Ex und Wirecard nur bruchstückhaft an die Öffentlichkeit gelangt, sind die Briefe wahrscheinlich sogar wichtiger denn je. Die Beiträge rütteln auf, nennen Namen, klagen an, scheuen keine Konfrontation und dringen mal durch Satire, mal durch Fakten und konkrete Lösungsvorschläge zum Kern unserer heutigen sozialen, ökologischen und ökonomischen Probleme: die Gier und die “Unendlichkeit der Akkumulation”.

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